"Wir dürfen dieses Projekt nicht aufgeben"
Der Vizepräsident der EU-Kommission, Günter Verheugen, hat sich dafür ausgesprochen, weiter an dem Projekt einer gemeinsamen europäischen Verfassung festzuhalten. Mit den bisherigen vertraglichen Grundlagen seien die Probleme des 21. Jahrhunderts nicht lösbar. Zugleich gab er sich zuversichtlich, dass eine Einigung im Streit um die neue EU-Seehafenrichtlinie erzielt wird.
Deutschlandradio Kultur: In dieser Woche streikten europaweit die Hafenarbeiter, um gegen eine geplante EU-Hafenrichtlinie zu protestieren. Passiert, Herr Verheugen, nun wieder genau das, was man in den letzten Monaten, Jahren immer wieder beobachten konnte, dass bestimmte Gesetzesvorlagen, Richtlinien, die in der Diskussion waren, erst mal dazu geführt haben, dass die Leute auf die Barrikaden gingen und mit dem ganz großen, riesigen Zeigefinger nach Brüssel zeigten und sagten: "Seht her, die Verordnungen, Richtlinien und dergleichen mehr, sie gefährden Arbeitsplätze, sie bringen uns um unsere soziale Sicherheit!" Führt nicht genau so etwas zu der so oft beklagten Europaskepsis?
Verheugen: Also ich glaube nicht, dass man das so verallgemeinern kann. Aber wir haben es mit einem ganz klassischen Zielkonflikt zu tun. Wir haben es einerseits zu tun mit der Frage, wie können wir die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft, in diesem Falle jetzt eines wichtigen Dienstleistungsbereichs im internationalen Wettbewerb stärken, und das geht natürlich nur dadurch, dass man die Kosten senkt…
Deutschlandradio Kultur: Aber die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Häfen ist doch schon sehr groß. Sie sind doch schon jetzt billiger, die deutschen Häfen, als beispielsweise die in Fernost.
Verheugen: Für diejenigen, die mit ihren Schiffen dort ankommen und dort entladen wollen, stellt sich die Kostenfrage anders, wenn ihnen die Möglichkeit gegeben wird, die Entladung des Schiffes mit eigenen Kräften vorzunehmen. Ich will aber das gar nicht hier verteidigen, weil das nicht meine Zuständigkeit ist, und weil ich als Mitglied der Kommission gehalten bin, die Position der Kommission zu vertreten.
Ich wollte darauf hinweisen, dass es ein ziemlich typischer Interessenkonflikt ist, der sich hier darstellt. Auf der einen Seite eben die Forderung nach Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit, auf der anderen Seite die Forderung, dass Arbeitsplätze, wo auch immer wir sie haben, erhalten werden müssen - auch dann, wenn sie unter Umständen nicht wettbewerbsfähig sind. Und hier wird man sich darauf einstellen müssen, dass solche Konflikte noch öfter vorkommen.
Deutschlandradio Kultur: Dahinter liegt ja gleichzeitig noch ein strukturelles Problem. Das alte Bild, dass die EU versucht, durch europaweit einheitliche Regelungen den Wettbewerb zu fördern. Auf der anderen Seite ist es die EU, die ja gleichzeitig das Subsidiaritätsprinzip fördern will, das auch in diesem Fall heißen könnte, Wettbewerb entsteht auch durch jeweils eigene nationale Richtlinien, durch konkrete nationale Bedingungen…
Verheugen: Entschuldigen Sie, dass ich widerspreche, aber an dieser Stelle muss ich wirklich scharf widersprechen. Ihrer Frage liegt ein wirklich grundlegender Irrtum zugrunde. Wir haben keine nationalen Märkte mehr, also können wir auch keine nationalen Regeln mehr haben, die den Wettbewerb auf den Märkten regeln, sondern wir haben einen europäischen Binnenmarkt. Und der europäische Binnenmarkt kann nur funktionieren, wenn Wettbewerbsverzerrungen ausgeschlossen werden.
Konstituierend für einen Markt ist nun einmal der Wettbewerb, und der muss nach fairen und gleichen Regeln erfolgen. Und das ganze Ziel der Politik des europäischen Binnenmarktes ist es ja, durch Vereinheitlichung der Regeln dafür zu sorgen, dass die Wettbewerbsbedingungen überall gleich sind.
