"Wir haben das Prinzip der Einheitsgewerkschaft aufgelöst"

Moderation: Ernst Rommeney und Norbert Wassmund · 19.08.2006
Mit dem Tarifabschluss für die Ärzte ist nach Meinung von Frank Ulrich Montgomery, Chef der Ärztegewerkschaft Marburger Bund, sozialpolitisch etwas erreicht worden, was in der Bundesrepublik noch weite Wellen schlagen werde. Erstmals könne eine Berufsgruppe, die an den Schlüsselstellen in der Medizin sitze, mit ihrer Gewerkschaft ihre Belange in die eigenen Hände nehmen.
Deutschlandradio Kultur: Sie sind Radiologe und seit März im Tarifstreit mit kommunalen und Landesarbeitgebern. Sie sind Oberarzt am Universitätskrankenhaus Hamburg-Eppendorf und zugleich Vorsitzender des Marburger Bundes, und das schon seit 1989. Ist dieser Job noch ehrenamtlich zu machen?

Montgomery: Nein, nicht voll ehrenamtlich. Nur es ist für mich wichtig, nicht so ein Vollfunktionär zu werden, der nicht mehr weiß, wie die Arbeit an der Basis schmeckt. Deswegen habe ich immer versucht, mit der halben Arbeitszeit noch zu arbeiten. Aber im Moment herrschen chaotische Zustände für mich durch diese Tarifkonflikte. Deswegen bin ich im Moment für zwei Monate völlig aus der Klinik ausgeblendet.

Deutschlandradio Kultur: Aber Sie wollen wieder Präsident der Ärztekammer Hamburgs werden. Sind Sie doch ein Multifunktionär?

Montgomery: Ja. Das Multitasking gehört nun einmal heute zu den Dingen, die man können muss. Aber man darf nicht vergessen, die Tätigkeit im Marburger Bund, die Tätigkeit in der Klinik und die Tätigkeit in der Kammer verschränken sich ineinander. Ich finde es gerade so toll, dass man die Möglichkeit hat – als jemand, der noch an der Basis arbeitet – gleichwohl Standespolitik und Gewerkschaftspolitik zu betreiben. Das schafft a) ein hohes Maß an Legitimität und b) auch ein hohes Maß an Identität. Man weiß wirklich noch, wovon man redet.

Deutschlandradio Kultur: Aber diese Kampfesbereitschaft, die Sie an den Tag gelegt haben, dieses Durchsetzungsvermögen geht doch eigentlich nur, wenn man einen sehr gesunden Ehrgeiz hat, oder?

Montgomery: Also, Durchsetzungsvermögen und Kampfbereitschaft sind nur zum Teil von Ehrgeiz gesteuert. Natürlich wäre es völlig vermessen zu behaupten, ich hätte keinen Ehrgeiz und auch, um die Frage vorweg zu nehmen, ich sei nicht eitel. Das ist man. Das braucht man als Antrieb. Aber es gibt etwas anderes, was – glaube ich – die Triebfeder ist. Ich habe mich immer gegen Ungerechtigkeiten gewehrt. Das durchzieht meine ganze politische Tätigkeit. Ich konnte fuchsig werden, wenn jemand anderem oder auch mir Unrechtes widerfuhr, und dagegen wehre ich mich. Das tue ich in der Medizin, das tue ich in der Gewerkschaftspolitik und das tue ich in der Kammer.

Deutschlandradio Kultur: Können Sie sich das leisten, weil ein Radiologe eben nicht im Operationssaal steht, also nicht der behandelnde Arzt im engeren Sinn ist?

Montgomery: Ja. Das ist genau der Punkt. Ich habe mir ein Fach ausgewählt, was a) eine hohe Ästhetik hat, also die Ästhetik von Bildern ist etwas Wunderschönes, aber b) sage ich immer flapsig, man kann eine Röntgenröhre um 17 Uhr ausstellen und am nächsten Tag weitermachen. Und meinen Bildern ist es egal, ob ich einen Kittel anhabe oder nicht.

