"Wir mussten schon sehr hart an der Realität bleiben"

Samantha Taylor-Wood im Gespräch mit Matthias Hanselmann |
"Nowhere Boy" ist kein Dokumentar-, sondern ein Spielfilm, der das Erwachsenwerden des Musikers John Lennon erzählt. Viel Spielraum zum Dramatisieren habe der Stoff ihr nicht gelassen, sagt Regisseurin Samantha Taylor-Wood, sie nusste schon "sehr, sehr genau" recherchieren.
Matthias Hanselmann: Am 8. Dezember 1980 wurde John Lennon in New York von einem geistig verwirrten Mann erschossen. Weltweit wurde vorgestern an diesen Tag erinnert, und pünktlich kam auch der Spielfilm "Nowhere Boy" in unsere Kinos, ein Film über die jungen Jahre des Mitbegründers der legendären Beatles. Geprägt waren diese Jahre Lennons vor den Beatles von den 50er-Jahren in England in der Hafenstadt Liverpool, die im Zweiten Weltkrieg von den deutschen Bombern schwer zerstört worden war und sich jetzt im Auf- und im Umbruch befand.

"Nowhere Boy" beschreibt die Atmosphäre in Liverpool, das Leben und die Emotionen des jungen John, der bei seiner Tante Mimi aufwächst und nach und nach wieder Kontakt zu seiner Mutter Julia bekommt, die ihn schließlich für die damals angesagte Popmusik begeistert: Skiffle und Rock ‛n’ Roll. Das Hin und Her zwischen der strengen Tante und seiner flippigen Mutter, erste Liebe zu Mädchen und erste Liebe zu Instrumenten, wie Mundharmonika und Banjo, schließlich die musikalischen Jungenfreundschaften mit George Harrison und Paul McCartney, all das erzählt uns "Nowhere Boy", und zwar nicht mit dokumentarischer Präzision, sondern als anrührender Spielfilm.

Wir freuen uns jetzt, mit der Regisseurin des Filmes sprechen zu können – seit vielen Jahren ist sie weit über Großbritannien hinaus als Konzeptkünstlerin und Fotografin bekannt, "Nowhere Boy" ist ihr erster großer Spielfilm. Mein Kollege Jörg Taszman wird das Gespräch übersetzen, und für uns am Telefon ist jetzt Samantha "Sam" Taylor-Wood. Hallo!

Sam Taylor-Wood: Good evening, hi there!

Hanselmann: Sam, ich habe es eben gesagt, Sie sind eigentlich als Künstlerin und Fotografin bekannt geworden – wie haben Sie eigentlich reagiert, als man Sie gefragt hat, ob Sie für diesen Film über John Lennons Jugend die Regie übernehmen wollen?

Taylor-Wood: Nun, eigentlich war es ein bisschen anders herum, weil ich hatte eigentlich beschlossen, mal etwas Neues auszuprobieren, und dann habe ich das Drehbuch für diesen Film eben auch geschrieben und habe dann auch die Produzenten direkt angesprochen, was die Regie betraf.

Hanselmann: Ich habe aber gelesen, dass ein Song von John Lennon auch etwas damit zu tun haben soll.

Taylor-Wood: Ja, das hat was mit dem Song "Mother" zu tun, der auch am Ende des Films erklingt. Und als ich das Drehbuch gelesen habe, ich fand, das war so stark, das hatte so viel Kraft, dieses Buch, und als ich dann wirklich las am Ende dieses Drehbuchs, der Film endet mit "Mother" von John Lennon und das Lied dann auch noch hörte, da habe ich mir dann gedacht, ja, das ist genau das Lied, das ist genau der Film.

Hanselmann: Wie wird man eigentlich mit dem Gedanken fertig, dass es Millionen von Lennon-Spezialisten auf der Welt gibt, die jede Nuance aus seinem Leben zu kennen glauben und den Film dann entsprechend superkritisch sehen und vielleicht auch nach Fehlern suchen?

Taylor-Wood: Ja, das war eine sehr große Sorge von mir, weil ich mir dann wirklich gesagt habe, konzentrier dich hier bitte auf die Geschichte, weil das ist ja in erster Linie auch eine sogenannte Coming-of-Age-Geschichte, also eine Geschichte vom Erwachsenwerden von John Lennon, und da geht es weniger also um John Lennin, die Person, sondern eben auch um diese ganz allgemeine Problematik des Erwachsenwerdens. Und da habe ich mich dann auch ein bisschen davon befreit, von diesen Sorgen, weil das stimmt, was Sie sagen: Jedes Detail von jedem Beatles-Mitglied ist wirklich dokumentiert, es gibt Archive davon, und da musste ich dann auch in meiner Recherche sehr, sehr genau sein.

Hanselmann: Es ist wichtig zu erwähnen, dass dieser Film ein Spielfilm ist und kein Dokumentarstück. Wo haben Sie denn am meisten dramatisiert und sich von der Realität entfernt?

Taylor-Wood: Nun, wir mussten schon sehr hart an der Realität bleiben, weil es gibt so wahnsinnig viele Biografien über John Lennon. Aber es gibt eine Szene im Film zwischen Paul und John, wo sie einen Streit haben und sich danach wieder vertragen, und da ging es eben darum, klarzumachen, dass sie sich nach diesem Streit wieder vertragen. Und das war vielleicht die einzige Szene des Films, wo wir uns ein bisschen Freiheiten genommen haben.

Hanselmann: Besonders interessant in diesem Film ist ja auch das Verhältnis Johns zu seiner herb disziplinierten Tante Mimi auf der einen Seite und seiner sagen wir mal flippig-jungen Mutter Julia auf der anderen. Was meinen Sie, inwiefern hat dieses Spannungsfeld das Leben John Lennons für später geprägt?