Deutschlandradio Kultur: 2005, Herr Verheugen, war kein besonders einfaches Jahr für die EU, unter anderem deshalb, weil die Verfassung auf Eis liegt, nachdem es abgesagte Referenden gegeben hat, vor allem Referenden mit einem klaren Nein zum Verfassungsvertrag gegeben hat. Man hat sich dann eine Denkpause verordnet, und Sie gehörten zu denjenigen, die beklagt haben, dass das eher offenbar eine Pause vom Denken, als eine Pause zum Denken war. Wie soll es denn jetzt weitergehen?
Verheugen: Das Denken muss jetzt wirklich beginnen. Ich will zur Entschuldigung sagen, dass natürlich in den letzten Monaten diejenigen, die hier zum Denken aufgefordert waren, auch mit anderen Fragen sehr stark beschäftigt waren. Wir hatten ja noch ein anderes, nicht geringes Problem innerhalb der europäischen Union zu lösen, nämlich die Sicherung der finanziellen Grundlagen der Gemeinschaft für die Zeit bis 2013. Das ist jetzt geregelt, und jetzt sollte man den Kopf frei haben für diese Frage.
Meine Meinung hier ist, dass etwa gegen Mitte des Jahres die Staats- und Regierungschefs bei einem europäischen Rat eine vorläufige Bilanz ziehen müssen, und dass sie eine Art von Fahrplan aufstellen sollten, wie es nun weitergehen soll. Und da sind eine Reihe von Fragen zu beantworten. Die wichtigste Frage ist natürlich die: Wird das Verfassungsprojekt weiter getrieben und wenn ja, in welcher Form?
Und ich möchte hier sehr deutlich sagen, auch für die ganze Kommission: Wir dürfen dieses Projekt nicht aufgeben. Wir können mit den vertraglichen Grundlagen, die wir heute haben, die Aufgaben des 21. Jahrhunderts nicht lösen.
Man kann reden über die Form, und ganz sicher wird man darüber reden müssen, ob es sinnvoll ist, den Versuch zu unternehmen, das in den Niederlanden und in Frankreich gescheiterte Projekt in derselben Form noch einmal in Gang zu setzen.
Deutschlandradio Kultur: Wäre es?
Verheugen: Das Schicksal dieses Entwurfes ist mehr als ungewiss, und alle Signale, die ich höre, deuten ja eher darauf hin, dass man kaum damit rechnen kann, dass der in zwei Ländern bereits abgelehnte Entwurf in diesen Ländern in derselben Form noch einmal zur Abstimmung gestellt wird. Der niederländische Außenminister hat das übrigens ja gerade in dieser Woche klargestellt, dass die Niederlande nicht daran denken, das zu tun.
Deutschlandradio Kultur: "Der Verfassungsvertrag ist tot", hat er gesagt.
Verheugen: Ja. Er war der erste, der das öffentlich gesagt hat. Das würde dazu führen, dass man sich darauf verständigen muss, welche Änderungen an den jetzigen vertraglichen Grundlagen unbedingt notwendig sind, und wie und wann wir sie erreichen.
Eine ganze Reihe von Dingen ist unbedingt notwendig. Natürlich brauchen wir mehr Demokratie in der Europäischen Union. Wir brauchen außen- und sicherheitspolitische Instrumente, die es uns erlauben, unserer internationalen Verantwortung gerecht zu werden, und vor allen Dingen brauchen wir einen institutionellen Rahmen, der es uns erlaubt, handlungsfähig zu sein in jeder gegebenen Situation.
Ich glaube nicht, dass es ein Erfolg versprechender Weg wäre, jetzt einzelne Elemente herauszunehmen und zu sagen, die setzen wir mal vorsorglich in Kraft. Das würde nämlich dazu führen, dass die Balance des gesamten Projektes gestört wird, denn jede einzelne Maßnahme, die darin enthalten ist, stellt ja einen Kompromiss dar, und Mitgliedsländer haben einer bestimmten Idee - nehmen wir etwa die Schaffung eines europäischen Außenministers - zugestimmt, weil sie dafür an anderer Stelle eine Konzession erhalten haben, und deshalb glaube ich nicht, dass es ein Erfolg versprechender Weg ist, einzelne Elemente herauszusuchen.
