"Wir haben auf beiden Seiten des Atlantiks ein Problem"

Friedrich Merz im Gespräch mit Michael Groth |
In Amerika wie in Europa rede man ständig über Krisensymptome, statt Ursachen zu bekämpfen, kritisiert Friedrich Merz, Vorsitzender der Transatlantikbrücke. Es brauche gemeinsame Konzepte, die qualitativ dauerhaftes Wachstum schaffen und keine finanzpolitischen Operationen, die allenfalls für ein paar Wochen Zeit gewinnen.
Michael Groth: Friedrich Merz, geboren 1955 im Sauerland, liegt die Provokation und er liebt die geschliffene Rede. Praktiziert hat er beides im Bundestag – als Finanzfachmann und als Oppositionsführer bis 2002. Dann nimmt die CDU-Vorsitzende Merkel ihm den Fraktionsvorsitz weg. Merz bleibt Stellvertreter. 2004 legt er auch dieses Amt nieder. 2009 scheidet er aus dem Bundestag und zieht sich aus der Politik zurück. In Erinnerung bleibt Merz unter anderem als Mann mit dem Bierdeckel, der fordert, die Steuererklärung müsse auf einen Bierdeckel passen.

Inzwischen sitzt der studierte Jurist und Vater von drei Kindern in verschiedenen Aufsichtsräten. Merz ist Partner einer internationalen Kanzlei mit Sitz in Düsseldorf. Und er ist Vorsitzender der Atlantikbrücke, einer Organisation, die in diesen Tagen ihr 60-jähriges Bestehen feiert. Und das soll auch unser erstes Thema sein.

Tag, Herr Merz.

Friedrich Merz: Grüße Sie, Herr Groth.

Groth: 60 Jahre Altantikbrücke mit rund 500 Mitgliedern aus Politik, Wirtschaft, Kultur. Wie steht es im Sommer 2012 um die deutsch-amerikanische Verständigung?

Merz: Das deutsch-amerikanische Verhältnis hat sich seit der Gründung der Atlantikbrücke im Jahr 1952 fundamental verändert. Ich würde diese 60 Jahre einteilen in zwei Phasen. Die erste Phase hat gedauert bis zur Deutschen Wiedervereinigung und bis zur europäischen Wiedervereinigung im Jahre 1990. Das waren fast 40 Jahre während des Kalten Krieges, geprägt von der Auseinandersetzung des Ost-West-Konfliktes, in der die Atlantikbrücke vor allen Dingen über außen- und sicherheitspolitische Themen gesprochen hat.

Die Zeit danach ist eine Zeit des Umbruchs und eine Zeit der neuen Themen, auch eine Zeit der neuen Definitionen des transatlantischen Verhältnisses. Ich denke, wir sind mitten in diesem Prozess. Er ist nicht abgeschlossen. Er dauert jetzt schon über 20 Jahre. Und in diesem Prozess wollen wir mit den Amerikanern auch über diese neuen Themen sprechen. Aber wir merken, und das ist meine Antwort auf Ihre Frage, es ist anders geworden und es ist in vielen Bereichen auch schwieriger geworden, weil sich die Welt verändert hat, aber weil sich auch Europa und Amerika verändert haben.

Groth: Eine dieser neuen Definitionen ist der Blick über den Pazifik. Die Amerikaner sprechen von einem pazifischen Zeitalter. Was bedeutet das für Europa?

Merz: Auch der amerikanische Präsident Barack Obama bezeichnet sich als ersten pazifischen Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika. Und er tut das nicht nur, weil er auf Hawaii geboren ist, sondern weil er eben diese Hinwendung zum Pazifik auch als eine seiner wichtigsten politischen Aufgaben ansieht.

Die bipolare Welt ist nicht mehr da. Wir haben es heute mit einer multipolaren Welt zu tun. Und es ist mindestens ein großer neuer Spieler auf die Weltbühne getreten, nämlich China. Die relative Stärke von Amerika und auch die relative Stärke von Europa nehmen global ab. Und jetzt sehen Sie sich nur die Finanzkrise an. Diese Finanzkrise ist keine globale Krise, sondern sie ist eine Krise Amerikas und eine Krise Europas. Und damit sind wir wieder mitten im transatlantischen Verhältnis.

