"Wir leben ja in einer Kultur, in der wir uns sehr stark über Genitalien definieren"

Mithu M. Sanyal im Gespräch mit Katrin Heise · 13.05.2009
Die Journalistin Mithu M. Sanyal hat sich in "Vulva" mit der Kulturgeschichte des weiblichen Genitals befasst. Im Gespräch mit unserem Sender erklärte sie unter anderem, warum sie Probleme mit manchen Bezeichnungen des weiblichen Geschlechts hat.
Katrin Heise: Eigentlich solle man ja meinen, dass wir in unserer aufgeklärten Welt für all unsere Körperteile den richtigen Namen kennen und wissen, was damit gemeint ist. Im Allgemeinen ist das, denke ich, auch so. Wenn ich aber nach der richtigen Bezeichnung fürs weibliche Genital frage, da werden dann doch einige Missverständnisse deutlich. Missverständnisse, die weit in die Geschichte hineinreichen und zu Missachtung führen. Wir benennen nämlich nur die Körperöffnung, das Loch, wenn wir Scheide oder Vagina sagen. Zum weiblichen Geschlecht gehört aber viel mehr. Die Journalistin und Kulturhistorikerin Mithu Sanyal, die wollte sich mit dieser Weglassung nicht zufrieden geben. Von ihr stammt das Buch "Vulva: Die Enthüllung des ‛unsichtbaren Geschlechts’". Frau Sanyal, ich grüße Sie!

Mithu M. Sanyal: Ich grüße Sie!

Heise: Vulva ist also die korrekte und eigentlich auch der viel schönere Begriff für das Genital der Frau. Er meint die großen und die kleinen Schamlippen, er meint die Klitoris. Warum, Frau Sanyal, sagt, wenn man so bei Freundinnen, bei Kolleginnen rumfragt, warum sagt eigentlich niemand Vulva zum eigenen Genital?

Sanyal: Ich habe da eine schöne Erklärung zu gelesen in einer Frauenzeitung, und die meinten, die würden den Begriff nicht gerne verwenden, weil er sie an eine schwedische Automarkte erinnert.

Heise: Ah ja. Ich habe eigentlich gefunden, das ist ein viel schönerer Begriff, weil mir zum Beispiel bei der Aufklärung meiner eigenen Kinder das Wort Scheide immer so unpassend und so hart erschienen ist. Also man kann ja auch an allen Worten was zu meckern haben.

Sanyal: Ich habe eine Problem mit dem Wort Scheide tatsächlich, weil halt Anatomen im 17. Jahrhundert sich überlegt haben, wozu ist das Ding gut. Das ist dafür gut, dass der Mann da sein Schwert reinstecken kann. Nennen wir es doch Scheide, also ganz banal. Das war damals so die Regel, dass man Analogien zur Benennung von Körperteilen gewählt hat. Und dadurch ist Scheide halt sozusagen auch nur in Bezug auf das männliche Genital zu denken und einfach irgendwie als eigenständiges Genital nicht mehr vorhanden in der Sprache.

Heise: Warum ist Ihnen jetzt die Bezeichnung Vulva so wichtig?

Sanyal: Na ja, also wir leben ja in einer Kultur, in der wir schon uns sehr stark über Genitalien definieren. Wir leben in einer Kultur, in der der Phallus eine unglaubliche Rolle spielt. Jede Kirche sieht aus wie ein Phallus, jeder Pöller, jede Zigarre – überall wird drauf Bezug genommen, und das Äquivalent bei der Frau, nämlich die Vulva, da wird immer so getan, als würde es gar nicht existieren. Also Freud hatte halt so die wunderschöne Idee, man nehme einen Mann und schneidet halt den Penis ab und hat damit eine Frau, also sozusagen, die Frau ist nur die Abwesenheit eines Phallus, die Frau ist ja nicht Mann, es ist die Negativfolie zum Mann. Und ich wollte ein Konzept einfach mal daneben beschreiben, das unabhängig davon denkbar ist, das nicht nur die Abwesenheit ist.

Heise: Das heißt, Sie meinen, die falsche Bezeichnung allein hat schon Auswirkungen auf die Körperwahrnehmung?

Sanyal: Sie hatte ganz eindeutig historisch die Auswirkung auf die Körperwahrnehmung. Es gibt diesen wunderbaren Bericht in diesen Hexenverbrennungsakten, also in den Akten der peinlichen Befragung, wo ein Henkersknecht zum ersten Mal in seinem Leben eine Klitoris gefunden hat bei einer Frau – also das war ein verheirateter Mann. Offensichtlich irgendwie hat er noch nie vorher das gesehen, was ja auch zeigt irgendwie, er hat es gesehen, aber er konnte es nicht wahrnehmen. Es gibt von Ludwig Fleck, das ist ein Philosoph, diesen wunderbaren Satz, dass er sagt, es gibt keine Naturtreue außer Kulturtreue, und damit meint, das, wofür wir keine Worte haben, das, wofür wir kein kulturelles Konzept haben, das können wir auch nicht wahrnehmen, davon können wir uns auch kein Bild machen.

