"Wir konzentrieren uns wirklich auf die Proteste"

Katja Kipping im Gespräch mit Martin Steinhage und Ulrich Ziegler · 11.09.2010
Mit Aktionen gegen die Atompolitik und "Stuttgart 21" will die Linke die Regierung unter Druck setzen, erklärt die stellvertretende Vorsitzende Katja Kipping. Sie sieht Chancen, dass sich zusammen mit SPD und Grünen eine "reale Machtoption" gegen die jetzige Koalition entwickeln lässt.
Deutschlandradio Kultur: Frau Kipping, vor der Klausur Ihrer Bundestagsfraktion hieß es, man wolle Antworten auf die Krise und ihre Folgen finden. Haben Sie zum Beispiel Antworten auf die Krise der Partei Die Linke gefunden?

Katja Kipping: Ich glaube, was sehr deutlich geworden ist, als alle jetzt nach der Sommerpause zusammengekommen sind, dass es – ganz unabhängig, wie man die Situation jetzt während des Sommers bewertet hat – so ein Gefühl gibt, es reicht uns jetzt. Es nützt uns überhaupt nichts mehr, diese ganzen inneren Streitereien, weil, es gibt so viele brennende Fragen, an denen wir dran sind. Und was schon eine Antwort war: Wir konzentrieren uns wirklich auf die Proteste, die Auseinandersetzungen, die jetzt anstehen – wie Stuttgart 21, die Castor-Transporte und den heißen Herbst.

Deutschlandradio Kultur: Das heißt, Sie würden das auch gerne mit außerparlamentarischen Gruppierungen machen, aber auch mit der SPD und den Grünen. Das Problem ist nur: SPD und Grüne sagen, die Linke brauchen wir da gar nicht. Was sagen Sie dazu?

Katja Kipping: Erstens, zum Glück sind ja SPD und Grüne auch nicht total monolithisch. Ich kenne mehrere bei den Grünen und bei der SPD, die ganz bewusst ein Interesse an einem Cross-over haben, der sowohl alle drei Parteien umfasst, als auch außerparlamentarische Bewegungen. Was jetzt die Spitzen der jetzigen SPD und Grüne anbelangt, so muss ich sagen: Die haben offensichtlich überhaupt nichts aus dem gesamten Hartz-IV-Desaster gelernt. Weil, wenn man jetzt sagt, man macht wieder sofort einen Neuaufguss von Rot-Grün, ohne die Linke einzubeziehen schon in diesen Debatten, dann besteht die Gefahr, dass man ganz schnell wieder dort landet, wo man davor war.

Ich glaube schon, dass die Linke, auch wenn sie jetzt nicht eine perfekte Partei ist, dass man der Linken doch eines sicher zuschreiben kann, nämlich dass sie das organisatorische Mahnmal quasi dafür ist, wie schnell auch Rot-Grün abrutschen kann in dem Weg, der nichts mehr mit den ursprünglichen Zielen zu tun hat.

Deutschlandradio Kultur: Sie hatten in der abgelaufenen Woche eine Fraktionsklausur der Bundestagsfraktion in Bad Saarow in Brandenburg. Hat man sich denn da in diesem Zusammenhang auf eine, sagen wir mal, neue Strategie im Umgang mit SPD und Grünen verständigt? Denn bisher hieß es ja immer nach unserem Verständnis: Die sollen sich mal nach uns richten. Wenn sie sich in unsere Richtung bewegen, dann können wir was zusammen machen. Nur die zeigen ja jetzt wieder die kalte Schulter.

Katja Kipping: Wie gesagt, ich möchte das mal zurückweisen, dass sie da so in sich geschlossen agieren. Ich glaube, es ist auch da ein umstrittenes Feld. Und da bin ich auch noch mal gespannt, wer sich dann am Ende bei Grünen und SPD durchsetzt. Und, was jetzt unsere Strategie anbelangt, man kann das ja mal, damit das nicht nur so abstrakt behandelt wird, an einem Beispiel konkret machen. Es ging zum Beispiel um die Frage Rente ab 67. Ich persönlich finde, man muss generell sowohl die Rente ab 67 zurücknehmen und eigentlich auch über eine Verkürzung der Lebensarbeitszeit nachdenken.