Deutschlandradio Kultur: Aber genau das hat ja in der vergangenen Woche der französische Staatspräsident Jacques Chirac versucht. Der hat ja gesagt, sofern diese Verfassung in der gegebenen Form keine Chance hat, komplett angenommen zu werden, wäre es doch sinnvoller, man greift sich die konsensfähigen Teile heraus. Und er hat Punkte herausgegriffen, die Sie erwähnt haben - die Außen-, die Sicherheits- und die Verteidigungspolitik, und sagte, vielleicht sei es ja sinnvoller, zumindest darüber einen gemeinsamen Konsens herzustellen, und die dann für die europäische Union in Kraft treten zu lassen.
Verheugen: Ich glaube, dass jede konsensuale Lösung in Ordnung ist. Also das, worauf man sich verständigen kann, das sollte man dann auch tun. Aber ich glaube nicht, dass es möglich ist, ein Stück oder auch nur zwei Stücke herauszusuchen und zu sagen, das machen wir und das andere machen wir nicht.
Deutschlandradio Kultur: Das klingt nach einer Art drittem Weg, der sich uns erstmal spontan noch nicht erschließt.
Verheugen: Mir auch nicht.
Deutschlandradio Kultur: Einerseits sagt man, man soll dieses Vertragswerk nicht zerpflücken, die Balance geht verloren, Einzelteile rauspicken ist nicht gut. Andererseits sagt man, sagen Sie auch eben wieder, man kann das Ganze, so wie es vorliegt, nicht einfach noch mal von vorne verabschieden lassen. Also wo ist der dritte Weg?
Verheugen: Man könnte sich sicherlich auch darauf verständigen, dass man einen Text vorlegt, der der europäischen Idee einer Verfassung näher kommt, indem man sich auf das Wesentliche beschränkt. Nämlich die Grundsätze, der institutionelle Aufbau, die Entscheidungsverfahren, die Grundwerte, an denen man orientiert ist, und die Ziele. Das wäre ja auch eine Möglichkeit.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben mehrfach schon das Wort "Fahrplan" erwähnt. Könnten Sie sich vorstellen, in welchen Zeiträumen denn so etwas zu schaffen wäre, 2006 doch aller Wahrscheinlichkeit nach nicht?
Verheugen: Nein, 2006 nicht. Und die Frage ist heute nicht zu beantworten, weil ich nicht erkennen kann, ob der Zeitpunkt Mitte 2006, den ich als den erwünschten Zeitpunkt genannt habe, tatsächlich schon reif ist, um die Entscheidung zu treffen, also ob die Staats- und Regierungschefs zu diesem Zeitpunkt bereit sein werden, bereits zu sagen, wir machen weiter mit der Verfassung, so wie sie vorlag, oder wir machen nicht weiter mit der Verfassung, wir machen weiter mit einem neuen Text oder wir machen weiter mit einer schlichten Weiterentwicklung der existierenden vertraglichen Grundlagen. Das weiß ich nicht.
Und ich glaube, dass man diese Frage auch erst beantworten kann, wenn man ein paar andere Fragen beantwortet hat, die viel fundamentaler sind und viel umfassender - nämlich die Fragen etwa, wie soll es überhaupt weitergehen mit Europa? Und die Menschen fragen doch nicht nach der Verfassung, sondern die Menschen fragen doch, was für ein Europa wollen wir eigentlich? Also was soll Europa tun, was soll Europa nicht tun? Was für eine politische Gestalt soll dieses Europa haben? Wie groß kann dieses Europa sein? Was für Fähigkeiten muss es haben, damit wir angesichts der Stürme der Globalisierung wettbewerbsfähig bleiben? Was müssen wir tun, damit wir ein international handlungsfähiger Akteur sind und nicht zum Spielball der Machtinteressen werden? Und: Was können und müssen wir tun, um Europa zu einem demokratischen Projekt der Bürgerinnen und Bürger selber zu machen?
Deutschlandradio Kultur: Fehlt es vor diesem Hintergrund, den Sie gerade beschrieben haben, nicht an mutigen Europäern wie Helmut Kohl oder dem ehemaligen französischen Staatspräsidenten François Mitterrand, die den europäischen Gedanken weiter vorantreiben? Sie selbst haben einmal gesagt, Europa lechzt nach Führung.
