"Wir können uns nicht ein weiteres Ruanda leisten"

Daniel Jonah Goldhagen im Gespräch mit Britta Bürger · 13.10.2009
Der Politologe Daniel Jonah Goldhagen beklagt ein massives Versagen des internationalen Rechtssystems angesichts von Völkermorden. Wenn die UNO nicht eingreife, müsse diese umgangen werden, sagte der US-Forscher, dessen Dokumentation "Schlimmer als Krieg - Völkermord verstehen und verhindern" zu seinem gleichnamigen Buch am Sonntag in der ARD läuft.
Britta Bürger: Unter der Überschrift "Schlimmer als Krieg" hat der amerikanische Politologe Daniel Goldhagen untersucht, wie Völkermorde entstehen und wie sie zu verhindern wären. Entstanden ist ein 700 Seiten umfassendes Buch und eine 75-minütige Fernsehdokumentation, die die ARD am kommenden Sonntag zeigt. Über beides wollen wir im Folgenden sprechen. Welcome, Mr. Goldhagen! Ich grüße Sie!

Daniel Jonah Goldhagen: Thank you for having me!

Bürger: Im Titel von Buch und Film, da steht er noch, der Begriff Völkermord, doch Sie begraben ihn umgehend und ersetzen das Wort durch ein anderes, nämlich Eliminationismus. Bedeutet Völkermord mehr als Töten?

Goldhagen: Der Völkermord oder Genozid ist nur ein Mittel, mit dem politische Regimes versuchen, sich bestimmter Teile der Bevölkerung zu entledigen. Der Massenmord ist also ein Werkzeug in einer übergreifenden Politik, welche Regierungen verfolgen, wobei sie ganz unterschiedliche Mittel einsetzen. Solche Mittel können sein: massive Unterdrückung, Verhinderung der Fortpflanzung dieser unerwünschten Bevölkerungsgruppen, Einkerkerung und Zusammentreiben in Lagern, Vertreibungen und schließlich auch Massenmord. Dieser Massenmord oder Völkermord, Genozid, ist also eines der Mittel. Wir sollten uns in unseren Betrachtungen nicht auf dieses eine Mittel konzentrieren, sondern wir sollten die gesamte umfassende Politik der Beseitigung, also den Eliminationismus in den Blick fassen.

Bürger: Sie befassen sich seit über 30 Jahren mit dem Themenkomplex Völkermord, und zwar nicht nur aus der Perspektive des objektiven Wissenschaftlers, sondern immer auch aus der Sicht des Sohnes eines Holocaust-Überlebenden. Und Sie gestehen sich selbst ein im Film, dass Sie bislang versucht haben, Ihre Emotionen von der Wissenschaft zu trennen, dass das aber diesmal nicht mehr geht. Das sagen Sie, als Sie mit Ihrem Vater in der Ukraine am Massengrab seiner Familie stehen. Was haben Sie dort verstanden, Herr Goldhagen, was Sie weder in Archiven noch in Ruanda und Guatemala verstehen konnten?