Groth: Neun von zehn Deutschen befürworten die Wiederwahl Obamas, aber nur etwa die Hälfte der Deutschen hat ein positives Bild der Vereinigten Staaten. Ringen da Emotionen und Vernunft miteinander. Wie lesen Sie diese Zahlen?

Merz: Die Zustimmung zu Barack Obama in Deutschland ist ja seht Jahren auch deshalb hoch, weil sie sich mit Obama einen anderen Typus von Politikern versprechen. Er hat eine große Ausstrahlung. Er hat ja auch ein halbes Jahr vor seiner Wahl in Berlin eine große Rede gehalten, eine Rede übrigens, die mehr an das amerikanische Volk gerichtet war als an das deutsche.

Groth: Und auch immer im Vergleich mit seinem sehr ungeliebten Vorgänger natürlich.

Merz: Selbstverständlich ist auch das ein bisschen das Maß, das genommen wird, keine Frage. Da steckt viel Emotion dahinter. Und auch die große Attraktivität, dass in einem Land wie Amerika ein Schwarzer Präsident werden konnte, ist natürlich ein sehr positives Signal auch für uns Deutsche.

Die Tatsache, dass Amerika damit nicht gleichgesetzt wird, ist nicht neu. Die Personen sind häufig anders beurteilt worden als das Land selbst. Bei Bush ist das Verhältnis lange Zeit umgekehrt gewesen. Da hatte Amerika einen höheren Anteil in der Wertschätzung als George Bush. Also, am Ende werden aber nicht Emotionen entscheiden, sondern Fakten. Und da sind Amerika und Europa unverändert sehr aufeinander angewiesen.

Groth: Nun hat der Oberste Gerichtshof in den Vereinigten Staaten – für viele überraschend – die Gesundheitsreform Obamas weitgehend intakt gelassen. Hat Sie das überrascht?

Merz: Das hat mich deshalb nicht so sehr überrascht, weil diese sehr formelhafte Eingruppierung der Richter des Obersten Gerichtshofs in Amerika in Konservative und Liberale schon bei früheren Entscheidungen nicht gestimmt hat. Die mehr den Demokraten zugeordneten Richter haben im letzten Jahr eine Entscheidung zur Parteispendenrechtslage in Amerika mitgetragen, die ich so nicht erwartet hätte. Und umgekehrt haben jetzt die angeblich Konservativen die Gesundheitsreform passieren lassen – der Gerichtshof und nicht die oberste politische Instanz. Die Gesundheitsreform von Obama ist politisch entschieden worden und jetzt nur verfassungsrechtlich überprüft worden.

Groth: Sie haben die Leute, die gegen die Gesundheitsreform in den USA protestieren, einmal in einem Zeitungsartikel verglichen mit den deutschen Wutbürgern, beispielsweise denen, die hier gegen den Stuttgarter Bahnhof demonstrieren. – Erklären Sie diesen Vergleich.

Merz: Die Verhaltensmuster sehe ich als identisch an. Es gibt eine breite Protestwelle in vielen Ländern Europas, aber eben auch in Amerika, gegen politische Entscheidungen. Häufig genug sind es Minderheiten, die dann aber in der Lautstärke ihres Protestes versuchen, einen gegenteiligen Eindruck zu erwecken, dass sie nämlich die Mehrheit sind. Das hat sich in Amerika anders herausgestellt und das hat sich auch in Deutschland vielfach anders herausgestellt. Sehen Sie nur die Volksabstimmung in Stuttgart über den dortigen Bahnhof, die eben ganz anders ausgefallen ist als die Kritiker es immer behauptet haben.

Insofern sind moderne Demokratien mit modernen Formen des Protestes konfrontiert. Dazu tragen natürlich die elektronischen Medien und die sozialen Medien erheblich bei. Sie können heute ganz anders mobilisieren als wir das in früheren Jahren gesehen haben. Aber das ist etwas, mit dem Demokratien fertig werden müssen. Und das werden sie auch.

Groth: Wir sprechen ja hier vom Einfluss von Gruppeninteressen. Wenn wir mal wieder in die USA schauen, wer dort in die Politik geht, der braucht viel eigenes Geld, aber er braucht auch Spender, die nach der Wahl dann Dividenden erwarten. Wir beobachten doch eine Spaltung in der amerikanischen Gesellschaft. Macht Ihnen das Sorge?

