"Wir haben die Natur übernutzt"

Klaus Töpfer im Gespräch mit Ulrike Timm · 09.12.2008
Der ehemalige Direktor des UN-Umweltprogramms, Klaus Töpfer, hat gefordert, Ländern wie Brasilien oder Kongo einen Ausgleich zu zahlen, wenn sie auf Regenwaldabholzung verzichten und so die Artenvielfalt erhalten. Die in den Wäldern angelegte Genvielfalt und ihre Rolle als "Stabilisatoren unseres Klimas" stelle einen Wert für die ganze Welt dar. Vielfalt zu erhalten sei eine "absolut verpflichtende Aufgabe für den Menschen".
Ulrike Timm: Dass der Klimawandel eine Bedrohung für uns alle ist, das haben die meisten Menschen inzwischen kapiert. Dass im Zuge der globalen Klimaveränderungen die Artenvielfalt in der Natur immer weiter schwindet und dass das ebenso besorgniserregend ist, das steht weniger im Blickpunkt. Wenn die Smaragdeidechse sich in den Weinbergen nicht mehr sehen lässt, ist das schade. Wenn die Abholzung der Regenwälder dazu führt, dass Hunderte von Tieren und Pflanzen ihren Lebensraum verlieren, klingt das schon bedrohlicher. Aber schert uns das wirklich? Sollte es aber dringend, meint der ehemalige Bundesumweltminister und langjähriger Leiter des UNO-Umweltprogramms Klaus Töpfer, der jetzt bei mir im Studio ist. Schönen guten Tag!

Klaus Töpfer: Einen schönen guten Tag!

Timm: Herr Töpfer, warum ist der Schutz der Artenvielfalt in Ihren Augen kein nachgeordnetes Thema, sondern genauso wichtig wie der Klimaschutz selbst?

Töpfer: Zunächst einmal, ich glaube, es ist eine der Grundverantwortlichkeiten, die wir haben, Vielfalt, die uns die Natur, die uns Schöpfung gegeben hat, zu erhalten, nicht nur zu fragen, ob sie nützlich ist. Dies ist ja auch eine sehr vordergründige Frage. Vieles erweist sich später einmal als nützlich, von dem wir vorher geglaubt haben, es wäre zu nichts nutze. Der auch nicht nur wirtschaftlich bedingte Verantwortungsgrad ist die erste Antwort.

Das Zweite, wir sehen natürlich, dass intakte Natur, dass Vielfalt von Tier und Pflanzen weitreichende positive Wirkung für den Menschen haben. Sie erhalten uns die Genvielfalt, die in Natur angelegt ist. Sie erhalten uns die Aufnahmefähigkeit der Böden für Wasser. Sie erhalten uns die Grundlage für Energien und für Rohstoffe, etwa in der Nutzung solcher Bereiche wie Holz und Wasser. Es ist ein direkter Nutzen für den Menschen und es ist zweitens eine absolut verpflichtende Aufgabe für den Menschen, Vielfalt zu erhalten, auch dann, wenn Natur sich noch nicht in Wert setzen lässt.

Timm: Inwieweit hat das denn auch Konsequenzen für unsere Lebensweise, für die kulturelle Vielfalt auf der Erde, wenn die Artenvielfalt immer weiter abnimmt? Gibt es da Beispiele?

Töpfer: Wir haben eine schöne Untersuchung gemacht bei den Vereinten Nationen, indem wir gesagt haben, wie ist denn das Verhältnis zwischen Artenvielfalt und kultureller Vielfalt. Wir haben als Indikator für die kulturelle Vielfalt die Sprachen genommen. Wir haben in der Welt, was ich gar nicht wusste damals, weit über 6000 unterschiedlichen Sprachen. Und wenn man das macht, dann sehen Sie, dass sehr viele Sprachen schon auf der roten Liste der gefährdeten Sprachen sind, nicht mehr gesprochen werden. Und wenn Sie sehen, wo das ist, dann sehen Sie genau das wieder, was Sie auf der roten Liste der gefährdeten Arten wiederfinden.