Nun hat die SPD, die ja das vor allen Dingen durchgepeitscht hat damals, die Einführung der Rente ab 67, eine heftige Debatte dazu gehabt und hat jetzt erst mal so eine Art Kompromiss, dass man es eventuell aussetzen will oder nach hinten verschieben will. Konsequenter wäre natürlich gewesen, man nimmt das einfach komplett wieder zurück. Aber wir haben uns halt hier verständigt als Linke. Wir wollen auf jeden Fall den Antrag einbringen, Abschaffen der Rente ab 67, weil wir sagen, das ist momentan nichts weiter als ein Rentenkürzungsprogramm. Ein Großteil der Rentnerinnen und Rentner sind bereits schon, wenn sie 65 sind, nicht mehr in einem sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis. Wir haben uns aber auch verständigt, dass – wenn es einen Antrag der SPD gibt, das sozusagen erst mal zu verschieben – wir zumindest uns damit auseinandersetzen werden und fragen, inwieweit man konsequente Aussetzung und Verschiebung auch befördern kann und unterstützen kann.

Deutschlandradio Kultur: Aber Sie müssen doch auch zur Kenntnis nehmen, dass sich die SPD, vor allen Dingen die SPD, in den letzten Monaten deutlicher nach links orientiert hat, beispielsweise schon auch bei der Rente mit 67 oder der Hartz-IV-Gesetzgebung. Sie haben sich immer profiliert als Linke in den letzten Monaten, dass Sie sagten, wir wollen die SPD reformieren von außen. Das tut sie jetzt. Was machen Sie dann mit ihr, wenn sie auf Sie zugeht?

Katja Kipping: Es freut mich natürlich, wenn sich die SPD wirklich nach links verschiebt. Wie gesagt, bei der Rente ab 67 ist es ja noch nicht mal so, dass sie alles, den gesamten Fehler, den sie damals unter Müntefering begangen hat, zurücknimmt, sondern sie nimmt ja nur einen Teil davon zurück, indem sie über eine Verschiebung spricht.

Und was Hartz IV anbelangt: Ja, da nehme ich im Sozialausschuss zur Kenntnis, dass es da einige Sozialdemokratinnen gibt, die da, sag ich mal, sehr kritisch sind. Aber ich muss eben auch zur Kenntnis nehmen, dass es unmöglich war, einen übergreifenden Antrag für ein Sanktionsmoratorium bei Hartz IV hinzubekommen. Und es gibt ja eine breite, von Erwerbslosenbewegungen und von Wissenschaftlern initiierte Bewegung für die Aussetzung der Sanktionen bei Hartz IV. Das ist ein Ziel, was von den Grünen und von den Linken mitgetragen wird. Und es war nicht möglich, da, sag ich mal, eine größere Anzahl von Sozialdemokraten zu finden, die das mitmachen.

Solange man an diesen neuralgischen Punkt nicht rangeht, die Sanktionen bei Hartz IV, die für mich das Herzstück der Repression sind und auch der Schikane, solange, muss ich sagen, hat die SPD sich noch nicht wirklich mit dem Grundproblem Hartz IV auseinandergesetzt.

Deutschlandradio Kultur: Es ist interessant, das jetzt von Ihnen zu hören. Das klingt für mich immer noch so: Die SPD muss sich ändern, dann kann da was laufen. – Das ist sozusagen der Stand, den wir jetzt immer hatten. Ändert sich da jetzt gar nichts? Hat man in Bad Saarow nicht gesagt, wir müssen möglicherweise nach neuen Strategien suchen, uns der SPD punktuell anzunähern, gemeinsame Basis zu finden? Beispielsweise, es geht ja nicht nur um Rente mit 67 und Hartz IV, Gesundheitsreform, gesetzlicher Mindestlohn, Zeitarbeit, Energiekonzepte, da muss es doch irgendwo punktuell auch von Ihnen Angebote in Richtung Rot und Grün geben.

Katja Kipping: Ja, Sie ziehen ja jetzt die Frage wieder so auf, als ob wir jetzt auf einem Kindergeburtstag sind und es darum geht, wer gibt als erster nach oder so. Also, das ist für mich überhaupt nicht die Ebene, auf der ich das behandle, weil ich finde das albern, wenn man sagt, ja, die müssen 90 % auf uns zukommen und wir 10. Aber Sie haben mich jetzt nach konkreten Beispielen gefragt.

Und da, finde ich sozusagen, ist schon entscheidend, welche Inhalte einem zentral wichtig sind in der Auseinandersetzung. Und ich kann nur sagen: Nachdem ich jetzt viele Jahre mit den Auswirkungen von, sag ich mal, dieser Schikane, die viele Leute auf den Jobcentern erleben, dass das für mich mit den Sanktionen ein ganz zentraler Punkt ist, was das anbelangt.