Goldhagen: Mein Vater war nach einigem Widerstreben bereit, an diesen Ort zurückzukehren, wo während des Holocaust seine Verwandten getötet worden waren. Es war für mich wichtig, dies zu unternehmen, er verstand dies auch, und für mich war auch klar, etwas von dieser Leidenschaft, die mich beseelt, die teils intellektuell ist, aber zu einem Teil eben auch persönlichen Ursprungs ist, dass etwas davon klar wird, dass es für mich dadurch durchsichtiger wird. Es war ein zutiefst bewegender Moment, als wir da zurückkehrten – er übrigens zum ersten Mal zurückkehrte an dieses Massengrab, wo damals ein großer Teil seiner Verwandten getötet worden war. Und für mich galt das, als ich wirklich buchstäblich in einem Massengrab stand, damals in Guatemala, dass ich mir damals noch nicht klarmachen konnte, dass ich kurze Zeit darauf dann tatsächlich in der Ukraine auch an dem Massengrab stehen würde, wo ein großer Teil meiner damaligen Verwandten getötet worden war. Und das war für mich ein überwältigender Augenblick, als mir klar wurde, es waren nicht nur seine Verwandten, also die Verwandten meines Vaters, sondern es waren meine Verwandten, die dort zu Tode gekommen waren. In meiner gesamten Arbeit, ob das nun Geschriebenes ist oder ob es im Film zu Augen kommt, ist dies ganz wichtig. Natürlich soll die Arbeit letztlich aufgrund der Beweise, der Unterlagen oder der Zeugnisse beurteilt werden, aber mir ist es auch wichtig, wieder und wieder herauszustellen, wenn wir da von irgendwelchen Massenmorden hören oder lesen oder Beweise erforschen, von 10.000, 100.000 oder einer Million Opfern, dann gilt es zu bedenken, es geht hier nicht um diese Zahl, sondern wir müssen uns vor Augen halten, das ist ein Toter, ein Mord mal 10.000, ein Toter mal 100.000 oder ein Toter mal einer Million. Also es ist noch viel schrecklicher, als wir uns das gemeinhin vorstellen. Wir alle sind natürlich entsetzt, wenn in unserer Nachbarschaft ein Mensch getötet wird oder wenn in der Nachbarschaft eine Familie hingemetzelt wird. Das regt unser Mitgefühl. Aber wir brauchen sehr viel mehr Mitgefühl, wir brauchen alle unsere Leidenschaft, wenn wir von diesen Massenmorden hören – ob sie nun in Afrika oder sonst irgendwo geschehen. Und ich versuche eben alles dafür zu tun, dass wir dieses Mitgefühl empfinden, das uns auch dazu führt, dass wir handeln müssen, dass wir etwas tun müssen gegen diese schrecklichsten aller Untaten, die eben heute noch geschehen.

Bürger: Sie haben in diesem Kontext das Völkerrecht in seiner jetzigen Form als Bankrott bezeichnet. Sie fordern grundlegende Änderungen, zum Beispiel sollte es jedem Mitglied der internationalen Gemeinschaft erlaubt sein, einzugreifen, wenn eine Regierung versucht, Menschen zu eliminieren. Was bedeutet das, eine Erlaubnis, einzugreifen? Meinen Sie damit eine Lizenz zum Töten?

Goldhagen: Wenn ein unbefangener Betrachter sich unsere Erde anschaute, dann würde er doch sagen, etwas stimmt hier nicht auf diesem Globus. Wir haben demokratische und mächtige Staaten, die ganz gegen den Völkermord eingestellt sind. Keiner dieser Staaten möchte, dass es zu Massenmorden kommt. Und andererseits haben wir arme und schwache Staaten, in denen die politischen Führer solche eliminatorischen Maßnahmen durchführen. Wie kann dies sein? Wie kann dies durchgehen? Etwas ist hier doch im Argen. Hier muss doch ein Teil in unserem System ganz massiv versagen, wenn so etwas geschehen kann wie etwa in Darfur, wo Massenmorde stattfinden und die Vereinten Nationen und das internationale Rechtssystem im Grunde nichts dagegen tut. Hier ist Handeln dringend geboten. Und so meine ich, wenn hier eine Koalition demokratischer Staaten oder wenn auch nur ein demokratischer Staat sich entschließt, etwas zur Verhütung solcher Verbrechen zu tun, dann ist er nicht nur im Recht, dann leistet er nicht nur diesen Menschen, diesen Kindern, die da wirklich hingemetzelt werden, einen Dienst, sondern er leistet auch der gesamten Menschheit einen Dienst und muss unterstützt werden. Wenn die UNO in solchen Fällen einfach versagt, dann gilt es eben, die UNO zu umgehen. Wir können uns nicht ein weiteres Ruanda, ein weiteres Darfur und weitere und weitere Massenmorde leisten.