Merz: Zunächst einmal empfinden wir Europäer, wir Deutsche dieses System als befremdlich. Und ich teile diese Einschätzung. Die Art und Weise, wie in Amerika Wahlkämpfe finanziert werden, ist aus unserer Sicht inakzeptabel. Aber die amerikanische Bevölkerung und die amerikanischen Politiker haben dieses System gewollt. Ich habe es geben bereits gesagt, der Gerichtshof hat es sogar noch befördert. Und insofern sollten wir darüber den Stab nicht brechen. Jedes Land hat das Recht, seine eigene Form der Wahlkampf- und Parteienfinanzierung zu etablieren.

Die Frage, wie stark der Einfluss von Lobbygruppen auf politische Entscheidungen ist, ja auch das befremdet mich in Amerika. Das ist aber eben auch eine Entscheidung, die die amerikanische Bevölkerung und die amerikanische Politik so getroffen haben. Und auch das sollten wir akzeptieren und nicht mit dem erhobenen Zeigefinger die bessere Moral für uns in Anspruch nehmen.

Was mir Sorge macht, ist die – und das ist der zweite Aspekt und der hat mit dem ersten nicht viel zu tun – die tiefe Spaltung der amerikanischen Gesellschaft. So etwas habe ich in den zurückliegenden 30 Jahren, in denen ich dieses Land jedes Jahr mehrfach besuche, nicht erlebt. Es gibt eine politische Radikalisierung an beiden Enden des politischen Spektrums, sowohl bei den konservativen Republikanern als auch bei den, würden wir sagen, dem linken Flügel angehörenden Demokraten. Und es gibt eine dramatische Auszehrung der politischen Mitte – bis hin zur Unfähigkeit, in der politischen Mitte noch Kompromisse zu finden.

Groth: Sind Obama oder Romney, wir wissen ja nicht, wer gewinnt, die beiden, die diese Spalte tatsächlich überwinden könnten und die Gesellschaft zusammenführen? Oder stehen sie eher jeweils für die eine und andere Seite dieser Grabenkämpfe?

Merz: Nun, man hat ja schon mit der letzten Präsidentschaftswahl vor vier Jahren die Erwartung verbunden, dass der neue Präsident die amerikanische Spaltung überwindet. Und wir haben nun leider lernen müssen, dass das nicht gelungen ist. Das ist ein Befund. Das ist keine Kritik, sondern ein schlichter Befund. Die Spaltung des Landes ist sogar noch ein weiteres Stück vertieft worden.

Ob ein Regierungswechsel, ob ein Wechsel im Amt des amerikanischen Präsidenten Ende des Jahres 2012 Besserung bringt, ist eine pure Spekulation. Die Probleme liegen wahrscheinlich in Amerika sehr viel tiefer als nur – in Anführungsstrichen – bei wenigen politischen Spitzenfunktionsträgern. Diese Gesellschaft hat einen Teil ihres inneren Zusammenhalts verloren, hat auch einen Teil ihres Pioniergeistes nicht mehr. Und sie ist mit Zweifeln konfrontiert, mit Selbstzweifeln beschäftigt an ihrer Fähigkeit, auch aus Krisen mit großer Dynamik und sehr schnell wieder herauszukommen.

Eine sich verfestigende hohe Arbeitslosigkeit in Amerika hat es in den letzten Jahrzehnten in dieser Form nicht gegeben. Und insofern sind die wirtschaftlichen Probleme in Amerika wahrscheinlich mit eine Ursache für diese Konfrontation zwischen den politischen Parteien. Ich kann aus meiner Sicht nur sagen: Jeder von uns muss ein Interesse daran haben, unabhängig von der parteipolitischen Präferenz, dass dies möglichst bald überwunden wird. Denn auch wir Europäer haben ein Interesse an einem starken und geeinten Amerika.

Groth: Sie haben die wirtschaftliche Entwicklung angesprochen. Es geht ums Portemonnaie. Und Obama macht sich natürlich Sorgen auch um die Entwicklung in Europa, nicht nur Sorgen, es gibt auch Vorwürfe, Vorwürfe, auf die beim jüngsten G-20-Gipfel in Mexiko der EU-Kommissionspräsident Barroso auf folgende Weise reagierte:

"Diese Krise kommt doch aus Amerika und viele in unserem Finanzsektor wurden verseucht. Wir sind nicht hierher gekommen, um uns belehren zu lassen in Sachen Demokratie oder wie wir eine Krise bewältigen. Europa ist ein Modell, auf das wir stolz sind."