So. Und dann gibt es natürlich Bereiche, wo es eine Gemeinsamkeit gibt. Das ist bekannt bei Mindestlohn, bei der Frage, wollen wir eine Bürgerversicherung anstelle der Kopfpauschale. Wo womöglich sogar die Schnittstellen zwischen Grüne und Linke größer sind, das ist der konsequente Einsatz für eine Energiewende. Also, ich bin mir da mit Hermann Scheer von der SPD, der auch Träger des Alternativen Nobelpreises ist, sehr einig, dass man eine 100-prozentige Energiewende braucht, und zwar sowohl aus ökologischen Gründen als auch aus ökonomischen Gründen. Denn wenn man möchte, dass es nicht nur einige wenige Energiemultikonzerne gibt, die quasi alleine die Hoheit haben, dann muss man vor allen Dingen auf dezentrale Energieformen setzen. Und da sind die erneuerbaren Energien besonders geeignet dafür.
Deutschlandradio Kultur: Ist das richtig, wenn Agenturen schreiben, hier hat es bei der Fraktionsklausur in Bad Saarow richtig gekracht? Es wurde strittig darüber diskutiert, wie man künftig mit der SPD umgeht.
Katja Kipping: Ja, gekracht hat es, glaub ich, nicht. Aber wir haben tatsächlich irgendwann mal sehr kontrovers diskutiert. Also, wir haben sowohl über den Umgang mit der SPD, wir haben aber auch über unser Programm diskutiert. Und ich glaube, es hat mehr gekracht bei der Frage, wie hält es die Linke mit der Wachstumslogik. Und da gibt es bei uns unterschiedliche Positionen. Das Interessante ist, dass es da auch innerhalb der SPD sehr unterschiedliche Herangehensweisen gibt.
Deutschlandradio Kultur: Es gibt auch die Forderung, zumindest konnte man das nachlesen, dass es eine Selbstkritik gab, die da sagt, wir müssen künftig kreativer, innovativer, attraktiver werden, Lösungen anbieten. Also, rückblickend haben Sie dann anscheinend doch nicht alles richtig gemacht. Wo wollen Sie sich künftig anders positionieren?
Katja Kipping: In der deutschen Grammatik gibt’s ja die Form des Komparativ, dass man immer besser werden muss. Das ist, sag ich, meine Wahrheit von zeitloser Schönheit. Man kann immer noch kreativer und witziger und peppiger werden. Insofern finde ich das eher, wenn man das so sagt, das ist ein Ausdruck davon, dass man nicht selbstgenügsam ist. Und insofern bin ich da ganz froh, dass wir auch so diskutiert haben: Wo können wir noch Sachen prononcierter zuspitzen oder auch mal anders verdeutlichen?
Deutschlandradio Kultur: Man kann es ja immer noch besser machen. Können es denn Frau Lötzsch und Herr Ernst als Tandem auch nicht noch wesentlich besser machen? War das vielleicht auch ein Thema?
Katja Kipping: Ja, zu den wunderbaren Gesetzen der Mediengesellschaft gehört ja, wenn ich jetzt diesem sehr banalen Satz zustimmen würde, würde ja sofort die Nachricht daraus gemacht: "Kipping kritisiert Klaus Ernst und Gesine Lötzsch." – Ich glaube, das kann man auf den gesamten Vorstand beziehen. Da würde ich jetzt auch mich selber als Stellvertreterin da nicht ausnehmen. Wir können da natürlich noch einiges optimieren, was unsere Arbeit anbelangt. Das würde ich aber nicht auf die beiden beschränken.
Deutschlandradio Kultur: Das müssen Sie auch machen. Sie wollen ein neues Parteiprogramm schreiben. Und selbst da gibt’s auch wieder heftige Kritik. Zumindest kriegen wir das von außen so mit. Die Vorlage von Oskar Lafontaine und Sarah Wagenknecht wird auch parteiintern kritisiert. Werden wir eine Linke erleben in den nächsten Wochen, Monaten, die offen diskutiert und die möglicherweise auch die Grundfeste noch mal angreift, die in diesem Entwurf zum Grundsatzpapier, das im Moment vorliegt, so festgehalten sind?
Katja Kipping: Also, ich selber gehöre ja zu sehr leidenschaftlichen Kritikerinnen dieses Programmentwurfs. Und zwar, eine Hauptkritik von mir ist halt, dass man dort einen Arbeitsbegriff hat, der davon ausgeht, dass allein Erwerbsarbeit die Quelle alles Eigentums in dieser Gesellschaft ist. Das ist eine Position, die ich nicht teile. Ich glaube, es gibt ganz viele Tätigkeitsformen, mit der man dieser Gesellschaft was nutzt und sich einbringt in diese Gesellschaft. Und insofern setze ich mich ganz vehement dafür ein, dass wir eine sehr lebendige Programmdebatte haben, auch eine Programmdebatte, die nicht nach dem Radio-Eriwan-Prinzip geführt wird. Also, für alle, die das nicht kennen: Radio Eriwan hieß immer: Bist du dafür? Und die Antwort war immer: Im Prinzip ja. Dann kam aber ein großes Aber. – So darf natürlich unsere Programmdebatte nicht ablaufen, dass sie immer nur im Prinzip gewollt ist, konkret aber immer ungeeignet ist und man möglichst den Mund zu halten hat.