Heise: Es wird doch aber momentan in der Öffentlichkeit eigentlich ständig über Sex gesprochen, auch über die sexuellen Bedürfnisse der Frau wird gesprochen.

Sanyal: Absolut, ja.

Heise: Wir fühlen uns ja fast eher in einer übersexualisierten Öffentlichkeit. Und auch spätestens seit der Frauenbewegung muss man sagen, dass über Missachtung weiblicher Sexualität geredet werden kann.

Sanyal: Genau, genau, genau.

Heise: Was hat Sie aber veranlasst, jetzt doch dieses Buch zu schreiben?

Sanyal: Das ist halt genau mein Punkt gewesen. Wenn wir über weibliche Sexualität reden, dann wirklich über Misshandlung, Missachtung, Missbrauch, Vergewaltigung. Und mir ging es darum, wertschätzend darüber zu sprechen, also wertschätzend übers weibliche Genital, auch dass weibliche Sexualität ja etwas Positives ist. Also auch dieses weibliche Genital ist ja nicht dafür da, damit Frauen dadurch vergewaltigt werden können, sondern das hat ja einen ganz anderen Sinn und Ziel und Zweck. Und wenn man sich sozusagen die ganze Literatur anguckt, dann geht das ein bisschen zur Seite, dann ist es offensichtlich nur der Ort, wo es Pilzerkrankungen geben kann und, wie gesagt, Misshandlung, Missbrauch.

Heise: Die Kulturhistorikerin und Journalistin Mithu Sanyal hat die Kulturgeschichte des weiblichen Geschlechts geschrieben. Frau Sanyal, in Ihrem Buch wird deutlich, dass es aber auch mal ganz andere Zeiten gegeben hat, in denen die Vulva und das Zeigen der Vulva auch eine sehr große Rolle gespielt hat.

Sanyal: Na ja, zu meiner großen Überraschung habe ich dann in nahezu jeder Mythologie eine Geschichte gefunden, wie das Zeigen der Vulva die Welt gerettet hat. Also in unserer klassischen Antike gibt es halt zum Beispiel in der griechischen Mythologie die Göttin Baubo, die der Göttin Demeter ihre Vulva gezeigt hat, als Baubo, die ja die Göttin des Ackerbaus ist, irgendwann aufgehört hat zu essen und zu trinken und dabei dann das ganze Land abgestorben ist. Also es gab keinen Acker mehr, weil sie ja irgendwie für das Wachsen des Weizens zuständig war.

Baubo zeigt ihr ihre Vulva, und in dem Moment fing Demeter wieder an zu lachen und damit dann auch wieder zu essen und am Leben teilzunehmen. Und die Menschheit war gerettet. Und das gibt es überall. Das alte englische Wort Cunt, was so eins der schlimmsten Schimpfworte in der englischen Sprache ist, was sozusagen Fotze bedeutet, hat dieselbe Wurzel wie Queen, wie Country und Kin – also Königin, Land und Sippe. Und also das Wort und die Bezeichnung und das Zeigen der Vulva waren unglaublich wichtig, und es ist nicht so, dass es so unwichtig war, dass man nicht drüber reden muss, sondern es ist kulturgeschichtlich eine unglaubliche Energie da reingeflossen, das erst mal zu leugnen, unsichtbar zu machen und irgendwie auch zu dämonisieren, um danach zu sagen, ach nee, das ist gar nicht wichtig, da müssen wir nicht drüber reden, ist nicht da.

Heise: Sie sprechen davon an einer Stelle und auch in Interviews habe ich das immer mal wieder gelesen, dass die Leugnung der Vulva einer Verstümmelung durch die Sprache statt mit dem Messer gleichkommt. Das ist ja wohl angesichts der Opfer und der Leiden der Frauen, die eben durch Messerverstümmelung leiden, das kommt mir da sehr unpassend vor.

Sanyal: Na ja, es ist ein Zitat von Harriet Lerner, von der Psychoanalytikerin Harriet Lerner, die halt untersucht hat, welche psychischen Folgen es bei Frauen hat, also dass ihre Patientinnen, die sozusagen ihr Genital nicht benennen durften, dann Orientierungsprobleme hatten, Probleme hatten, sich in Welt zu verorten, wo ist mein Ort. Und das hat ja auch viel damit zu tun, wie kann ich mich fühlen, wie sind meine Sinneswahrnehmungen überhaupt. Und deshalb ist sie darauf gekommen, auch weil sie halt auch in den letzten 20, 30 Jahren, die sie sich dafür einsetzt, dass die richtige Bezeichnung verwendet wurde, massiven Widerstand hatte.

Und das ist eine der Sachen, weshalb die Vulva beschnitten wird, also weshalb beschnitten, ist ja auch irgendwie, verstümmelt ist ja das richtige Wort dafür, ist ja auch tatsächlich, dass es diese Geschichte gibt der Dämonisierung, des Sagens, das sind die Schamteile, was ja fast nur für die weiblichen Genitalien galt. Also Männer haben auch Schamhaare, aber Frauen haben Schamlippen und die Scham und das Schamdreieck und so weiter. Und das so negativ zu besetzen, dass man das sozusagen dann auch in der Realität entfernen soll, das ist schon miteinander verknüpft.

