Wir lassen uns nicht beleidigen

Von Burkhard Müller-Ullrich |
Es ist einfach grauenhaft, und vermutlich begann das Grauen vor genau vierzig Jahren in Frankfurt am Main. Jedenfalls konnte man es dort zu ersten Mal betrachten, erfahren und erleben. Auf der Bühne standen vier zornige junge Männer und brüllten einen kompletten Theaterabend lang nichts als Beleidigungen in den Saal. Ein gewisser Claus Peymann hatte das Stück inszeniert, es stammte von einem Österreicher namens Peter Handke, und sein Titel sagte ganz genau, worum es ging: "Publikumsbeschimpfung".
Das Publikum jedoch, dieses satte und behäbige bundesrepublikanische Sediment in seiner frankfurterisch-kulturbürgerlichen Gestalthaftigkeit nahm die stundenlange Beschimpfung und Beleidigung geradezu erschütternd fröhlich auf. Kein Ärger, kein Protest, kein Boykott – es war das nackte Grauen.

Man bekam einen Vorgeschmack jener gesellschaftlichen Immunisierung, welche noch viel weiter fortschreiten und unserer Zivilisation einen neuen Stempel aufdrücken sollte: Wir leben in einer Kultur, die keine Beleidigung mehr kennt. Für die Künstler ist das grauenhaft, sie überbieten sich seither in einem permanenten Beleidigungs-Wettstreit, um das Publikum zu provozieren, doch das Publikum hört gar nicht hin, zuweilen geht es auch nicht hin, es ist im schlimmsten Fall ganz einfach nicht mehr da. So laufen die Beleidigungen vollkommen ins Leere.

Doch auch im nicht-theatralischen Bereich ist es schwer, ja beinahe unmöglich geworden, die Mitmenschen noch ordentlich zu beleidigen. Uns fehlt schon jede Vorstellung davon, wie gefährlich das Leben früher war, als wegen jeder Kleinigkeit ein Ehrenhandel losbrechen konnte. Einmal in der Postkutsche gesessen und die Gesichtswarze des Gegenübers zu häufig mit dem Blick gestreift, da kam die Drohung: "Herr, was fixieren Sie mich?", worauf eine eingerissene und unterschriebene Visitenkarte überreicht wurde. Das bedeutete: Forderung zum Duell.

Blödes Anstarren konnte nämlich schon als Beleidigung ersten Grades gelten; danach kamen noch Beleidigungen zweiten sowie dritten Grades, letztere bestanden in Tätlichkeiten oder ehrabschneidenden Verleumdungen. Die Ehre gehörte damals ja zur Grundausstattung des männlichen Menschen, sie war sozusagen sein serienmäßiges Selbstwertgefühl, das sich in Augenblicken des Todesmuts beweisen und erneuern musste.

Heute hingegen muss man mindestens Beamter oder Prominenter sein, um von der Polizei überhaupt ernst genommen zu werden, wenn man Anzeige wegen Beleidigung erstatten will. Beleidigtsein ist derart unmodern, dass Amtsrichter den Paragraphen 185 des Strafgesetzbuchs als eine angenehme Abwechslung in ihrer Alltagsarbeit betrachten. Dort heißt es nämlich: "Die Beleidigung wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe und, wenn die Beleidigung mittels einer Tätlichkeit begangen wird, mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft." Und Paragraph 199 präzisiert: "Wenn eine Beleidigung auf der Stelle erwidert wird, so kann der Richter beide Beleidiger oder einen derselben für straffrei erklären."

Das alles klingt nach Kindergarten, und in der Tat verweist die Haltung des Beleidigtseins auf eine gewisse Infantilität. Was früher just als Attribut der Männlichkeit erachtet wurde, jene von Lessings "Minna von Barnhelm" so souverän verspottete Ehrzimperlichkeit, das kommt uns heute eher kindisch und komisch vor. So ist in unserer Kultur eine grandiose Wurstigkeit erwachsen, die einen für Beleidigungen unempfindlich macht. Dem gegenüber steht das Bild der Leberwurst, die ihr Beleidigtsein bewirtschaftet und auf Satisfaktion sinnt. Doch wer sich damit abgibt, ist eben ein Würstchen.

Zum Beleidigtsein gehört nämlich vor allem eine Menge Zeit. Beleidigtsein ist nichts für Vielbeschäftigte. Um jemanden, der einem einen Vogel oder den Stinkefinger gezeigt hat, wirklich zu fünfzehn Tagessätzen verurteilt zu bekommen, muss man selber fast fünf Tage für Schriftsätze, Anwaltsbesprechungen und Gerichtstermine aufwenden. Die Ökonomie der Beleidigung funktioniert nur noch unter Arbeitslosen oder in Gesellschaften mit orientalischen Zeitbegriffen.

Außerdem sinkt die Bereitschaft zum Beleidigtsein mit wachsendem Wohlstand. Das hat schon Peter Handke vor vierzig Jahren getestet und erfahren, und das gilt in unserer Wellness-Epoche um so mehr. Die Erniedrigten und Beleidigten sind in unserem Breitengraden ausgestorben wie die Dinosaurier, an ihre Stelle traten die Erfolgreichen und Behäbigen, die über Beleidigungen höchstens schmunzeln.

Und das ist nun wirklich das Allerschlimmste, was einem sich in wüsten Unflätigkeiten, Blasphemien und sonstigen Kränkungen verausgabenden Provokateur passieren kann. Denn Kunst und Religion sind ernst und streng darauf bedacht, daß der Mensch nicht merkt, wie lustig doch das Leben ist.


Burkhard Müller-Ullrich, geboren 1956 in Frankfurt am Main, studierte Philosophie, Geschichte und Soziologie. Schreibt für alle deutschsprachigen Rundfunkanstalten und viele Zeitungen und Zeitschriften in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Er war Redakteur beim Abendstudio des Schweizer Radios, beim Schweizer Buchmagazin ‘Bücherpick’ und Leiter der Redaktion "Kultur heute" beim Deutschlandfunk. Mitglied der Autorengruppe "Achse des Guten", deren Website www.achgut.de laufend aktuelle Texte publiziert.