Wir werden dazu jetzt mehrere Konferenzen haben. Was vielleicht ganz interessant ist: Wir haben bewusst die Regionalkonferenzen so angelegt, dass immer Ost- und Westbundesländer gemixt zusammen das durchführen, damit gleich die Perspektiven auch aufeinanderprallen.
Deutschlandradio Kultur: Hat Ihr Schatzmeister recht, wenn er sagt, Zitat, "die Idee, den Kapitalismus abzuschaffen und dann wird alles gut, ist etwas wenig"?

Katja Kipping: Ja, zweifelsohne hat er damit Recht. Wobei er jetzt auch natürlich wiederum eher nur eine Karikatur widergespiegelt hat. Ich würde jetzt den eher, sag ich mal, antikapitalistisch orientierten Leuten in unserer Partei nicht unterstellen, dass sie so ein triviales Kapitalismusverständnis haben. Also, es gibt da schon auch sehr unterschiedliche Zugangsweisen. Es gibt eine vielleicht eher emanzipatorisch und linksradikal geprägte Kapitalismuskritik, die mir durchaus sympathisch ist. Und es gibt eine eher dogmatische, wo man so nach dem Motto, man muss bloß die Eigentumsverhältnisse ändern, dann ist sofort alles anders. Da sag ich immer: Für mich ist nicht entscheidend, wer formaljuristisch den Eigentumstitel hat. Sondern für mich ist halt entscheidend, wer tatsächlich die Verfügungsgewalt hat.

Also: Als ich noch zur Schule gegangen bin in der DDR, da stand an jedem Tisch dran, dass es im VEB, also einem volkseigenen Betrieb, hergestellt worden ist. Konkret hatten wir im Unterricht, sag ich mal, wenig davon, dass das formal volkseigen war, weil, wir konnten noch nicht mal entscheiden, dass die Tische umgestellt werden. Also, ich fände es halt entscheidend, dass sozusagen man dann auch über Fragen, wer in welchem Raum sich befindet, wer in welchem Betrieb was herstellt, dass der auch mitbestimmen kann, wie die Sitzordnungen sind, aber auch, wie was produziert wird.

Deutschlandradio Kultur: Sie selbst differenzieren ja auch zwischen "konservativen Linken und modernen Linken". Sie zählen sich wahrscheinlich zu den modernen Linken. Ist das der Bruch, der auch innerhalb der Partei sichtbar wird, dass es diese Old-School-Linke gibt und mittlerweile nach der Ära Bisky/Lafontaine was ganz Neues entsteht?

Katja Kipping: Man tut natürlich mit jeder Kategorisierung immer ganz, ganz vielen Leuten Unrecht. Und es ist ja nur sehr holzschnittartig. Eigentlich der Begriff, der mir persönlich wichtig ist, ist schon der statt "modern" "emanzipatorisch" zu sagen, ist aber nicht ganz so kompatibel und einfach runter zu brechen. Ich wollte mit diesem Deutungsmuster vor allen Dingen eines machen. Ich wollte mal dieses klassische Muster, das immer so gesagt wird – da gibt’s die Reformer, das sind die Vernünftigen und die Pragmatischen, auf der anderen Seite gibt’s die Revolutionäre, das sind die Radikalen, und die Revolutionäre sagen dann, es gibt ein Links-rechts-Schemata, da fühlen sich natürlich Leute auf den Schlips getreten, weil innerhalb der Linken will ja niemand als Rechter bezeichnet werden –, und ich wollte was anderes dagegen setzen und sagen.

Also die Konfliktlinien, die ich spannend finde innerhalb der Partei, verlaufen halt nach einem anderen Muster, nämlich damit, inwieweit die Frage von Selbstbestimmung einen zentralen Stellenwert hat, inwieweit man sich von Erwerbsarbeitsfokussierung löst, aber auch inwieweit man Fragen der Ökologie und des Feminismus, diesen Fragen auch entsprechend Gewicht beimisst.