Deutschlandradio Kultur: Herr Montgomery, die am Donnerstag erzielte Einigung zwischen den kommunalen Arbeitgebern und dem Marburger Bund, als Vertretung von Ärzten im Beamten- oder Angestelltenverhältnis, bringt ja erstmals einen eigenen Tarifvertrag für die rund 70.000 Ärzte z.B. an den städtischen Kliniken. Es war ein ziemlich langer Weg – elf Monate Tarifstreit, zum Schluss fast acht Wochen punktuelle Streiks, dann nach einem 30-Stunden-Verhandlungsmaraton ins Ziel. Hat sich dieser Arbeitskampf und zuvor der für die Uni-Ärzte für Ihre Organisation, also den Marburger Bund, die einzige tariffähige Ärztegewerkschaft, und für Sie persönlich gelohnt?

Montgomery: Also, für mich persönlich, das weiß ich noch nicht. Das muss man noch mal sehen. Ich weiß auch gar nicht, wo der Benefit für mich persönlich da sein sollte. Aber für den Marburger Bund hat es sich uneingeschränkt gelohnt aus zwei völlig unterschiedlichen Gründen, zum einen haben wir tarifpolitisch den Trend, dass man Ärzten immer mehr Arbeit für immer weniger Geld abpressen kann, umgekehrt. Das wird jetzt mal wieder besser, das finde ich sehr anständig, nach fast 20 Jahren eines sehr negativen Trends in den Kliniken. Aber sozialpolitisch haben wir etwas ganz anderes erreicht, was in der Bundesrepublik noch weite Wellen schlagen wird. Wir haben nämlich das Prinzip der Einheitsgewerkschaft aufgelöst. Zum ersten Mal ist es gelungen, in einem weiten Feld, wo immer nur eine Gewerkschaft das alleinige Sagen hatte, zu sagen, dass eine besonders spezialisierte, an Schlüsselstellungen dieser "Industrie" – in Tüddelchen – sitzende Berufsgruppe mit ihrer eigenen Gewerkschaft ihre Belange selber in die eigenen Hände nimmt. Das ist in der Tat ein Meilenstein in der Gewerkschaftsgeschichte.

Deutschlandradio Kultur: Dennoch sagen Kritiker, so weit entfernt sind Ihre Abschlüsse nicht vom ver.di-Abschluss.

Montgomery: Das ist richtig, weil ver.di ja brav alles nachmacht, was wir sagen. Also, bei den Ländern hat man es ganz klar gesehen. Der Abschluss, den ver.di hinterher gemacht hat, der ist von uns ausgehandelt worden, der passte ja auch gar nicht in die Struktur des TVL mit rein. Der liegt deshalb als Anlage 5 diesem Vertrag an. Aber das macht doch gar nichts. Ich habe ja gar keine Konkurrenz mit ver.di zu befürchten, weil die organisieren praktisch keine Ärzte mehr. Und wenn sie mal endlich den Anspruch aufgeben würden, für die auch Verträge zu machen, dann wäre viel mehr Frieden und viel mehr Freude in diesem Lande.

Deutschlandradio Kultur: Zweite Kritik: Die Westärzte haben sich auf Kosten der Ostärzte durchgesetzt in den Tarifverträgen. Ist das so richtig?

Montgomery: Das ist in der Tat ein großer Mangel des Vertrags bei den Universitätskliniken. Das ist aber das Problem von Kompromissbildungen in Tarifverträgen. Ich war persönlich entsetzt über das Verhalten der ostdeutschen Finanzminister. Ich will namentlich Herrn Metz, den Minister aus Sachsen, nennen, der sich also wirklich in schlimmster Art und Weise gegen seine eigenen Landsleute im Osten ausgesprochen hat und dafür gesorgt hat, dass sogar die Schere zwischen Ost und West weiter aufgegangen ist. Aber wir haben draus gelernt. Jetzt bei den kommunalen Arbeitgebern ist das nicht passiert. Und ich kann hier auch laut sagen, ich hätte nie einen Vertrag unterschrieben, bei dem wir solche Sauereien noch mal begehen. Das war für mich eine Conditio sine qua non, dass der Osten nicht schlechter gestellt wird als der Westen.