Der Portugiese verbittet sich Ermahnungen. Zurecht?

Merz: Also, zumindest teile ich die Grundeinschätzung des Kommissionspräsidenten. Und ich teile ausdrücklich nicht die Vorwürfe, die aus Amerika an die Adresse Europas gerichtet werden. Wir haben auf beiden Seiten des Atlantiks ein Problem. Und dieses Problem ist – auf einen einfachen Nenner gebracht – das Problem der viel zu hohen Verschuldung der öffentlichen Haushalte.

In Amerika kommt ein veritables Bankenproblem noch hinzu, das sie allerdings jetzt dabei sind, schneller zu lösen als wir. Auch das hat Ursachen in den sehr unterschiedlichen Bankensystemen. Nur ein Befund ist auf beiden Seiten des Atlantiks derselbe. Wir haben 30, 40 Jahre lang eine Politik erlebt, in der mehr versprochen wurde als die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der beiden Kontinente halten konnte. Amerika lebt seit Jahrzehnten über seine Verhältnisse, Europa aber auch. Und deswegen wäre es sehr gut, wenn Amerika und Europa mehr nach gemeinsamen Lösungen suchen als nach gegenseitigen Beschuldigungen. Dies führt nicht weiter. Das gibt eher eine Verhärtung und Verstetigung der Krise als eine Lösung.

Groth: Nun wurden auf dem jüngsten EU-Gipfel neue Wachstumsprogramme beschlossen. Auch die werden wieder kreditfinanziert sein. Ist das eine Lösung?

Merz: Es ist kein Geheimnis, Herr Groth, dass ich noch nie ein Freund kreditfinanzierter Wachstumsprogramme gewesen bin. Die Wachstumsprogramme, die jetzt in Europa beschlossen worden sind, werden zum Teil aus Fonds und Mitteln finanziert, die ohnehin längst bewilligt sind. Da hat man noch mal ein schönes rotes Bändchen um das Paket drum herum geschnürt. Der entscheidende Punkt ist, dass auf beiden Seiten des Atlantiks die Wachstumsperspektiven für die Volkswirtschaften zu gering sind und die Wettbewerbsfähigkeit der Länder im globalen Maßstab abnimmt. Amerika hat ein dramatisches Leistungsbilanzdefizit und die amerikanische Volkswirtschaft ist seit Jahrzehnten auf Kapitalimporte aus anderen Ländern angewiesen.
Europa hat in großen Teilen des Kontinents erhebliche Wettbewerbsprobleme. Große Teile der südeuropäischen Länder sind international nicht mehr wettbewerbsfähig. Da liegen die eigentlichen Probleme. Und wenn Amerika und Europa Konzepte entwickeln, wie man die Wachstumsschwäche überwindet, wie man auch qualitativ dauerhaftes Wachstum schaffen kann, dann ist damit allemal mehr gedient als mit finanzpolitischen Operationen, die allenfalls für ein paar Tage oder ein paar Wochen Zeit gewinnen, aber die letztendlich an den Ursachen der Krise – und noch einmal, sie sind auf beiden Seiten des Atlantiks dieselben, im Wesentlichen jedenfalls dieselben, dass man nicht die Ursachen der Krisen bekämpft, sondern dass man nur ständig über die Symptome redet.

Groth: Ist die Finanzkrise auch eine Folge der überforderten öffentlichen Haushalte in Europa?

Merz: Eindeutig ja. Ich würde das sogar als die wesentliche Ursache ansehen. Mangelnde Wettbewerbsfähigkeit, zu geringe Wachstumsraten und zu hohe Ausgabenzuwächse der öffentlichen Haushalte haben zu dieser massiven Diskrepanz zwischen der Leistungsfähigkeit und den öffentlichen Haushalten geführt. Und dieses Gleichgewicht wieder herzustellen, ist eine Herkulesaufgabe, aber sie muss auf beiden Seiten des Atlantiks geleistet werden.