Deutschlandradio Kultur: Das wollen Sie dann irgendwie versuchen in das Parteiprogramm einzubringen. Und das soll dann sozusagen der Leuchtturm sein für eine Politik, wo sich die Linke profiliert gegenüber den Grünen, der SPD und anderen Parteien?

Katja Kipping: Also, so eine Perspektive ist natürlich eine klassische Programmdebatte. Da ist nix, wo du sofort, sag ich mal, den "Vier-in-einem" Gesetzentwurf im Bundestag einbringst. Na, aber deswegen gibt’s ja einen Unterschied zwischen Wahlprogramm, wo man Sofortmaßnahmen hat, und eben einer Programmdebatte, wo....

Deutschlandradio Kultur: Aber die Philosophie, die Sie da geschildert haben, die ist doch...
Katja Kipping: …die "Vier-in-einem-Perspektive", also ich und nicht nur ich, sondern es gibt ein sehr breites Netzwerk vor allen Dingen von Frauen, aber nicht nur von Frauen, innerhalb der Linken, die sich dafür stark machen. Es gibt auch erste Anklänge im Programm dafür. Die müssen aber deutlich ausgebaut werden. Und aus dieser Vision kann man auch ganz konkrete Forderungen ableiten, wie zum Beispiel zu sagen, wir fordern nicht Vollbeschäftigung für alle, sondern wir sagen eher: Vielleicht ist es sinnvoller, die vorhandene Erwerbsarbeit besser zu verteilen. Und dann sagen wir halt eher, auch aus Provokation: Teilzeitarbeit für alle. Oder realpolitischer gefasst: Wir setzen uns für konsequente Arbeitszeitverkürzung ein.

Deutschlandradio Kultur: Gibt es in Ihrer Partei Leute, die Ihnen dann vorhalten, das ist eine Utopie, die gar nicht umsetzbar ist? Oder gibt’s solche Töne nicht?

Katja Kipping: Ja, es gibt natürlich immer Forderungen von beiden Seiten und meistens sogar aus ein und demselben Mund. Also, der eine Vorwurf ist, das es nicht weitgehend genug, weil, das ist ja noch nicht die Abschaffung des Kapitalismus ist. Und dieselben Personen kritisieren dann auch manchmal, ja, das wäre ja eine Utopie, die nicht umsetzbar ist. Dieselben Leute meinen aber, dass Vollbeschäftigung im Rahmen des Kapitalismus möglich ist. – Da habe ich eine andere Analyse. Ich glaube, dass sozusagen unter diesen Wirtschaftsbedingungen Vollbeschäftigung nicht machbar ist.

Deutschlandradio Kultur: Sie kriegen dann alle trotzdem unter ein Dach, wenn es auch innerhalb Ihrer Partei Leute gibt, die sagen: Der ganze Programmentwurf, den wir im Moment haben, der ist nicht mal marxistisch genug? Jetzt kommen Sie mit ganz anderen Vorstellungen. Und das soll alles unter einem Dach der Linken sein? Oder wollen Sie da einfach eine Denkfabrik machen und sagen, Programmentwurf am Schluss ist gar nicht so wichtig, wir wollen nur diskutieren?

Katja Kipping: Nein, am Ende wird ein Programmentwurf stehen. Es kann auch sein, dass natürlich im Zuge so eines Prozesses nicht alle Fragen komplett ausdiskutiert sind oder dass es nur am Ende eine Mehrheitsentscheidung gibt. Aber ich sage mal so, weil so ein leichter Schock mitspielt.

Deutschlandradio Kultur: Dann werden einige Leute gehen müssen?

Katja Kipping: Also, das ist ja jetzt ein Zustand, das ist ja bei allen Parteiprogrammen so, dass es Leute gibt, die unterschiedliche Schwerpunkte setzen, was das anbelangt. Aber womöglich muss man eben auch sich damit auseinandersetzen, dass es Widersprüche gibt und Fragen. Und vielleicht müssen wir manchmal auch ganz ehrlich sein und sagen: Hier haben wir noch keine perfekte Antwort, hier können wir bloß eine Frage stellen. – Aber die Zapatistas in Mexiko haben ja mal diesen Slogan herausgebracht: "Fragend schreiten wir voran." Und ich finde das ehrlicher, als immer zu sagen, ich habe die perfekte Antwort und jetzt müssen alle anderen meiner Antwort folgen. Manchmal heißt halt Politik auch die Kunst, gemeinsam die entsprechenden Fragen zu formulieren.

