"Wir haben genug Kontrollen"

Die schwerste Arbeit ist das Essen Reichen, sagt Siegfried Huhn.
Die schwerste Arbeit ist das Essen Reichen, sagt Siegfried Huhn. © picture alliance / dpa / Jens Kalaene
Moderation: André Hatting |
Gewalt durch Pflegepersonen ist weit verbreitet - und wird immer noch tabuisiert. Der Krankenpfleger und Gesundheitswissenschaftler Siegfried Huhn warnt allerdings davor, das Thema zu skandalisieren. Statt mehr Kontrollen brauche es ein besseres Zeitmanagement in den Einrichtungen.
André Hatting: Als meine Oma ins Pflegeheim kam, ging das Gejammer los: Die Betreuer würden sie anschreien, man wasche sie bei geöffnetem Fenster morgens in der Eiseskälte, zwinge sie zum Essen, und so weiter, und so weiter. Anfangs haben wir uns das noch mit ihrer Verweigerungshaltung erklärt – Oma wollte nicht ins Heim, deswegen ist dort natürlich alles ganz furchtbar. Bis wir eines Tages eine Pflegerin auf frischer Tat ertappt haben, wie sie nämlich meine nackte Oma vor dem offenen Fenster mehr abschrubbte als wusch.

Warum erzähle ich Ihnen das? Weil es leider kein Einzelfall ist. Gewalt durch Pflegepersonen ist weit verbreitet, meine Oma ist mit der Verkühlung noch einigermaßen gut weggekommen, da gibt es viel Schlimmeres. Und darüber kann Siegfried Huhn so einiges berichten, er arbeitet selbst als Krankenpfleger und beschäftigt sich als Gesundheitswissenschaftler mit genau diesem Thema. Herzlich willkommen bei uns im Studio!

Siegfried Huhn: Guten Morgen!

Hatting: Herr Huhn, warum ist das eigentlich immer noch so ein Tabuthema, Gewalt in der Altenpflege?

Huhn: Wahrscheinlich ist es wie in allen gesellschaftlichen Bereichen auch, es darf nicht sein, was nicht sein soll. Wir haben ja jetzt schon eine Entwicklung hinter uns, die das nicht mehr ganz so tabuisiert, zumindest in der Fachwelt nicht mehr tabuisiert. Dazu kommt sicherlich auch etwas anderes: Wenn es zu solchen Übergriffen kommt, oder wenn es zu einer Öffentlichkeit kommt, dann ist es immer skandalisiert, es wird kaum mal sachlich berichtet. Und das führt natürlich dazu, dass jeder auch versucht, es zu vertuschen, damit man nicht zum Skandalobjekt wird.

Hatting: Aber kann man etwas nicht skandalisieren, wenn man es mit einem Fall zu tun hat, ein schutzbedürftiger, pflegebedürftiger Mensch wird misshandelt – das ist doch ein Skandal.

Huhn: Natürlich ist es ein Skandal. Das Problem ist nur, wenn es auf dieser Ebene bleibt oder wenn es nur in Richtung Schuldzuweisung geht. Also grundsätzlich, ohne das schönreden zu wollen, bin ich schon der Überzeugung, dass vieles Alltag ist, aber das, was so skandalisiert wird, ist nicht unbedingt der Alltag. Also ich würde mir wünschen, dass das eine Sachebene bekommt, und dass alle Beteiligten einbezogen werden. Also meine Kritik auch an der Skandalisierung, an der Veröffentlichung ist zum Beispiel, dass wir über so etwas reden, aber die Berufsgruppe, die es betrifft, nie dabei ist. Ich habe das recherchiert nochmal, ich erinnere mich nicht einmal, dass Plasberg jemanden aus der Pflege hatte. Da werden sogenannte Pflege- …

Hatting: Also der Moderator von "Hart aber fair".

Huhn: Ja, genau, da werden sogenannte Pflegefachleute, oder wie der die dann nennt, vorgestellt, aber die haben überhaupt nichts mit Pflege zu tun.

Hatting: Das machen wir jetzt anders. Sie sind nämlich auch Krankenpfleger, sprechen wir mal über Ihren Alltag. Sie haben gerade das Wort Alltag angesprochen – wenn wir uns das mal anschauen, haben Sie selber sich schon mal dabei ertappt, dass Ihnen Frau Meier oder Herr Schulze so dermaßen auf die Nerven gefallen ist, dass Sie sich nur sehr schwer zusammenreißen konnten? Gibt es so was?

Huhn: Natürlich! Jeder, der das leugnet, der hat es entweder nicht reflektiert, oder er traut sich nicht, das zu sagen. Wo Menschen zusammenkommen, ist das natürlich der Fall. Das macht einen Teil des Problems aus, also im Unterschied zur Kassiererin, die ja auch eine Dienstleistung macht, hat der Pfleger oder die Pflegerin von vornherein den Anspruch zu helfen und Gutes zu tun, und da erwartet jeder, dass die also übermenschliche Fähigkeiten hat.

Aber selbstverständlich hat jeder solche Situationen erlebt. Eine der vielleicht wichtigsten Nachkriegskrankenschwestern Europas hat mir mal gesagt: Die schwerste Arbeit ist das Essen Reichen. Wenn man sich das ganz nüchtern vorstellt, Sie reichen Essen, haben noch zehn andere Leute, die Essen gereicht bekommen, der Mensch braucht ohnehin viel länger, als wenn er selber isst, und dann vielleicht auch noch mit einer Verweigerungshaltung, wer da nicht nervös wird, der hat übermenschliche Fähigkeiten.

Hatting: Und was machen Sie persönlich, bevor Sie sich vergessen, was machen Sie, um sich da noch kontrollieren zu können?