Und auch historisch gesehen, wann angefangen wurde, Worte wie Vagina durchzusetzen, wann angefangen wurde durchzusetzen, das sind negative Orte, da hat sich auch durchgesetzt überhaupt etwas wie das Bild von Frauen, dass das negativ ist. Also, es gibt von Galen diese Formulierung, dass die Frauen von Gott als verstümmelt und ungenügend geschaffen wurden, damit sie, wenn sie an ihre Genitalien denken, sich schämen und sich ihrer Natur entsinnen, dass sie halt dienen und sich unterwerfen sollen. Also, das geht immer Hand in Hand, also wenn wertschätzende Begriffe verschwinden, verschwindet häufig auch ein wertschätzender Umgang und umgekehrt.

Heise: Das ist natürlich jetzt auch der Blick in die Kulturgeschichte. Künstlerinnen von heute machen Happenings, zeigen ihr Geschlecht, es gibt Theateraufführungen zum Beispiel der "Vagina-Monologe", nicht zuletzt Charlotte Roches Roman "Feuchtgebiete" in den Bestsellerlisten. Sind das nicht auch Zeichen doch der sehr starken Veränderung auf dem Gebiet?

Sanyal: Also es passiert sehr viel. Was mir wichtig ist, ist halt, dass es, was ich eben meinte, einen wertschätzenden Umgang damit. Es geht mir nicht nur darum, dass drüber gesprochen wird, sondern auch, wie drüber gesprochen wird.

Heise: Wie wird denn über Ihr Buch gesprochen?

Sanyal: Sehr unterschiedlich. Was mich fasziniert hat, war, dass sich dieses Buch zum Beispiel auf Amazon deutlich besser verkauft als in Buchhandlungen. Also es scheint schon auch eine Scheu zu geben, aber es wird gekauft, und es wird relativ breit gekauft. Und ich habe sehr viele Briefe bekommen, von Lesern und von Leserinnen, die mir sagen, dass sie sich seit Jahren mit dem Thema beschäftigen. Und es ist offensichtlich auch beim Verlag nicht selbstverständlich, dass so viele Menschen auch ein Bedürfnis haben, darüber zu kommunizieren. Und das ist ja auch mein Ansatz, also meine Hoffnung damit, dass irgendwie damit Kommunikation noch mehr in Gang gesetzt wird, als es sowieso der Fall ist. Also es sind ja Ideen, die in der Luft liegen, was auch mit Charlotte Roche oder Lady Bitch Ray oder solchen Dingen ja auch deutlich wird.

Heise: Provozieren, also die Verklemmten provozieren wollten Sie aber nicht, weil ich meine, das Titelbild, das kann auch daran liegen, dass man das eher im Internet bestellt, das Titelbild zeigt eine Frau mit gespreizten Beinen hinter einem Baum, eigentlich ein ganz schönes Bild, aber dann mit diesem Riesenaufdruck "Vulva". Da traut man sich kaum, das Buch in der S-Bahn zu lesen. Ich hab was drumrum gewickelt. Also ist ja doch auch ne Provokation. Auch von Ihnen so gedacht?

Sanyal: Genau, also wie meine Eltern irgendwie damals "Joy of Sex" in unauffälliges braunes Packpapier gepackt haben, so kann man jetzt den Umschlag umgekehrt drum machen. Ja, Provokation ist ja immer die Frage, weil Provokation ist ja immer in einem System zu lesen. Also wenn ein System etwas verschweigt, dann ist natürlich ein Drüber-Reden automatisch eine Provokation. Das Bild ist ein Kunstwerk, das hat einen Titel, das heißt Judith, also es bezieht sich natürlich auch noch mal auf eine Frau, die in der Bibel sozusagen die Frauenrolle überschritten hat.

Und das Bild zeigt ja eigentlich einen sehr phallischen Baum, der da zwischen den Beinen der Frau sitzt. Und was damit eigentlich gemeint ist, ist, dass der Phallus in unserer Kultur sozusagen vor die Vulva gesetzt wird, also die Vulva unsichtbar machen soll. Und der Titel soll sie wieder sichtbar machen. Und wir haben es auch lange überlegt. Wir wollten in dem Titel schon klar Position beziehen und nicht drumherum reden – ja, das unsichtbare Geschlecht – und dann erst in dem Buch sagen, worum es geht, sondern wir wollen es ja aussprechen und aussprechbar machen, dass es dann eben keine Provokation mehr ist.

Heise:"Vulva: Die Enthüllung des ‛unsichtbaren Geschlechts‛", so heißt das Buch von Mithu Sanyal. Frau Sanyal, ich danke Ihnen recht herzlich für das Gespräch!

Sanyal: Ich danke Ihnen!