Deutschlandradio Kultur: Aber die ostdeutschen Krankenhäuser scheinen doch auszusteigen, einzelne jedenfalls, wie sie angekündigt haben.

Montgomery: Das können Sie nie verhindern, dass Krankenhäuser aus einem Tarifwerk aussteigen. Sie können nur Tarifwerke für sich dazu bekennende Organisationen machen. Wenn die aussteigen, dann ist das schlimm. Dann werden sie aber Haustarifverträge und Übergangstarifverträge brauchen. Auch dort werden wir dafür Sorge tragen müssen, dass endlich die gleichen Lebensbedingungen in beiden Teilen realisiert werden und auch finanziert werden.

Deutschlandradio Kultur: Wie wird denn die Anpassung der Ostärzte an Westärzte nach Ihren Vorstellungen aussehen?

Montgomery: Nun, wir haben fest vereinbart, dass wir das bis zum Jahr 2010 erreicht haben. Wir sind jetzt ja bei 95,5 % im gegenwärtigen Niveau. Und wir werden mit 1,5 % pro Jahr die Schere schließen, zusätzlich zu den sonst vereinbarten Gehaltsanhebungen.

Deutschlandradio Kultur: Noch mal zurück zu den Gewerkschaftsorganisationen: Das Prinzip "ein Betrieb, ein Tarif" ist ja aufgegeben worden. Wie sieht das eigentlich aus, wenn mehrere Gewerkschaften verhandeln und Abschlüsse machen? Welcher Tarifvertrag gilt dann? Wie wird so was geregelt?

Montgomery: Also, im Kern ist es eigentlich nicht vernünftig, wenn mehrere Gewerkschaften für dieselben Berufsgruppen Verträge abschließen. Deswegen habe ich ver.di auch immer den Frieden angeboten und gesagt, haltet ihr euch bei den Ärzten raus, dann kümmern wir uns auch nicht um andere Berufsgruppen im Krankenhaus. Da wird man mal sehen, ob sich da noch die Vernunft durchsetzt. Da bin ich noch nicht am Ende der Diskussion mit Frank Bsirske und der Organisation ver.di. Aber ansonsten profitiert immer nur der Arbeitgeber von dem Streit. Das muss man ganz klar sagen, das ist so. Und wir werden in Zukunft mal schauen, welcher Tarifvertrag denn gilt. Ich bin der festen Überzeugung, wenn einer das juristisch hinterfragen würde, wird unser Tarifvertrag gelten. Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts wandelt sich zu unseren Gunsten in diesem Punkt. Interessant ist übrigens, dass Teil des Tarifvertrags mit den Kommunen ist, dass wir unsere Klage, das endlich gerichtlich feststellen lassen zu wollen, zurücknehmen müssen. Das heißt, damit geben die Arbeitgeber ja zu, dass sie davon ausgehen, dass unser Tarifvertrag der speziellere und deswegen der bessere ist.

Deutschlandradio Kultur: Was sind denn die nächsten Ziele? Die Kirchen, die Privaten und dann die Gesundheitsgewerkschaft?

Montgomery: Also, wir müssen jetzt erst mal ein bisschen Luft holen, weil ich glaube, die Bevölkerung in Deutschland hat langsam auch ein bisschen die Faxen dicke vom Streik. Das ist auch absolut verständlich. Aber Sie beschreiben die Lage völlig richtig. Die Gewerkschaften werden nicht dauerhaft akzeptieren können, dass die Kirchen sich hinter dem Reichskonkordat von 1935 verstecken und sagen, wir dürfen, weil es dieses uralte Vertragswerk gibt, dort keine typischen tariflichen Auseinandersetzungen mit denen führen. Auch in den kirchlichen Krankenhäusern gibt es zu viel Arbeit, gibt es zu schlechte Bezahlung. Aber vielleicht haben die Herren Bischöfe und Prälaten ja gelernt aus den Auseinandersetzungen bei den Universitätskliniken und den kommunalen Krankenhäusern und gehen mit uns in ganz schnellen zügigen Verhandlungen auf ein Ergebnis zu.

