Wir sind das Folk

Von Jenni Roth · 19.09.2013
Täglich ziehen Klänge aus fernen Ländern durch die Kneipen, Straßen und U-Bahnhöfe in Berlin. Gelegentlich ist diese Musik von Einwanderern kreiert und soll ihr Heimweh kompensieren. Koreaner, Portugiesen, Mosambikaner und Kubaner erklären den Berliner "Sound der Einwanderung".
"Ich heiße Ricardo Moreno, ich bin ein kubanischer Musiker, der fast seit 27 Jahren in Berlin wohnt. Ich kam hierher mit 21 Jahren. Wir sind 2013, ja, da kann man sich schon vorstellen wie alt ich bin."

Ricardo Moreno: ein kleiner drahtiger Mann, Lachfalten, oft mit Hut auf dem Kopf. Seine Heimat Kuba war eines von sieben Ländern, mit denen die DDR einen Anwerbevertrag geschlossen hatte. Diese Gastarbeiter brachten ihre Arbeitskraft nach Deutschland. Im Gepäck hatten sie auch den "Sound" ihrer Heimat.

Ricardo: "Die Musik verbindet und ruft auch solche Gedanken und Geschehen aus der Vergangenheit. Wenn ich zum Beispiel Stücke wie ‚Y tú, qué has hecho?‘ höre, das sind Sachen, die bei uns Zuhause im Radio gespielt wurden. Morgens bei meiner Mutter in der Küche: Kinder kommt aufstehen!, und das Radio war an, und das Geschirr und die Gläser, die Geräusche, der Geruch von Kaffee und von Rührei – und diese Sachen sind da. Und durch diese Musik kommen wieder die Erinnerungen, diese Bilder, durch die Leitung kommen nochmal diese ganzen Sachen, wieder auf die, wie sagt man, …. Durch diese Musik kommen diese Gedanken wieder an die Oberfläche."

Flucht vom alltäglichen Leben in der DDR
Kuba, 1986. Die kurze Hoch-Zeit der Inselwirtschaft ist zu Ende. Die DDR wird zum beliebten Auswanderungsziel: Rund 1500 Kubaner studieren in der DDR, rund 10.000 ziehen zum Arbeiten hierher.

Ricardo: "Die Musik war so eine Flucht vom alltäglichen Leben in der DDR, das war die Funktion: Escape, Flucht von der Wirklichkeit."

Heute verdient Ricardo mit der Musik seinen Lebensunterhalt, spielt in verschiedenen Bands. Im Trio mit Rafael Martinez und Pedro Abreu singt er alte kubanische Lieder aus den 20er- und 30er-Jahren. Lieder, die sie aus ihrer Kindheit kennen. Die meisten davon sind Son-Stücke, ein Musikstil aus dem Osten Kubas, aus dem sich später weitere Stile wie Rumba, Mambo und Salsa entwickelten: Musik- und Tanzstile, die vor allem in den USA populär geworden sind und sich auch in Europa verbreitet haben. In dieser Zeit hat sich auch die Musik von Ricardo Moreno verändert – und er selbst.

Ricardo: "Wenn man in Land wie Deutschland wohnt, muss man offen sein, sich in neue Kultur integrieren, nicht nur physisch, auch von Kopf her. Man muss von Gewohnheiten aus Heimat weglassen und andere bekommen.

Die Musik verändert sich, die Art von Arrangements von uns kubanischen Songschreibern in Europa machen sind ganz andere Arrangements, andere Einflüsse. Andere Themen, die uns beschäftigten. Habe kürzlich Son geschrieben, ‚Duele‘, es geht um Sehnsucht und Fernweh, hat auch mit Deutschland zu tun. Andere Themen und andere Arrangements. Die Musik die wir hier machen, ist andere Art von kubanischer Musik. Zum Beispiel verändert sich die Rhythmik. Wo hört man deutsche Popsong, wo Bongas gespielt werden, mit kubanischem Tumbao in Groof, dufdufduf! Durch kubanische Musik kriegt der Song ganz andere Schwingung!"

Maria Carvalho: "Fado war damals in Portugal die Musik meiner Eltern. Damals war ziemlich getrennt Fado von ganz jungen Leuten. Damals war Doors, Joe Cocker, Pink Floyd, es gab so viele gute Gruppen. Weil wir so jung waren, war Fado war noch nicht so weit. Weil Fado ist eine Musik, die aus der Seele kommt. Und dafür muss man erstmal ne Seele haben. Wenn man ganz jung ist, ist Seele nicht so wichtig.

Mein Name ist Maria Carvalho und ich komme aus Portugal. Und ich bin inzwischen fast 30 Jahre hier in Deutschland. Ich bin hierhergekommen eigentlich aus Zufall … und dann bin ich doch geblieben."

Portugal in den 80er-Jahren: Die Wirtschaft läuft schleppend, Jobs gibt es kaum. Viele Portugiesen folgen dem Ruf nach Deutschland – dank Anwerbevertrag mit der Bundesrepublik. Auch Maria Carvalho verlässt ihre Heimat. Im Gepäck hat sie die Geschichten ihres Volkes – und mit der Musik gibt sie ihnen eine Stimme.