Deutschlandradio Kultur: Sie schreiten ja auch jenseits der Partei Die Linke, Ihrer eigentlichen Parteiarbeit sozusagen, fragend voran. Sie sind Gründungsmitglied des Instituts für Solidarische Moderne, das sich als – so haben wir das verstanden – linke Denkwerkstatt versteht. Mit dem im Januar gegründeten ISM wollen Sie und Ihre Mitstreiter einen, Zitat, "Gegenentwurf zu Ideologie des Neoliberalismus" entwickeln. Sie suchen dabei den Weg in die solidarische Moderne, wohlgemerkt "solidarische" Moderne und nicht "sozialistische" Moderne. Richtig?

Katja Kipping: Also: Es gab die Industriemoderne. Und in dieser Zeit gab es auch eine linke gesellschaftliche Bewegung. Die hat sich vor allen Dingen den Fragen der Umverteilung und den sozialen Rechten und Arbeit sozusagen verschrieben. Diese, ich sag mal, industriemoderne Linke war aber sehr unsensibel, was Grenzen des Wachstums anbelangt, Fragen von Geschlechtergerechtigkeit etc.

Dann kam die Postmoderne. Vielleicht, was man damit assoziiert, ist die 68er Bewegung, auch ein bisschen der Aufbruch der Grünen, Umweltbewegung. Und die waren vor allen Dingen engagiert in Fragen von Umweltschutz, Geschlechtergerechtigkeit etc., waren dafür im Gegenzug recht unsensibel, was die sozialen Fragen und Fragen der Umverteilung anbelangt.

Und wenn man sich jetzt so die gesamte linke Bewegung anschaut, verbringen Industrielinke und postmoderne Linke viel Zeit damit, sich gegenseitig nachzuweisen, dass sie ganz schön ballaballa sind. Und wir haben halt gesagt: Vielleicht täte es ja not, die positiven Elemente von beiden Seiten zu verknüpfen und weiterzuentwickeln zu einem zukunftsfähigen Entwurf, der halt wirklich auch ein Gegenmodell zum Neoliberalismus sein soll.

Deutschlandradio Kultur: Aber was ich nicht verstehe, warum Sie noch mal in die Denkfabrik gehen, obwohl Sie noch gar kein Parteiprogramm haben und vorher uns erzählt haben, dass Sie da die ganze Sache auch diskutieren. Also, Sie sind sicherlich eine Powerfrau und machen das jetzt auf unterschiedlichen Baustellen. Warum bündeln Sie nicht die Arbeit, damit andere Parteien wissen, aha, die Linke steht da, sie hat ein Parteiprogramm, sie weiß, was sie möchte? Jetzt gründen Sie da noch auf eine Denkfabrik und versuchen mit Frau Ypsilanti und Herrn Scheer noch mal irgendwie was Neues zu denken, obwohl Sie noch nicht mal ein Parteiprogramm auf die Beine gestellt haben.

Katja Kipping: Also, zum einen muss ich zurückweisen, die Linke hat ja ein Programm. Das sind programmatische Eckpunkte. Ich finde die ja gar nicht so schlecht, weil die eine Sache sehr ehrlich gemacht haben. Sie haben nämlich offene Fragen genannt, wo wir Diskussionsbedarf haben. Das ist ja kein Geheimnis, dass es in anderen Parteien genauso heftigsten Diskussionsbedarf gibt. Bloß da wird dann eher mit einem Formelkompromiss darübergegangen.

Und ich finde ja, Cross-over-Bedarf ja geradezu Personen, die jeweils in einer Organisation auch verankert sind und um die Probleme, die es in jeder Organisation gibt, wissen. Also, mir kann man nun nicht vorwerfen, dass ich keine programmatischen Vorstellungen habe. Ich hab ein Buch geschrieben, "Ausverkauf der Politik", wo ich auch sozusagen meine Grundrisse eines radikal-demokratischen Aufbruchs auch festgeschrieben habe. Ich gebe auch ein Magazin "Prager Frühling" mit heraus, was genauso ein Ort ist, um so den Austausch zu befördern. Und ich finde das ganz notwendig, dass aus all diesen Ecken, wo es Leute gibt, die sagen, so wie das jetzt läuft, das kann's nicht gewesen sein. Ich habe auch viele getroffen, die gesagt haben, sie wollen sich nicht für eine der Parteien entscheiden, aber sie wollen, dass es eine reale Machtoption zu Schwarz-Gelb gibt. Aber sie wollen eben auch, dass die nicht nur heißt, dann kommen andere Köppe mit anderen Frisuren an die Macht. Sie wollen schon auch, dass dahinter eine andere Denke steht. Also, das Denken und das Diskutieren wird doch nie aufhören. Alles andere würde ja das Ende von Demokratie bedeuten.

Deutschlandradio Kultur: Wenn Sie mit Ypsilanti und mit Scheer oder auch Sven Giegold...