Deutschlandradio Kultur: Wie ist denn die Stimmung in den Krankenhäusern. Es wird ja gesagt, Sie hätten durch Ihren ärztetypischen Tarifvertrag und auch durch den ganzen Tarifstreit das Verhältnis zu den Pflegekräften vernachlässigt. Da sei viel zu Bruch gegangen, auch durch eine gewisse Arroganz.

Montgomery: Das kann ich da, wo ich arbeite, aus meinen persönlichen Erfahrungen nicht nachvollziehen. Das ist eine Stimmungsmache, die ist von ver.di und den Arbeitgebern betrieben worden. Mit Sicherheit ist es so, dass ver.di-Funktionäre angesichts der besseren Verhandlungsergebnisse das streuen. Aber ich sage mal: Da, wo ich arbeite, innerhalb des Teams – und wir sind im Krankenhaus ein Team, das Ganze funktioniert nicht ohne die Zusammenarbeit – habe ich keine Friktionen bemerkt. Aber das kann auch an meinem Naturell liegen, aber ich glaube, das ist eine Kunstdebatte. Die wird ganz schnell wieder vorbei sein.

Deutschlandradio Kultur: Aber der Vergleich mit dem Kulissenschieber war doch schon ein bisschen hart gegenüber den Krankenschwestern beispielsweise.

Montgomery: Warum? Ich bin fanatischer Theatergänger. Ich liebe das deutsche Theater. Und eine Bühnenaufführung kann ich mir ohne einen vernünftigen Bühnenarbeiter gar nicht vorstellen. Trotzdem würde niemand – das ist doch der Sinn des Vergleiches – das Gehalt des Schauspielers in einer Relation, in einem Abstand zum Gehalt des Bühnenarbeiters definieren. Aber wir sollen die Gehälter der Ärzte in einem Proportionalfaktor zu den Gehältern der Krankenschwestern definieren. Ich liebe die Krankenschwestern als Partnerinnen im Team in der Arbeit. Die machen eine tolle Arbeit. Die verdienen auch, dass sie toll bezahlt werden. Aber deren Gehalt hat mit meinem Gehalt nichts zu tun.

Deutschlandradio Kultur: Herr Montgomery, Sie haben ja zweifellos für Ihre Klientel viel erreicht. Kritiker sagen, das ist ein sehr hoher Preis für die Kliniken. Wir haben es eben schon angesprochen. Einige müssen nun um ihre Existenz bangen. Verschärfte Sparmaßnahmen gleich Abbau medizinischer und pflegerischer Qualität, wie vielfach befürchtet wird?

Montgomery: Ich glaube das nicht und ich hätte Lust, mich in drei Monaten wieder mit Ihnen zu treffen und mal Resümee zu ziehen. Dann werden Sie sehen, das ist alles nicht passiert. Die Krankenhäuser zahlen heute noch den Bundesangestellten Tarifvertrag bei etwa 92, 93 % der Belegschaft, einfach weil der noch nachwirkt. Die Differenz, die wir gegenüber dem BAT erzielt haben, liegt irgendwo im Drei- oder Vierprozentbereich, wenn man realistisch rechnet. Das, was die Arbeitgeber da hochrechnen, dass wir zehn bis 13 % mehr bekommen hätten, ist ja ein Witz. Da müsste ich ja eigentlich dafür dankbar sein, dass ein Arbeitgeber seine totale Niederlage so eingesteht, aber es ist ja in der Realität nicht so. Also, diese ganzen Verarmungslitaneien der Arbeitgeber werden bald aufhören, wenn sie sich wieder der konkreten Arbeit widmen. Und wenn Krankenhäuser geschlossen werden, und das wird dazu kommen, davon bin ich auch überzeugt, dann liegt das mehr an den gesundheitspolitischen Finanzierungsbedingungen, an dem schlechten Management der Krankenhäuser – das muss uns ja auch zu Denken geben, dass viele Krankenhäuser, wenn sie privatisiert werden, plötzlich profitabel werden, während sie das vorher in kommunaler Trägerschaft nicht waren – und hat nichts mit unserem Tarifabschluss zu tun.