Das heißt, der Mensch hat natürlich auch die Natur mitgeprägt. Die Smaragdeidechse, die Sie gerade genannt haben, ist eben angepasst an diese ganz spezifischen Lebensräume, in diesem Fall in einem Steilhang eines Weinberges. Die Würfelnatter in der Lahn ist darauf angewiesen, dass bestimmte Naturbedingungen gegeben sind. Das heißt, wir haben an vielen, vielen Stellen den Beleg genau dafür, dass diese Verbindung zwischen kultureller und Artenvielfalt sehr eng ist.

Timm: Der frühere UN-Generalsekretär Kofi Annan, der sagte einmal, die Missachtung der Vielfalt der Natur stellt das friedliche Zusammenleben der Menschen infrage. Gehen Sie genauso weit?

Töpfer: Ja, ich glaube, ganz sicher ist das richtig! Wir sehen es bei einem einfachen Beispiel, etwa wie einem Feuchtgebiet. Viele glauben, das wäre nur in der Bedeutung, dass dort bestimmte Tier- und Pflanzenarten an diese Feuchtgebietsbedingungen angepasst sind, viel weiter reicht aber die Bedeutung, weil wir wissen, dass das die Wassertürme unter der Erde sind, dass da das gebunden wird, was der Mensch dringlich braucht und in der Zukunft immer mehr Menschen es brauchen. Wir brauchen Wasser. Das heißt, wenn wir das erhalten, sichern wir auch so etwas wie die Leistung der Natur mit Wasser, und das ist ganz ohne jeden Zweifel eine friedensorientierte Maßnahme. Wo wir Klima zerstören, zerstören wir auch die Grundlage für friedliches Zusammenleben von Menschen.

Timm: Sie selbst haben lange Jahre in Afrika gelebt, ein ganz unfriedlicher Kontinent. Haben Sie dort etwas gelernt in Sachen Konsumverhalten, in Sachen Natur, dass wir übernehmen könnten oder sollten?

Töpfer: Aber ganz sicherlich hat man sehr vieles gelernt. Wenn man erst mal hingegangen ist nach vielen Jahren als Bundesminister in Deutschland, hatte man gänzlich andere Augen für das, was wir Umweltpolitik nennen. Dann kommen Sie nach Afrika, kommen nach Nairobi mit dem größten Slum dieser Welt, mit Kibera, wo unendliche menschliche Armut herrscht, da sehen Sie auf einmal, wie wichtig für die Menschen Natur ist, wie sie in Natur leben, wir brauchen ihnen das gar nicht klarzumachen. Wir müssen das nur aufgreifen.

Sie leben sehr viel stärker im Bewusstsein der Natur. Sie haben alle die Erkenntnis, dass über den Konsum hinaus andere Beziehungen ganz wichtig sind, etwa das Zusammenleben in Familien, die Stabilisierung zwischen den Generationen. Alles das vermisst man. Und letztens, gehen Sie mit mir einmal in einen Sonntagsgottesdienst in Nairobi und dann sehen Sie auf einmal eine unglaubliche Begeisterung für solche Werte, die bei uns eher etwas in den Hintergrund getreten sind. Nein, man hat natürlich in Nairobi extrem viel gelernt über Natur, über Kultur, über die Werte, Verhalten von Menschen.

Timm: Wir diskutieren in der Zeit über Konsumgutscheine. Das ist wieder das Denken der Wegwerfgesellschaft, oder?

Töpfer: Ja, genau das. Ich habe das ja auch mit aller Deutlichkeit gesagt. Es ist ja beeindruckend. Man fragt ja gar nicht mehr, welchen Konsum braucht wer, sondern muss konsumieren. Es ist ja fast so etwas wie eine Bürgerpflicht zum Konsum. Als ich aufwuchs, war es noch ein sehr beherzigter Grundsatz, spare in der Zeit, dann hast du in der Not. Das heißt, Sparen war das Positive. Heute wird man mit Angstsparen konfrontiert.

Natürlich brauchen viele Menschen bei uns auch in der Bundesrepublik Deutschland Möglichkeiten, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen, dort Chancen zu schaffen für diejenigen, die noch wirklich dringlich etwas brauchen für ihre Kinder, für sich selbst in der Ernäherung, in der Bekleidung, in der Ausstattung ihrer Wohnungen. Das ist sicherlich richtig und das nebenbei verändert auch die Grundlage einer nachhaltigen Entwicklung. Das ist nicht nur ökologisch, sondern auch sozial notwendig.