Katja Kipping: Wenn ich noch kurz erwähnen darf: Da sind auch Gewerkschafter dabei und Sven Giegold beispielsweise von den Grünen. Wir haben mit Thomas Seibert einen Bewegungsphilosophen, Anke Martini aus einer NGO-Bewegung. Also, es ist jetzt nicht nur, es ist ein sehr breit angelegter Sprecherinnenrat auch.

Deutschlandradio Kultur: Ist klar. Ich habe jetzt die sozusagen relativ prominentesten Namen herausgepickt, also: Andrea Ypsilanti, Hermann Scheer, Sven Giegold von den Grünen sind dabei. Spielt dann auch ein bisschen eine Rolle dieses Denken, vielleicht lässt sich daraus etwas entwickeln, was sich dann auch parteipolitisch in Richtung Koalition irgendwann mal nutzen lässt? Oder ist dieser Gedanke Ihnen völlig fern, jetzt wirklich nur erst mal sozusagen zu gucken, in welche Richtung man marschieren kann?

Katja Kipping: Niemand der beteiligten ParteipolitikerInnen hatte jetzt den Auftrag, quasi schon mal die Sondierungsgespräche vorwegzunehmen. Das muss man sagen, ja. Aber, was, glaube ich, uns alle geeint hat, die wir uns da zusammen auf den Weg gemacht haben, so ein Institut zu gründen, was ja auch sehr, sehr zeitaufwendig ist, war die Idee: Also, es kann sein, dass sich irgendwann die Frage nach Rot-Rot-Grün stellt. Und dann ist es uns auch wichtig, dass die Transformationsprojekte, die uns wichtig sind, auch wirklich im Vordergrund stehen. Und ich würde immer sagen: beides. Also, ich möchte auch auf Landes- wie Bundesebene einen Cross-over-Prozess befördern, fände auch gut, wenn der am Ende in einer gemeinsamen Linksregierung mündet. Aber eine Linksregierung ist für mich jetzt kein Selbstzweck, wo ich sage, da muss man unbedingt hin, sondern man muss schon vorher ausloten: Gibt’s wirklich ein gemeinsames Programm?

Ich finde, wo das richtig gut gelungen ist, auch wenn das in der Öffentlichkeit immer am Ende anders dargestellt worden ist, das war in Hessen. Also, wenn man sich mal den Koalitionsentwurf anschaut, das hat ja in der Öffentlichkeit alles gar keine Rolle gespielt, aber es gab da ja Gespräche, sowohl zwischen SPD und Grünen als auch unter Einbeziehung der Linken. Und da hat es einen Koalitionsentwurf gegeben, der inhaltlich einfach wirklich versucht hat, unter den Möglichkeiten, die man auf Landesebene hat, die sind ja begrenzt, aber auf Landesebene wirklich die Machtverhältnisse zu verändern: Die Macht der Energiekonzerne zu beschränken und in der Bildungspolitik wirklich, sag ich mal, in kritische Köpfe zu investieren. Das fand ich schon beispielhaft und da hätte ich mir gewünscht, dass so was auch tatsächlich dann mal in einer Regierung zum Tragen kommt.

Deutschlandradio Kultur: Die Realität ist aber, dass im Moment Rot-Grün gut in den Umfragen da liegt und dass die auch gerne ohne die Linke regieren würden. Und das scheint ihnen ja auch zu gelingen. Die Linke scheint im Moment mit dem, was sie zu bieten hat, nicht so richtig gefragt zu sein.

Katja Kipping: Ja gut, wir liegen ja trotzdem bei 11 %. Und als ich zum ersten Mal stellvertretende Bundesvorsitzende geworden bin, da waren wir gerade aus dem Bundestag rausgeflogen. Wenn mir da jemand gesagt hätte, wir sind irgendwann mal auf 11 %, das wäre so unvorstellbar toll gewesen, dass ich jetzt sozusagen, wenn ich dran zurückdenke, finde, bei 11 % in Umfragen muss man jetzt auch nicht so tun, als ob man sogar, also, total bedeutungslos ist, zumal man ja schon auch feststellt, dass zumindest immer so Teile von dem, was wir politisch auf die Agenda setzen, ja auch übernommen werden von Rot-Grün. Also, es gibt natürlich auch so ein Treiben, zumindest in sozialen Fragen, von links, wo jetzt nicht immer die Autorenschaft oder die Urheberschaft angegeben wird. Aber ich habe da ja beim Copyright ein etwas liberaleres Verständnis. Also, da bestehen wir nicht drauf und haben wir auch kein Patent drauf angemeldet auf die Forderung nach Mindestlohn und Bürgerversicherung und Leiharbeit abschaffen. Also, wenn das zumindest teilweise übernommen wird von SPD und Grünen, ist das schön.