Groth: Das ist auch eine Frage der Ansprüche, die dann natürlich zurückgefahren werden müssten, was immer schwierig ist.

Merz: Selbstverständlich ist das eine Frage der Ansprüche, aber es ist vor allen Dingen eine Frage der politischen Leistungsversprechen, die gemacht worden sind. Jimmy Carter hat in Amerika einen Präsidentschaftswahlkampf 1976 angefangen, jedem Amerikaner ein Haus zu versprechen. Dieses Versprechen hat dann sein Nachfolger eingelöst, indem er zwei große Immobilienfinanzierungsbanken geschaffen hat, die mit öffentlichen Mitteln gestützt werden müssen heute, und eine enorme Verschuldung der privaten Haushalte in Kauf genommen hat. Heute ist ein Drittel der amerikanischen Hypothekenkredite unter Wasser. Die Amerikaner leben heute wie in einem Gefängnis im eigenen Haus, weil sie das eigene Haus nicht mehr verkaufen können, weil der Verkaufserlös geringer wäre als das, was sie an Hypothekenkrediten zurückzahlen müssten. – Da liegt auf amerikanischer Seite das Problem.

In Europa haben die Politiker zu hohe Sozialstandards versprochen. Niemand von uns ist gegen hohe Sozialstandards, aber sie müssen bezahlt werden. Und bezahlt worden sind sie mit einer exorbitanten Verschuldung der öffentlichen Haushalte.

Amerika und Europa müssen zurück zur Realität. Und die Politiker auf beiden Seiten des Atlantiks dürfen nur das versprechen, was die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit ihrer Volkswirtschaften auch hergibt.

Groth: Sie waren an den Entscheidungen zur Einführung des Euro beteiligt. Einiges hätte man vielleicht wissen können, dass die Griechen ihre Zahlen munter fälschten zum Beispiel. Dennoch jetzt im Rückblick: Damals alles richtig gemacht?

Merz: Wir haben damals – und ich war in zwei Parlamenten an diesen Entscheidungen beteiligt, erst im Europäischen Parlament und dann im Deutschen Bundestag –, wir haben uns damals fälschlicherweise auf die Aussagen der griechischen Zentralbank verlassen. Deren Präsident war übrigens der zeitweilige Ministerpräsident Papademos, den wir vor einigen Wochen noch gesehen haben. Wir haben uns auf die Urteile der Europäischen Kommission verlassen. Und wir haben uns natürlich auch auf die Hoffnung verlassen, dass eine Währungsunion, in der per Definition eine Abwertung nicht mehr möglich ist, zur wirtschaftlichen Konvergenz zwingt. Und das war eine große Fehleinschätzung – auch für mich persönlich ein großer Irrtum.

Die Währungsunion hat leider nicht dazu geführt, dass die Länder sich angepasst haben, dass sie ihre Arbeitsmärkte geöffnet haben, dass sie wettbewerbsfähiger wurden, sondern die Währungsunion hat lediglich dazu geführt, dass insbesondere viele südeuropäische Länder die enormen Zinsvorteile ihrer billigen Refinanzierung an den Kapitalmärkten in Anspruch genommen haben und ihre ohnehin viel zu hohe Verschuldung noch einmal in die Höhe getrieben haben.

Das hat sich im Nachhinein – und ich mache daraus niemandem einen Vorwurf, das ist eine späte Erkenntnis -, das hat sich als ein Konstruktionsfehler und als ein großer Irrtum der Währungsunion herausgestellt. Und das zu korrigieren, erfordert gewaltige Kraftanstrengungen. Und ich habe es eben schon mal gesagt. Das wird alleine mit Finanztechnik nicht gehen. Das wird durch wirtschaftspolitische und arbeitsmarktpolitische Maßnahmen begleitet werden müssen, ähnlich denen, die wir in Deutschland mit der Agenda 2010 auch längst hier praktizieren.

Groth: Nun prüft die Troika wieder in Griechenland. Wenn die Griechen tatsächlich nicht in der Lage sein sollten, den Forderungen nach Sanierung ihrer Wirtschaft nachzukommen, gibt es eine rote Linie oder ist Europa einfach erpressbar, weil wir ja mit aller Gewalt den Euro halten wollen?