Deutschlandradio Kultur: Aber eigentlich war ja der Kern des Streits die Bereitschaftsdienste. Sie haben vor dem Europäischen Gerichtshof erreicht, dass Bereitschaftsdienste als volle Arbeitszeit anerkannt werden. Danach ist es ja an den Krankenhäusern, sich neu zu organisieren. Das haben Sie jetzt in den Tarifverträgen, wenn ich es richtig verstanden habe, in Arbeitsbedingungen umgewandelt. Gibt es zu dieser Organisationsarbeit eigentlich schon Beispiele, dass man neue Schichtpläne hat, dass man das auch wirklich umsetzen kann?

Montgomery: Ja, die Frage ist hochinteressant, weil die neuen Arbeitsbedingungen – auch gegen die Meldung der deutschen Krankenhausgesellschaft - schon längst vor den Tarifverhandlungen an 900 Kliniken bundesweit ganz unter der Hand gegolten haben. An meiner eigenen Klinik in Eppendorf hat man im Grunde den Bereitschaftsdienst weitgehend abgeschafft und durch Schichtmodelle ersetzt. Das Thema dabei ist, nicht so einen aus der Industrie bekannten – ich sage mal – relativ langweiligen dreitaktigen Achtstundenschichtdienst zu nehmen, sondern intelligente Schichtlängen und Schichtlaufzeiten zu nehmen, um auf die Art und Weise ein auf die Patientenbedürfnisse zugeschnittenes Arbeitsmodell für ein Krankenhaus zu entwickeln. Da gibt es hochintelligente Lösungen. Da gibt es auch hochintelligente Fallstricke. Da gibt es auch viele, die gescheitert sind. Aber wir analysieren das natürlich als Verband und versuchen, das auch unseren Mitgliedern zur Verfügung zu stellen. Und neben den vielen Modellen, wo wir auch gescheitert sind, gibt es sehr, sehr viel mehr, wo das wirklich gut läuft.

Deutschlandradio Kultur: Sie haben ja ein elektronisches Zeiterfassungsmodell durchgesetzt, was jetzt kommen soll. Warum ist Ihnen das so wichtig?

Montgomery: Nun, wir haben ein Problem gehabt mit der Dokumentation unserer Überstunden. Wir wissen, dass in Deutschland 50 Mio. Überstunden im Jahr – so etwa im Wert von einer Milliarde Euro – geleistet werden, die nicht bezahlt werden. Sehr oft ist es so, dass der Arzt, wenn er seinen Überstundenzettel, den er mit der Hand ausgefüllt hat, abgibt, dann wird ihm der durchgestrichen und gesagt, also, bei uns in der Abteilung werden nur 20 Überstunden im Monat bezahlt. Das ist natürlich ein Rechtsbruch. Gegen den kann sich aber ein junger Arzt mit einem befristeten Vertrag nicht wehren. Deswegen verbessern sich seine Chancen erheblich, wenn er ein elektronisch objektivierbares Zeit-Tableau abliefern und sagen kann, ich habe aber wirklich hier gearbeitet. Ich kann damit übrigens nicht verhindern, dass auch dann ein Arbeitgeber hingeht und sagt, ich bezahle dir das nicht. Das muss man dann juristisch durchfechten. Auch da muss der junge Arzt dann den Mut haben, das zu tun. Aber wir versuchen, denen da erstens mehr Rückgratstütze einzubauen, und ihnen zweitens ein objektives Dokument an die Hand zu geben, mit dem man schon mal mehr Chancen hat.

Deutschlandradio Kultur: Sie sprachen eben schon von schlechtem Krankenhausmanagement. Es ist ja bekannt, dass viel darüber nachgedacht wird, ob man organisatorisch etwas ändern kann, beispielsweise die Aufgaben zwischen Pflegekräften und Ärzten neu verteilen, die Ärzte entlasten, weil sie ja auch teurer geworden sind. Ist das sinnvoll?