Und was ich SPD und Grünen einfach nur empfehlen kann, wenn sie Interesse wirklich an einem Politikwechsel haben, dass sie einen Cross-over-Prozess machen, der sich nicht auf die beiden Parteien reduziert, dass sie immer auch die außerparlamentarische Bewegung, die kritische Wissenschaft einbeziehen und, ich finde, auch die Linke.

Deutschlandradio Kultur: Wie wird denn das in Ihrer Partei wahrgenommen das Institut Solidarische Moderne, also die Bestrebungen, die Sie da unternehmen in Richtung Cross-over? Von Andrea Nahles, der SPD-Generalsekretärin ist der Satz überliefert: "Naja, denken ist nie verkehrt." Da ist also eine ironische Distanzierung. Erleben Sie das auch in Ihrer Partei?

Katja Kipping: Ich habe jetzt innerhalb der Linkspartei vor allen Dingen positive Rückmeldungen bekommen. Es gibt bestimmt auch den einen oder anderen Kritiker. Aber ich merke das halt jetzt bei konkreten Aufrufen. Zum Beispiel haben wir jetzt einen Aufruf, wo wir auf den Pro-Atom-Lobbyaufruf, der von den großen Energiekonzernen finanziert worden ist, reagiert haben und haben deutlich gemacht, das ist energiepolitisch der falsche Weg.

Es ist aber auch demokratietheoretisch eine Katastrophe, dass auf einmal die Konzerne die Bedingungen diktieren. Und da haben wir einen Gegenaufruf gemacht für die Abschaltung der AKWs. Und ich muss auch sagen, dass die Mitglieder im Institut Solidarische Moderne, jetzt aus der Linkspartei, die kommen nicht nur aus einer Strömung, sondern da gibt’s viele Strömungsungebundene, aber auch Leute aus unterschiedlichen Strömungen, die da mitmachen.

Deutschlandradio Kultur: Wenn wir noch mal ganz praktisch werden: Was empfehlen Sie eigentlich Ihren linken Parteifreunden in Nordrhein-Westfalen, wenn es da beispielsweise darum geht, den Haushalt in NRW zu unterzeichnen? Sollen die mitmachen, damit in Ansätzen dieses rot-rot-grüne Projekt vielleicht aufleben kann? Oder laufen wir auf Neuwahlen zu?

Katja Kipping: Was ich generell den Vertretern da von also SPD, Grünen und den Linken empfehlen würde, dass es gelingt, eine Art vertrauensvolle Zusammenarbeit zu entwickeln, die vielleicht nach folgendem Prinzip laufen könnte: Vorstellbar wäre ja, dass die Linke sehr wohl immer ihre eigenständigen Positionen mit einem Antrag reinbringt und dann überlegt, inwieweit bei zentralen Vorhaben der jetzigen Minderheitenregierung, wo man sagt, die gehen uns nicht weit genug, aber die sind zumindest ein kleiner Schritt in die richtige Richtung, dass man das Durchkommen nicht verhindert, sondern immer zumindest mit Enthaltung durchgehen lässt, und dass man dann aber auch im Gegenzug darauf drängt, dass es einige originäre linke Projekte gibt, die dann auch von Rot-Grün, von SPD und Grünen mitgetragen werden.

Ich meine, Rot-Grün stellt sich ja jetzt hin und sagt, wir sind eben keine Tolerierung, sondern eine Minderheitenregierung. Aber mal ganz ehrlich: Also, wer glaubt denn ernsthaft, dass CDU und FDP zentrale Vorhaben von Frau Kraft in NRW mittragen würden?

Deutschlandradio Kultur: Aber glauben Sie ernsthaft, muss ich dann fragen, dass Rot-Grün Ihnen so eine privilegierte Rolle zukommen lässt, wie Sie sie eben beschrieben haben als Wunschvorstellung?

Katja Kipping: Ich glaube, dass in NRW die Chance besteht, dass man eine vertrauensvolle Zusammenarbeit entwickelt. Mein Eindruck jetzt aus Gesprächen war auch, dass es da durchaus in allen drei Parteien Kräfte gibt, die das wollen. Aber eine Chance muss sich nicht immer umsetzen. Ich könnte das jetzt nicht in%en ausdrücken, aber ich glaube, die Chance besteht, aber ich kann Ihnen keinen Garantieschein darauf ausstellen.

Deutschlandradio Kultur: Frau Kipping, ganz herzlichen Dank für das Gespräch.