Merz: Ich bin nicht autorisiert, Herr Groth, rote Linien zu definieren. Aber es gibt natürlich Überforderungsgrenzen, auch für Deutschland. Und ich finde, die Bundeskanzlerin hat völlig zu Recht in den letzten Wochen immer wieder darauf hingewiesen, dass die finanzpolitischen und haushaltspolitischen Probleme Europas nicht alleine durch den deutschen Steuerzahler gelöst werden können. Natürlich muss Deutschland Solidarität zeigen. Immerhin profitieren wir ja auch von Binnenmarkt und Währungsunion in beträchtlichem Umfang. Der Wohlstand der Bundesrepublik Deutschland wäre ohne Europa nicht denkbar, jedenfalls nicht in dieser Form.

Das Entscheidende wird sein, dass die politische Verantwortung auch bei denen bleibt, die jetzt die Hilfestellung in Anspruch nehmen. Es darf keine Leistung ohne Gegenleistung geben. Und, ehrlich gesagt, daran hab ich meine Zweifel schon in den letzten Jahren gehabt, in den letzten Monaten verstärkt, weil es doch eben einigen Ländern in Europa zu schnell zu leicht gemacht wird, wohl wissend, dass natürlich solche Anpassungsprogramme, wie etwa Griechenland abverlangt werden, von keiner Regierung in eigener Verantwortung im eigenen Land durchgesetzt werden könnte. – Aber das ist nun mal der Preis für den jahrzehntelangen Schlendrian und für die jahrzehntelangen Versäumnisse einer politischen Klasse etwa in Griechenland, die den Staat mehr als Beute betrachtet haben denn als etwas, was ihnen auf Zeit anvertraut ist und was sie mindestens genauso gut weitergeben müssen, wie sie es in Empfang genommen haben.

Das ist leider alles dort nicht der Fall gewesen. Und insofern stehen wir vor ganz, ganz harten Jahren, insbesondere in den südeuropäischen Ländern.

Groth: Nun hat der jüngste Gipfel die Banken ja zum Teil aus der Pflicht genommen. Auch die Frage der Eurobonds ist ja wohl noch nicht ganz vom Tisch. Das alles läuft natürlich auf eine Einschränkung der nationalen Souveränität hinaus, wenn wir also immer mehr wirtschafts- und finanzpolitische Entscheidungen nach Brüssel verlagern. Wenn das so ist, muss Karlsruhe prüfen, das macht es jetzt in Sachen Fiskalpakt und ESM. Aber darüber hinaus, wenn Grundgesetzänderungen notwendig würden, sollte man das Volk fragen?

Merz: Also, darauf gibt das Bundesverfassungsgericht im Einklang mit unserer Verfassung ja eine klare Antwort. Und diese Antwort findet sich im Art. 146 des Grundgesetzes. Diese Schwelle einer Neukonstituierung der Bundesrepublik Deutschland haben wir nach meiner subjektiven Einschätzung bisher nicht erreicht, aber wir kommen ihr näher.

Die zurzeit zu beantwortende Frage lautet: Muss Brüssel oder darf Brüssel einen stärkeren Einfluss haben auf die Gestaltung der nationalen Haushalte?

Ich gebe Ihnen meine persönliche Meinung dazu: Ja, es darf nicht nur, sondern es muss eine stärkere Kontrolle durch die europäische Ebene und durch europäische Instanzen geben. Das muss man nicht gleich einen europäischen Finanzminister nennen, aber wenn wir zunehmend in eine solche Haftungsgemeinschaft im Euroraum hineinkommen, dann muss es auch eine entsprechende Kontrollmöglichkeit geben. – Ausgabenverhalten und Verantwortung müssen dann auch zusammenbleiben.

Das wird in einer Währungsunion nur durch eine stärkere politische Integration gehen. Und was wir dann immer politische Union genannt und manchmal etwas im Unklaren gelassen haben, wird jetzt klar. Wir müssen in der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik näher zusammenrücken. Und wir müssen vor allen Dingen in der Finanz- und Haushaltspolitik näher zusammenrücken. Und darüber muss es dann in Europa auch einen Konsens geben. Und dieser Konsens darf nicht erpresst werden gegen einzelne Länder, insbesondere nicht gegen das Land, das immer schon der größte Nettozahler in Europa gewesen ist.