Taylor-Wood: Nun, das war natürlich enorm wichtig, das hat ihn sein ganzes Leben lang geprägt und das hat ihn auch sehr geprägt, wenn man sich die Frauen im Leben von John Lennon anschaut. Yoko Ono zum Beispiel, die ja nun diese enorm wichtige Rolle in seinem Leben eingenommen hat, war eben auch eine sehr, sehr starke Frau und auch eine sehr dominante Frau, und seine Tante Mimi, die war eben ähnlich. Die war sehr stark, sehr dominant, hatte sehr starke Meinungen, und seine Mutter hat ihn eher musisch beeinflusst, hat ihm diese Liebe zur Musik, zu Elvis und auch zum Rock ‛n‛ Roll mitgegeben, während Mimi eben ihm auch kulturell und auch, was die Kunstszene angeht, sehr viele Einflüsse gegeben hat. Also er stand sehr stark zwischen diesen beiden Einflüssen.

Hanselmann: Frau Taylor-Wood, wenn wir schon darüber sprechen, kann man einen solchen Film überhaupt machen, ohne dass John Lennons letzte Frau, Yoko Ono, alles absegnet?

Taylor-Wood: Nun, das war ein bisschen ein Spiel, was wir da gespielt haben, ein gewisses Risiko sind wir da durchaus eingegangen, weil Yoko Ono wollte vor Ende der Dreharbeiten mit diesem Film gar nichts zu tun haben. Wir brauchten aber gewisse Musikrechte und haben ein bisschen damit gepokert, dass wir diese Musikrechte dann auch bekommen würden. Also das war eine sehr unangenehme Situation letztendlich für uns, weil wir doch ein hohes Risiko gegangen sind. Aber glücklicherweise hat Yoko Ono diesen Film wirklich geliebt, sie ist ein richtiger Fan von diesem Film geworden, und ich glaube, das liegt auch daran, dass wir auf eine sehr subtile und respektvolle Art und Weise mit dem Leben von John Lennon umgegangen sind.

Hanselmann: Ich habe die englische Fassung Ihres Filmes gesehen, in der natürlich viel Liverpooler Dialekt gesprochen wird – mussten Ihre Schauspieler dafür viel trainieren?

Taylor-Wood: Ja, das war unglaublich viel Arbeit und auch eine harte Arbeit, damit die Akzente alle stimmen, auch wirklich stimmig sind, weil bei John ist es zum Beispiel so, er hat sich ja immer so ein bisschen stilisiert, als käme er aus der Arbeiterklasse, dabei kam er eher aus der Mittelschicht, weil seine Tante Mimi eigentlich eher in diese Mittelschicht hinein wollte. Das heißt, wenn er bei ihr zu Hause war, hat er mit einem ganz anderen Akzent geredet, also ein sehr viel normaleres Englisch, als wenn er da mit seinen Freunden war, wo er dann diesen Akzent auch ein bisschen gespielt hat. Und all diese Facetten wirklich darzustellen, das war eine sehr schwere Arbeit und wir mussten da auch sehr rigoros vorgehen.

Hanselmann: Und bei der Gelegenheit eine kleine Frage zum Casting: War es eigentlich schwer, Look-Alikes zu finden, also junge Männer, die so aussehen wie John Lennon, wie George Harrison oder Paul McCartney?

Taylor-Wood: Das war in der Tat sehr schwierig, weil die Schwierigkeit bestand darin, nach jungen Schauspielern zu suchen, die jetzt nicht unbedingt vielleicht genauso aussehen, sondern die auch noch spielen können, weil das war natürlich wichtig, dass sie den Spirit, dass sie den Geist und dass sie auch diese Ausstrahlung von John Lennon oder Paul McCartney auch wirklich herüberbringen. Und ich habe wirklich einige Jungs gesehen, die sahen ihnen sehr, sehr viel ähnlicher, aber die konnten eben nicht spielen. Und insgesamt haben wir dann, glaube ich, 300 junge John Lennons und 150 junge Paul McCartneys gesehen.

Hanselmann: Wenn man diese ganze Arbeit hinter sich gebracht hat, wenn der Film endlich abgedreht ist und geschnitten ist, was würden Sie sagen, hat sich an Ihrer Sicht auf John Lennon etwas verändert durch die Arbeit an dem Film, sehen Sie ihn jetzt vielleicht teilweise anders?

Taylor-Wood: Ja, er ist mir viel vertrauter geworden, vor allen Dingen, was mein Verständnis zu seiner Musik betrifft. Also der Mann, der er eben früher war, das verstehe ich jetzt schon viel besser. Weil er konnte sehr hart sein, er konnte grausam sein, er konnte sarkastisch, aber auch witzig sein und war dann wieder genial sensibel und hatte auch eine sehr feminine Seite. Und all dieser Facettenreichtum bei John Lennon hat mir auch wirklich geholfen, seine Musik besser zu verstehen.

Hanselmann: Frau Taylor-Wood, bei dieser Gelegenheit muss ich eine Frage abschließend stellen, Sie sind ja durch den Film mit dem Hauptdarsteller Aaron Johnson zusammengekommen und haben sogar inzwischen ein Kind mit ihm. Wir gratulieren nachträglich zum jungen Liebesglück, wollen aber auch wissen: Haben Sie sich da auch ein bisschen, ein Stück weit in den jungen John Lennon verliebt?

Taylor-Wood: Nein, nein, das war definitiv der etwas ältere Aaron Johnson.

Hanselmann: Das haben wir uns schon gedacht. Vielen Dank, Samantha "Sam" Taylor-Wood, Regisseurin des Filmes "Nowhere Boy", und danke schön auch an Jörg Taszman, den Übersetzer! Thank you very much, have a good time!

Taylor-Wood: Oh, thank you very much, thank you!
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