Bürger: "Schlimmer als Krieg. Wie Völkermord entsteht und wie er zu verhindern ist", so heißen das neue Buch und ein Fernsehfilm des amerikanischen Politologen Daniel Goldhagen. Er ist mein Gesprächspart hier im Deutschlandradio Kultur, und ich würde gerne auf diesen Film kommen, auf diese Fernsehdokumentation, die die ARD am kommenden Sonntag zeigt, Herr Goldhagen. Darin dokumentieren Sie Ihre Reisen an Schauplätze von Völkermorden, darunter Bosnien, Ruanda und Guatemala, und Sie kehren immer wieder dorthin zurück, wo der Film auch beginnt, nämlich nach Berlin. Warum Berlin und nicht eine amerikanische Stadt wie Harvard, in der Sie leben und arbeiten?

Goldhagen: Nun, ich könnte flapsig sagen, weil es der Regisseur so gewollt hat, das wäre aber keine richtige Antwort. Lassen Sie mich so sagen: Wir haben den Film in Berlin begonnen, weil der Holocaust, aber nicht nur der Holocaust, sondern all die Massenmorde, die die Nazis verübt haben, ein in Deutschland wie auch in der gesamten Welt sehr bekannter Umstand sind. So waren wir also der Meinung, dass das Holocaust-Mahnmal ein geeigneter Ort ist, er liefert sozusagen den Anknüpfungspunkt um diese umfassenden, diese massiven Massenmorde und Beseitigungsprogramme, die vom Beginn des 20. Jahrhunderts an bis zum heutigen Tage laufen, noch einmal sich vor Augen zu führen.

Bürger: Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin wird damit aber zur Kulisse, indem Sie, wie Sie’s beschrieben haben, während man Sie durch die Stelen laufen sieht, über ganz verschiedene Völkermorde sprechen hört. Und damit droht Ihnen möglicherweise eine Debatte, die Sie bereits mit Ihrem vorigen Buch führen mussten, dem Buch "Hitlers willige Vollstrecker". Das wurde von verschiedenen Seiten kritisiert, Ihnen wurde Unwissenschaftlichkeit vorgeworfen, Sie hätten, um eine größere Leserschaft zu erreichen, dramatisiert und manches zu sehr vereinfacht. Nun wählen Sie ausgerechnet das Massenmedium Fernsehen, das vereinfachen muss. Warum?

Goldhagen: Nun ja, dieses Buch hat wirklich zu einer ganz lebhaften Debatte in Deutschland geführt. Was nun die Medien angeht, die man einsetzt: Der Film ist ein außerordentlich kraftvolles und geeignetes Mittel, um Menschen aufzuklären über diese Beseitigungsprogramme, die häufig systematisch durchgeführt werden. Und ich hoffe, dass auch dieser Film in Deutschland und in anderen Ländern dazu führt, dass die Menschen wach werden, dass sie erkennen, dass Handlung notwendig ist und dass sie dann vor die Politiker hintreten und fragen: Warum tut ihr nichts gegen diese vor sich gehenden Massenmorde? Das ist also meine große Hoffnung, dass der Film diesen aufrüttelnden Effekt hat.

Bürger: Daniel Goldhagen im "Radiofeuilleton" hier im Deutschlandradio Kultur. Das Gespräch haben wir vor der Sendung aufgezeichnet, unterstützt von unserem Übersetzer Johannes Hampel. "Schlimmer als Krieg. Wie Völkermord entsteht und wie er zu verhindern ist", so heißt das neue Buch von Daniel Goldhagen, das Hainer Kober ins Deutsche übertragen hat. Erschienen ist es im Siedler-Verlag, 688 Seiten für 29,95 Euro. Und die Fernsehdokumentation mit Goldhagen zeigt die ARD am kommenden Sonntag um 23 Uhr 50.