Montgomery: Absolut! Also, wir machen heute in der Klinik jeden neuen Verwaltungsakt, jede neue Statistik wird von uns Ärzten gemacht, weil wir zum einen über besondere Qualifikationen verfügen, zum anderen aber auch durch unsere Bereitschaft, unendlich zu arbeiten und sehr oft die Überstunden nicht bezahlt zu bekommen, mit zu den billigsten Arbeitskräften gehören. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat ausgerechnet, dass der durchschnittliche Nettolohn eines Arztes – nicht Facharztes, eines jungen Arztes – irgendwo in der Dimension von faktisch acht Euro liegt. Und es ist für den Arbeitgeber natürlich viel profitabler, einen Acht-Euro-Menschen einzusetzen, um seine Statistiken zu führen, als einen mit Stechuhr versehenen Verwaltungsangestellten, der ihn 15 oder 16 Euro kostet.

Deutschlandradio Kultur: Es gibt nach wie vor Diskussion – vor den Kulissen, hinter den Kulissen – über die Gesundheitsreform, die kommen soll: keine Einigung, immer wieder neue Interessen, neue Vorwürfe, neue Kritiken. Was möchten Sie denn? Was möchte der Marburger Bund von der Gesundheitsreform?

Montgomery: Das ist eine Frage, deren Beantwortung eigentlich den Rahmen dieser Sendung bei Weitem sprengen würde. Das ist so. Lassen Sie mich diese Gesundheitsreform gegenwärtig bewerten. Das ist im Grunde der kleinste gemeinsame Nenner, da sage ich Ihnen nix Neues, aber es ist vor allem die Kombination aller negativen Effekte von Bürgerversicherung und Gesundheitsprämie. Das ist der größte anzunehmende Unsinn, den die Regierung da momentan macht. Der ist in meinen Augen nur begründbar mit der Unfähigkeit, sich innerhalb dieser Koalition zu wirklich konstruktiven Lösungen zusammenzufinden. Als Bürger – das hat jetzt nichts mit Marburger Bund zu tun – bin ich entsetzt, dass wir in einer so dramatischen Phase der Bundesrepublik, wo es uns allen eigentlich so schlecht geht und wo wir eigentlich den Wechsel so dringend brauchten, wo wir endlich mal die Chance haben, riesige Mehrheiten im Bundestag und kein Problem im Bundesrat zu haben, dass diese Regierung nicht mehr zustande bringt. Ich stehe nicht an zu sagen, ich bin von der Frau Merkel hochgradig enttäuscht für diese Form von Politik.

Deutschlandradio Kultur: Also, wenn ich böse bin, würde ich sagen, Sie bekommen doch, was Sie wollen, nämlich die Bürgerversicherung mit Prämie. Die haben Sie doch gefordert.

Montgomery: Nein, das ist verknappt und viel zu einfach gesagt. Das Modell ist so kompliziert und wird so einen Wust an Bürokratie auslösen und ist vor allem unehrlich. Es ist weder eine ehrliche Bürgerversicherung noch eine ehrliche Prämie. Ich habe es mal eine Schimäre genannt. Ich will eigentlich keine Schimären, sondern ich will entweder einen weißen Schimmel oder einen schwarzen Rappen.

Deutschlandradio Kultur: Aber es gibt ein neues Preissystem nicht erst jetzt, sondern es wird bereits eingeführt, für die Krankenhäuser. Haben Sie sich anfreunden können mit den Fallpauschalen?

Montgomery: Ich bin von Anfang an ein Verfechter des Fallpauschalensystems gewesen. Die Entwicklung geht ja jetzt schon bald zehn Jahre zurück. Ich habe immer gesagt, ich verstehe Krankenkassen nicht, dass sie uns im Krankenhaus Pauschalen bezahlen, die sich an der Mitternachtserwärmung von Betten orientieren, und nicht bezahlen, was in den Betten passiert. Ich bin ein Verfechter des Fallpauschalensystems. Ich sage auch, die Regierung hat bisher Wort gehalten in der Fortentwicklung dieses Systems. Wir haben wirklich dieses System über alle Anfangsprobleme hinweg erheblich verbessert. Und ich gehe davon aus, dass man das bis 2009 auch wirklich so vernünftig konstruieren kann, dass Krankenhäuser damit vernünftig finanziert werden können.