Timm: Herr Töpfer, die Natur ist der Reichtum der armen Länder. Die sagen aber jetzt auch häufig zu recht, wir sind jetzt mal dran. Brasilien etwa holzt seine Regenwälder ja nicht aus Jux und Tollerei ab, sondern aus wirtschaftlichem Interesse. Wie könnte denn eine Globalisierung aussehen, die hier einen Ausgleich schafft?

Töpfer: Das ist genau diese Umkehrung. Sehen Sie, bisher ist der Wald für Brasilien oder für den Kongo nur wert, wenn er als Holzstamm genutzt und exportiert wird. Wir müssen die anderen Leistungen von Wälder in Wert setzen. Die Wälder haben eine unglaubliche Bedeutung für die Aufnahme von Kohlendioxid, sind Stabilisatoren unseres Klimas. Das werden sie aber gegenwärtig nach wie vor kostenlos machen. Wir müssen dies in Wert setzen, wir müssen uns klar sein, dass die Länder auch verlangen, dass wir etwa für die Artenvielfalt, die daran angelegte Genvielfalt Werte schaffen für die ganze Welt und deswegen es notwendig wird, auch hier Ausgleichsmechanismen zu haben, dass wir uns darüber klar sind, dass ein Kaffee, ein Wildkaffee, der aus dem intakten Regenwald kommt oder aus intakter Natur kommt, dass der eben teuer sein muss.

Solange wir nur hingehen und sagen, Geiz ist geil, werden wir genau diese In-Wert-Setzung von bisher über den Markt nicht geregelten Größen nicht hinbekommen. Und dann dürfen wir uns nicht wundern, wenn das nicht so erhalten wird, wie wir es wollen.

Timm: Nun gelten Sie als hemmungsloser Optimist in diesen Dingen. Wir haben aber jetzt eine Finanzkrise, die die Umweltpolitik wieder an den Rand drängt und die Artenvielfalt als weiches Thema wahrscheinlich noch mehr. Nehmen Sie trotzdem Zuversicht mit oder ist das reiner Zweckoptimismus, den Sie da haben?

Töpfer: Na, Zweckoptimismus ist das Schlechteste, was man machen kann, ist noch schlechter als Pessimismus. Ich glaube aber nicht, dass Pessimismus alleine Probleme bewältigt, wenn man sagt, na ja, kannst eh nichts machen, dann geht alles so weiter. Nein, ich glaube, wir müssen Hand anlegen. Wir müssen uns äußern. Ich bin froh, dass wir hier darüber sprechen, dass die Menschen sich im Klaren darüber werden. Es geht nicht, dass wir die Wirtschaft sanieren, aber hinterher den Planeten ruiniert haben. Das ist nicht verantwortlich. Wir reden davon, wir dürfen uns nicht verschulden, weil kommende Generationen das zurückzahlen müssen. Wir haben uns in der Natur schon viel mehr verschuldet.

Es geht hier nicht um blindwürdigen Optimismus, es geht um die Notwendigkeit, Fakten aufzuzeigen. Es geht darum auch klarzumachen, dass dies nicht gegen Stabilität auch unseres wirtschaftlichen Verfahrens sind. Wer heute nicht weiß, dass die Leistungen der Natur sehr begrenzt sind, der wird von ihr massiv dahin geführt, das zu sehen. Wir sehen es im Wasserbereich, wir sehen es bei den Böden, wir sehen es in der Atmosphäre und im Klima. Wir haben Natur übernutzt und gefährden damit unsere wirtschaftliche Stabilität. Das ist nicht ein Gegensatz, Wirtschaften ist heute angewandte Ökologie.

Timm: Der Schutz der Artenvielfalt auf der Welt, das ist eine Überlebensaufgabe, ökologisch, kulturell und auch wirtschaftlich, mein Klaus Töpfer, langjähriger Leiter des UNO-Umweltprogramms und Mitglied im Rat für nachhaltige Entwicklung. Vielen herzlichen Dank!