Maria Carvalho: "Es ist keine Folklore, ist Musik aus Stadt, urbane Musik, erzählt von einfachen Menschen, Erlebnisse von Menschen, die so viel ertragen mussten, natürlich auch schöne Dinge. Fado ist ein Teil von diesem Denken, als musikalischer Ausdruck von diesen Menschen. Die hatten was erlebt. Weil’s so fest in ihrer Brust war, automatisch musste das raus, durch das Singen, das ist eine super Idee. Man singt über Probleme, diese Liebe, verletzte Liebe, oft singt man über Dinge, die wehtun. Melancholie und Schmerz, wenn’s nochmal erlebt wird durch Singen, ist es fast wie ein süßer Schmerz."

Berlin in den 80er-Jahren – für Maria Carvalho: ein fremdes Land, fremde Menschen. Es ist kalt, es ist dunkel. Sie hat Heimweh. Aber sie bleibt.

"Zehn Jahre danach, wo ich angekommen bin, hab ich Antonio von unserer Gruppe getroffen, der singt und Viola spielt. Er hatte Restaurant, kam raus, hat Fado gesungen. Und plötzlich dachte ich: Ich zittere, oder mir geht’s, ja, ganz komisch. Und ich fing an zu singen mit denen, aber leise, für mich, weil ich nicht getraut. Aber ich dachte, die Lieder kenn ich. Hab in Portugal damit gelebt. Um mich waren diese Lieder, die ich damals nicht gesungen habe, aber gehört habe. Ohne zu wissen, wusste ich sogar die Texte. Weil meine Mutter, weil Radio, weil’s um mich rum war.

Ich hatte das Glück, Antonio hat mich dazu gebracht, die Musik zu singen, was in mir drin schon war. Das hat mich beruhigt und die ganzen Jahre nur positive Sachen gebracht. Dass wir so viel reisen, ich kenne so viel von Deutschland, habe ich durch die Musik kennengelernt."

Gefühl von Heimat
Trio Fado heißt die Musikgruppe, mit der Maria Carvalho so viele Teile ihrer neuen Heimat kennengelernt hat. Und diese Musik, vor allem der Fado, gibt Carvalho Trost, ein Glücksgefühl. Und das will sie teilen.

"Fado möchte ich andern geben. Ich bin nicht allein da, Antonio, und der Gitarrist, Cello. Anfangs war das aus Spaß, wurde immer mehr. Die Leute mochten das."

Inzwischen hat Maria Carvalho länger in Deutschland gelebt als in Portugal. Sie hat einen Deutschen geheiratet, Kinder bekommen. Nur die Musik, die ist irgendwie geblieben, wie sie schon immer war.

"Weil Fado ist für mich zeitlos. Fado ist alt und bleibt alt. Das mag ich. Da weiß ich, ich kann träumen, an Vergangenheit denken und sie ist da. Wir singen alte Fados, das ist was Gutes, das Tolle. Heute ist es oft so: Etwas ist gut, und dauert nicht lange, nicht mehr gut, ah ne, langweilig, was Neues muss her. Aber nein, du findest etwas gut, das gibt Gefühle, du singst, du spürst es. 30 Jahre später singst du das gleiche, fühlst du das gleiche. Und das wird akzeptiert, ist nicht alt, oh, sie singt das alte Zeug! Nein, Gott sei Dank, sie singt das! Das ist bei Fado das beste.

Aber wir komponieren, weil alles ist in Bewegung. Und wir wollen von uns auch etwas geben. Wir, Trio Fado, hat einen Fado, der deutsch ist fast. Das ist ein Fado, der ein wenig Deutschland gehört, einen Teil kriegen wir aus Deutschland. Unsere Musik, Herz und Basis ist Fado, aber wir nehmen andere Elemente aus unserer Umgebung, automatisch, ohne nachzudenken."

Kyoung-Hee Haase: "Koreaner, die drücken ihre Emotionen nicht, wenn sie in fröhlicher Gesellschaft sind mit Freunden, sondern die lassen los, die lassen ihre Flügel los und dann ... Ich bin Kyoung-Hee Haase und komme aus Südkorea. Als ich nach Deutschland kam, war ich ziemlich jung. 19 Jahre alt, 1972. Bin seit 1984 in Berlin."

Es ist die Zeit nach dem Koreakrieg, Dezember 1963. Die Bundesrepublik und Südkorea haben ein Anwerbeabkommen unterzeichnet. Zehntausende kommen, arbeiten vor allem im Bergbau und als Krankenschwestern. Haase denkt an die trostlose Lage in ihrer Heimat und an ihr Heimweh – und erinnert sich an ein bewährtes Heilmittel: die Musik.

"Gerade das Lied Arirang, das ist wie, ich vergleich mal, wie in Portugal Fado. In Jahrhunderten beeinflusste, aber auch miterlebte Geschichte des Landes ist mit diesem Lied verbunden. Dadurch ist das, ohne dass ich es weiß, unbewusst in mir einfach drin. Und wenn ich das Lied singe, je nach dem Moment, kann ich mitschwingen, kann ich auch genießen das Singen, es ist so drin. Es ist wie manche Kulturen, nie was aktiv gemacht, und plötzlich peng geht’s los."