Deutschlandradio Kultur: Ein Stichwort ist in dem Zusammenhang auch die Gesetzliche Krankenversicherung, die Krankenkasse. Wo soll die eigentlich hinsteuern?

Montgomery: Ja, ich bin persönlich der Meinung, dass die Gesetzliche Krankenversicherung, wenn sie Wettbewerb hat, dann auch Wettbewerb leben muss und leben können muss, wie wir Leistungsanbieter dann übrigens auch. Ich habe persönlich zwar Probleme mit dem Begriff von Wettbewerb innerhalb eines solidarisch und sozial finanzierten Systems, aber das ist nun mal so. Der Wettbewerb ist da. Wir müssen uns dem stellen. Ich würde mir wünschen, dass die Krankenkassen, ich rede jetzt von den Gesetzlichen Krankenkassen, wesentlich mehr in Richtung privatwirtschaftliche Konstruktionen steuern, also in Richtung einer Privaten Krankenversicherung als umgekehrt, dass man die Private Krankenversicherung mit unter den Deckel der Gesetzlichen mit tut, weil ich wirklich glaube, am Ende muss der Mensch selber entscheiden im freien Wettbewerb, welches Modell für ihn das beste ist. Wir reden in der Bundesrepublik immer vom freien Bürger, vom mündigen Bürger. In der Sekunde, wo er Entscheidungen treffen soll, sprechen wir ihm jedwede Mündigkeit ab und zwingen ihn in ein Zwangssystem, was ja längst einen steuerähnlichen Charakter hat. Da bin ich für mehr Liberalität. Und da brauchen wir auch andere Gesetzliche Krankenversicherungen.

Deutschlandradio Kultur: Die Palette der Themen eines Vorsitzenden des Marburger Bundes ist breit – über die Tarifpolitik zur Gesundheitspolitik oder auch zur Gesundheitsreform bis hin zu ethischen Fragen z.B. im Krankenhaus. Sie haben sich auseinander gesetzt mit der Hochleistungsmedizin, Sie haben sich auseinander gesetzt mit der vorgeburtlichen Kontrolle, Untersuchung und Diagnostik und auch mit der Sterbebegleitung. Lassen Sie uns bei dem Thema bleiben. Wird das in Ihrer Klinik in Hamburg-Eppendorf anders gemacht als anderswo?

Montgomery: Nein, Gott sei Dank wird das, glaube ich, in allen Kliniken nach einem sehr ähnlichen Muster und – wie ich finde – ausgesprochen vernünftig gemacht. Wenn wir von der Sterbebegleitung reden, müssen wir Ärzte immer wieder reflektieren, muss man alles machen, was man kann? Wie kann man den Willen des Menschen berücksichtigen? Das ist ja in 99 % aller Fälle überhaupt kein Problem, weil der Mensch mir seinen Willen ja mitteilen kann. Wir reden ja immer nur – und in deutscher Überhöhung wird das dann zu einem Riesenproblem – von den vielleicht 500, 600 Fällen bundesweit, wo der Arzt vor dem Dilemma steht, keine vom Patienten selber mehr zur Verfügung gestellte Meinungsäußerung als Grundlage seiner Entscheidungen zu haben und wo man dann anfangen muss, über Hilfskonstruktionen wie Vormundschaftsrichter oder Angehörige zu erahnen, was könnte dieser Mensch in der Situation gewollt haben. Ich glaube, dass wir das in den Krankenhäusern – querab aller Gesetzesänderungen – ausgesprochen vernünftig regeln.

Deutschlandradio Kultur: Hilft Ihnen denn die Unterscheidung des Ethikrates weiter, der unterscheidet zwischen Sterben lassen, Sterbebegleitung und Therapie am Krankenbett und dann einen Sinnbruch macht und sagt Beihilfe zur Selbsttötung, was unter ein besonderes Recht gestellt wird. Hilft Ihnen diese Unterscheidung?