Groth: In der Süddeutschen Zeitung vom Freitag vergangener Woche, Herr Merz, gab es einen Artikel. In dem ging es um den neuen Vorsitzenden der CDU in Nordrhein-Westfalen, Herrn Laschet. Und da stand Folgendes, ich zitiere mal:

"Wenn Laschet jetzt durch die Kreisverbände zieht, dann steht meistens einer auf und sagt, der Friedrich Merz hätte es doch machen sollen. Auch Jahre, nachdem er aus der Politik ausgestiegen ist, gibt es eine irrationale Sehnsucht nach Merz, dem sehr viele Eigenschaften zugeschrieben werden, die man in der Partei vermisst, allem voran der gute alte Konservatismus." – Soweit das Zitat.

Haben Sie es auch gelesen?

Merz: Ja. Ich hab den Artikel gelesen. Und da steht dann das nächste Klischee drin, das erste haben Sie gleich zu Beginn dieser Sendung noch mal aufgegriffen, indem Sie wiederholt haben, was früher immer schon mal gesagt und geschrieben wurde, ich würde halt gerne provozieren.

Groth: Das ist ja nichts Falsches.

Merz: Ich versuche eine politische Debatte dadurch zu befördern, dass ich eine klare Meinung habe. Und ich erwarte von meinem Gegenüber nicht, dass er Ja und Amen dazu sagt, sondern dass er auch eine klare Meinung hat. Und erst dadurch wird ein furchtbarer politischer Dialog möglich.

Was Nordrhein-Westfalen betrifft, ich habe immer gesagt, und das habe ich schon vor zehn Jahren gesagt und das sage ich heute unverändert, ich habe nie in die Landespolitik wechseln wollen. Und ich war immer der Meinung, dass der nordrhein-westfälische Landesvorsitzende gleichzeitig auch die Hauptperson in der nordrhein-westfälischen Landespolitik sein muss – entweder als Oppositionsführer oder noch besser als Regierungschef. Und da ich dieses nie wollte, war für mich immer klar, dass ich auch jetzt in der gegenwärtigen Situation nie mit dem Gedanken gespielt habe, den Landesvorsitz der CDU in Nordrhein-Westfalen anzustreben – abgesehen davon, dass ich es ja auch nicht alleine hätte entscheiden können, sondern da sprechen ja auch andere mit. Ich finde die Entscheidung jetzt gut. Und ich hoffe, dass Armin Laschet Erfolg hat.

Groth: Ein weiteres Zitat, 2009 haben Sie gesagt: "Wenn meine Partei der Meinung ist, dass sie wieder mehr Grundüberzeugung braucht, bin ich der Letzte, der sich einer Mitarbeit verschließt." Gilt das noch?

Merz: Das Zitat ist richtig und es gilt unverändert.

Groth: Das heißt, Sie könnten sich durchaus vorstellen, auch wieder politisch tätig zu werden?

Merz: Ich bin nie ein unpolitischer Mensch gewesen, jedenfalls seitdem ich denken kann. Und ich bin immer bereit, auch an politischen Diskussionen teilzunehmen. Das muss ja nicht gleich heißen, dass ich aus meiner privatberuflichen Tätigkeit wieder zurück in die Politik wechsle. Das steht zurzeit nicht an. Und deswegen werde ich diese Frage auch gar nicht beantworten müssen, geschweige denn auch im Familienkreis diskutieren.

Groth: Ein letztes Wort zu Ihrer Partei. Die CDU, sie ist noch Ihre Partei. Wenn Sie die Entwicklung beobachten, wo steht die Partei heute?

Merz: Bei 36 Prozent.

Groth: Und inhaltlich?

Merz: In der Regierungsverantwortung. Und in der Regierungsverantwortung gilt nicht immer nur die reine Lehre, sondern da müssen praktische Wege und praktische Kompromisse gefunden werden. Und ich hab’s vorhin gesagt. Ich finde, Angela Merkel hat in vielen Punkten Recht. Und sie hat auch die deutsche Haltung in Europa zu Recht so markiert, wie sie es getan hat. Wir können über viele Themen reden, aber das tue ich dann in meiner Partei und nicht bei Deutschlandradio Kultur.

Groth: Vielen Dank, Herr Merz.


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