Huhn: Es ist grundsätzlich so, dass ich mir sage, ich habe eine bestimmte Anzahl Zeit, die fülle ich jetzt so sinnvoll, wie das geht. Ich gucke dann nach Fachlichkeit: Bei dem Beispiel Essen Anreichen würde ich zum Beispiel darauf achten, wie halte ich für die nachfolgenden Personen das Essen warm? Oder ich organisiere das von vornherein so, das nimmt mir ja dieses Risiko, zu schnell nervös zu werden.

Hatting: Also Zeitmanagement ist wichtig?

Huhn: Zeitmanagement, Organisation ist wichtig, Selbstpflege ist ganz wichtig, Selbstreflexion – was brauche ich, um aufzutanken –, solche Sachen. Aber sicherlich ist auch ein Stück weit wichtig, realistisch zu gucken, welchen Druck habe ich wirklich, oder mache ich mir den selber?

Hatting: Wir haben das schon vorhin kurz angedeutet, es gibt eigentlich nicht so richtig Fallzahlen. Es gibt zwar Literatur darüber, das haben Sie erwähnt, aber man weiß eigentlich relativ wenig darüber, wie viele Menschen wirklich von dieser Gewalt betroffen sind. Woran liegt das?

Huhn: Vieles von dem, was Sie jetzt über Ihre Großmutter geschildert haben, ist vielleicht im Alltag überhaupt nicht wahrgenommen. Wir haben bestimmte Fälle, also zum Beispiel massive Schädigung, körperliche Schädigung, da hat man einen Endpunkt, von dem man ausgehen kann. Der führt häufig in weitere Behandlungsstränge oder vielleicht auch in gerichtliche Auseinandersetzungen. Aber das, was Sie schildern über Ihre Großmutter, ist ja nicht so ganz klar, das liegt nicht so direkt auf der Hand. Das heißt, es wird also kaum jemand hingehen und das öffentlich machen, und erst recht nicht zählen.

Hatting: Wäre da so etwas wie eine Meldepflicht, wie sie einige Bundesländer eingeführt haben, andere einführen wollen, hilfreich?

Huhn: Na ja, das kommt ja drauf an: Wer meldet? Wie meldet man? Das wäre ja eine Art – wenn das in einer Einrichtung passiert – von Selbstanzeige. Und wenn das passiert, was Sie von Ihrer Großmutter schildern, dann würde man sicherlich als Einrichtung gut daran tun, zu gucken, wie kriege ich solche Situationen grundsätzlich entschärft, was muss ich da auch an Bildungsmanagement anbieten und so etwas. Das wäre aus meiner Sicht erst mal zielführender als eine Anzeige.

Hatting: Und mehr Kontrolle? Also es ist ja so, dass die Länder jetzt Gelder aufstocken wollen für die Heimaufsichten und die staatliche Kontrolle. Bringt mehr Kontrolle mehr Schutz, auch für die Pflegebedürftigen?

Huhn: Das glaube ich nicht – das sage ich jetzt einfach mal so, in der Hoffnung, dass ich nicht gehauen werde, aber wissen Sie…

Hatting: Also von mir nicht!

Huhn: … wir haben ja Kontrollinstanzen, das hängt davon ab, welche Personen kontrollieren, das hängt davon ab, was im Einzelnen kontrolliert wird. Wir haben den MDK, der mindestens einmal jährlich kommen muss, der kann das gar nicht erheben.

Hatting: Was ist der MDK?

Huhn: Der Medizinische Dienst der Krankenkassen. Die machen Qualitätskontrollen, aber so etwas, was Sie von Ihrer Großmutter schildern, würde in einer solchen Kontrolle gar nicht auftauchen, dann müsste man das völlig anders anlegen. Ich glaube nicht, dass wir mehr Kontrolle brauchen, weil alles, was wir bisher an mehr Kontrolle haben, sicherlich gar nicht zielführend war. Wir haben auch genug Kontrollen. Man macht schnell mal wieder ein neues Gesetz für die Pflege, das ist alles eher Pillepalle und dummes Zeug.

Hatting: Nicht nur in Pflegeheimen kommt es immer wieder zu Misshandlungen, auch in Behinderteneinrichtungen zum Beispiel, und sogar, wenn sich die Verwandten selbst um ihre Angehörigen kümmern – das kann man sich eigentlich kaum vorstellen. Wie kann so was passieren?

Huhn: Doch, es ist leicht vorstellbar, wenn wir angucken, immer da, wo ein Gefälle auftaucht. Wir haben den Hilfebedürftigen, den, der die Hilfe geben kann, das ist in sozialen Berufen so, das ist bei familiärer Hilfe so, da gibt es ein Gefälle, und dieses Gefälle führt immer auch in bestimmte Machtstränge. Und das kann natürlich in Stresssituationen dekompensieren. Und von daher ist das verständlich, wir kennen die Biografien der Familien nicht, wer weiß, was die alles schon geschultert haben, und jetzt bricht das vielleicht aus.

Hatting: Und wie können sich beide Seiten davor schützen?

Huhn: Es gibt ja schon ganz gute Angebote, Pflegeauszeit zum Beispiel, dass ich also meine Verwandten in die Obhut einer Einrichtung geben kann, mal Urlaub machen kann, so etwas, das ist ja schon ein sehr guter Ansatz. Ich denke, es ist immer noch ein bisschen auch ein Makel, Hilfe zu holen.

Hatting: Der Gesundheitswissenschaftler Siegfried Huhn zu Gast im Deutschlandradio Kultur. Ich habe mit ihm über Gewalt durch Pflegepersonen gesprochen. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Huhn!

Huhn: Prima, Danke auch!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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