Kyoung-Hee Haase singt jetzt im koreanischen Frauenchor, zusammen mit zwei Dutzend anderen Krankenschwestern, die vor 40 Jahren nach Deutschland kamen. Sie singen ihre koreanischen Lieder – die oft fast europäisch klingen.

"In der Schule in der Pause gab’s immer Musik durch Lautsprecher. Damals war Deutschland schon Teil der Heimat, ohne dass ich das gewusst habe. Wir haben neben unseren koreanischen Kunstliedern auch europäische Lieder gelernt und gesungen an der Schule."

Auch das eine oder andere Heimatlieder hat Haase gehört.

"Also am Lindenbaum zum Beispiel. Aber wer singt das heutzutage?"

Claudio Tamele: "Unsere Politiker haben immer Musik als Aufklärungsmethode genommen. Wir haben das in der Schule gesungen, weil wir die Melodie mochten, obwohl wir nichts verstanden haben."

Es herrscht Bürgerkrieg in Mosambik der 80er- und 90er-Jahre. Bis 1992 kostet er fast eine Million Menschen das Leben und macht fünf Millionen Menschen heimatlos. 1979 unterzeichnen die DDR und Mosambik einen Vertrag zum Austausch von Arbeitskräften. Mehr als 20.000 Mosambikaner ziehen in den Folgejahren in die DDR, um dort zu arbeiten.

"Mein Name ist Claudio Tamele. Ich komme aus Mosambik. Ich bin im Gegenteil zu meinen Bandkollegen 98 hergekommen, das heißt nicht mehr in DDR. Deutschland ist meine Wahlheimat, und ich bin 53 Jahre alt. Viele der Leute meiner Generation haben selbst Instrumente gebastelt … Gab keine Gitarre. Die Leute haben selbst gebastelt. Bestand aus Dose, Öldose. Saiten entweder Stahlkabel oder Plastik. Hat verdammt gut geklungen!

Musikinstrumente sind Instrumente, weil es Mittel sind, wodurch man musikalische Inspiration nach außen überträgt. Musik ist für mich genau dieses Gefühl, die Sehnsüchte, Freude, Klagen, alles – oder Rituale, Glauben, die uns lebt. Irgendwann hat man das Bedürfnis, die in die Luft heraus zu schleudern und landet in Gehör von Leuten, und man tanzt. Oder beeinflusst andere zu tanzen, wir wackeln immer, keiner sitzt still, wenn wir musizieren."

"Wir", das ist Tameles "MahuGang" und ihre "Marrabenta"-Musik: eine Mischung aus portugiesischen und afrikanischen Klängen. Sie drehen sich um sozialkritische Themen ebenso wie um Liebe und Sehnsucht, ausgedrückt in Tanz, schnellen Trommel-Rhythmen, Gitarre und mehrstimmigem Gesang. Es sind alte, von Generation zu Generation überlieferte Werke, die jedes Kind in Mosambik kennt.

"Bei uns ist Trommeln selbstverständlich. Erst hier merkt man: Trommeln ist was Besonderes! Es gibt Therapie, Konzerte mit Trommel, wo ich merke, aha, wir geben doch etwas von unserer Musikalität, und es bereichert Gesellschaft. Meistens weiß man gar nicht, wie bereichernd ist es, was man in sich hat."

Und dabei ist es ganz egal, woher die Musik kommt und wer sie macht, findet Claudio Tamele.

"Für mich ist Musik Inspirationen der Menschen und ich schätze das sehr und das bereichert mein Umfeld. Was ich in mir habe, das sind Elemente, es kommt immer etwas dazu. Ist wie ein großes Haus, das mit verschiedenen Steinen gebaut wird, und wächst immer noch."

Und die Musik verändert sich mit der Zeit, mit dem Raum.

"Wenn ich hier bin, hab ich andere Einflüsse, kulturelle Umfelder, usw. Merke ich, hier könnte man C-moll machen oder C-Dur, Arrangements, aber Musik bleibt. Was wir machen, ist deutsche Musik. Für mich ist das ein Baum, der wächst, mit verschiedenen Wurzeln. Eine Wurzel saugt Mineralien in Afrika, anderer in Polen, in Tschechien, und dann ist das deutsche Musik mittlerweile."

Am 25. Oktober 2013 erscheint unter dem Titel "Heimatlieder aus Deutschland" eine CD, der der größte Teil der Musikaufnahmen in dieser Sendung entnommen wurde. Alle interviewten Berliner Künstler dieses Beitrag sind mit ihren Chören oder Bands Interpreten dieser CD. Die verwendete elektronische Aufnahme (Remix) von Gudrun Gut wird zusammen mit 12 anderen Remixen, die ebenfalls Bestandteil des Kunstprojekts sind, am 15.11.2013 unter dem Titel "New German Ethnic Music" veröffentlicht.