Montgomery: Nein, die hilft mir überhaupt nicht weiter, weil das sind wieder so esoterisch abgehobene Debatten von Menschen, die wahrscheinlich nicht oft am Krankenbett gestanden haben und nicht in der konkreten Situation waren. Ich glaube, und das ist tägliche Erfahrung bei mir, ich bin fest davon überzeugt, dass der Schrei nach Sterbehilfe bei vielen Menschen ein Versagen unseres Systems von Schmerztherapie, von Sterbebegleitung, von Palliation ist. Ich erlebe sehr oft, dass Menschen dankbar die Chance nutzen, selbstbestimmt ihre letzten Tage zu leben und nicht selbstbestimmt zu sterben.

Deutschlandradio Kultur: Was brauchen Sie dann für Hilfe vom Gesetzgeber? Brauchen Sie überhaupt eine?

Montgomery: Ich glaube, wir brauchen keine Hilfe vom Gesetzgeber. Eine Klarstellung tut nicht Not. Ich glaube, das gesetzliche Instrumentarium reicht. Ich glaube, wir werden nur immer wieder darüber diskutieren müssen. Das scheint mir wichtig.

Deutschlandradio Kultur: Sie sind Vorsitzender des Marburger Bundes, einer sehr großen Organisation der Ärzte, die im Beamten- und Angestelltenverhältnis sind. Sie haben mit dem Tarifabschluss, sofern er denn jetzt durchkommt, viel erreicht, auch persönlich. Was haben Sie denn künftig vor? Was können Sie denn als Arzt, der in einer Funktion, in einer Gewerkschaftsfunktion ist, oder möglicherweise in einer Ständeorganisation ist, noch erreichen? Was wollen Sie noch erreichen?

Montgomery: Persönlich Glück, Frieden, Freiheit. Die Entscheidung, alles zu machen, hängt nicht an Ämtern, sondern die hängt an einem Weltbild, an einem Lebensgefühl, an einem Lebensbild, in dem man viele Dinge drin hat. Mich hat neulich mal ein Journalist des "Tagesspiegels" gefragt, wie das denn wäre, wenn ich Gesundheitsminister wäre oder so etwas. Da habe ich klar gesagt: Das wäre für mich überhaupt nicht interessant. Erstens ist die Politik so schlecht in Deutschland. Zweitens müssten Sie ja immer gar nicht das tun, was Sie gelernt haben, sondern sind laufend dabei immer nur Mehrheiten für irgendwas zu besorgen von Menschen, die vielleicht gar nicht in der Lage sind, diese Mehrheiten Ihnen so zu liefern, wie Sie sie brauchen. Also, meine persönlichen Pläne sind im Moment ausgesprochen bescheiden. Ich freue mich, dass ich bald wieder in Ruhe in der Klinik arbeiten kann. Beim Marburger Bund stehen ja 2007 wieder Neuwahlen an. Ich bin jetzt mit 54 auch in so einem reifen Alter, wo man nicht mehr jedem Amt nachjagen muss. Jetzt, Ende des Jahres, stehen die Neuwahlen in der Ärztekammer Hamburg an. Da habe ich schon gesagt, da möchte ich wieder Präsident werden, was ich schon mal in der Vergangenheit war. Und schauen wir mal, wie die Chancen da so stehen.

Deutschlandradio Kultur: Aber zur Bundesärztekammer würden Sie nicht nein sagen, wenn sie Ihnen das Präsidentenamt anträgt?

Montgomery: Die Bundesärztekammer trägt ja nix an, sondern es gibt einen hervorragenden Präsidenten Jörg Hoppe, mit dem ich persönlich gut befreundet bin. Auch wenn wir uns auch mal in der Vergangenheit gekabbelt haben und ich gegen ihn kandidiert habe, ist diese Sache zwischen uns beiden bereinigt. Und das liegt ausschließlich in der Person von Jörg Hoppe zu sagen, wie das bei den nächsten Wahlen so weitergeht. Und dann schauen wir mal.

Deutschlandradio Kultur: Herr Montgomery, vielen Dank für dieses Gespräch.

Montgomery: Ich danke Ihnen.