Verheugen: Ja, wir haben ganz gewiss ein Führungsvakuum in der europäischen Politik, das nicht von der Kommission allein gefüllt werden kann. Die Kommission kann immer nur so stark sein, wie die Mitgliedsstaaten es tatsächlich erlauben. Und dieses Führungsvakuum hängt nach meiner Meinung damit zusammen, dass es keine gemeinsame Vision von der Zukunft Europas gibt. Ganz allgemein gesagt, gibt es schon zwei sehr unterschiedliche Vorstellungen von der Zukunft Europas.
Die einen, die Anspruchsvolleren, zu denen ich gehöre, wollen eine wirkliche politische Union, ein wirklich handlungsfähiges Europa, das überall da gemeinsam handelt, wo Mitgliedstaaten alleine nicht mehr in der Lage sind, die Interessen und Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger zu erfüllen. Andere würden sich begnügen mit einer etwas weiter entwickelten Freihandelszone - also Europa reduzieren auf den großen Binnenmarkt. Irgendwann wird man sagen müssen, wohin wir tatsächlich wollen.
Deutschlandradio Kultur: Oder eben sich damit abfinden, dass wir ein Europa der verschiedenen Intensitäten und der verschiedenen Geschwindigkeiten haben und haben werden. Muss man unter Umständen dann auch bereit sein, den einen oder anderen gänzlich hinter sich zu lassen? Es soll ja in dem Verfassungsvertrag, wenn er ratifiziert wäre, auch eine Austrittsklausel geben.
Verheugen: Ob man so eine Klausel hat oder nicht ist, offen gesagt, ist ziemlich egal. Denn Sie können ein Land, das nicht mehr will, nicht festhalten. Sie können ja nicht ein Land mit Waffengewalt zwingen, in der Europäischen Union zu bleiben.
In meinen Augen ist die zu bevorzugende Lösung die, dass wir weitermachen sollen mit der Integration der 25 oder bald der 27 und noch einigen mehr, dass wir immer versuchen sollten, den Fortschritt gemeinsam zu erreichen mit allen, selbst wenn es ein bisschen länger dauert und ein bisschen schwieriger wird. Alle die anderen Ideen, die da im Schwange sind, haben doch Nachteile gegenüber der gemeinsamen Integration. Ich will aber nicht ausschließen, dass eine Situation eintreten kann, in der das Instrument einer verstärkten Zusammenarbeit einiger tatsächlich benutzt werden muss.
Deutschlandradio Kultur: Es existiert doch schon. Der Euroraum ist so eine Form davon.
Verheugen: Ja, richtig, Wir haben das bereits beim Euro. Wir haben es im Grunde sogar bei der Außen- und Sicherheitspolitik, wo Dänemark ja z.B. nicht mitmacht. Wir haben diese verschiedenen Geschwindigkeiten oder diese verschiedene Intensität ja schon.
Es ist aber nicht wünschenswert. Es schafft in Wahrheit ja nur Probleme. Es kann sein, dass das passiert, und es kann sein, dass wir in die Lage kommen, wo diejenigen, die es können und wollen, eine stärkere politische Union innerhalb der Union bilden müssen, weil sonst kein Fortschritt möglich ist. Und das wäre vertretbar, wenn ein solches System offen bleibt. Man dürfte das also nicht als einen geschlossenen Club innerhalb der Union anlegen, sondern müsste offen sein für alle.
Man kann sich sogar - aber jetzt komme ich ein bisschen ins Theoretisieren - man kann sich sogar vorstellen, dass solche verdichteten Kerne je nach Gegenstand in wechselnder Zusammensetzung entstehen. Ich muss Ihnen aber sagen, von den praktischen Abläufen her, ist das alles ein Alptraum.
Deutschlandradio Kultur: Herr Verheugen, Sie haben schon davon gesprochen, dass Europa sich auch entscheiden muss, wo es eigentlich hin will. Nun hat es sich ja 2000 zumindest ein Teilziel ganz klar gesetzt: man will der wettbewerbsfähigste Raum innerhalb der Welt werden, möglichst bis 2010 oder später. Die berühmte Lissabon-Agenda sollte den Weg dahin weisen. Sie wissen selbst, die Halbzeitbilanz ist, ernüchternd ausgefallen. Man hat beschlossen, dass man die Reform-Agenda abspecken will. Auch da ist weniger vielleicht mehr. Wenn man sich jetzt den hart erkämpften Finanzrahmen zwischen 2007 und 2013 anschaut - setzt der denn vor dem Hintergrund dessen, was man erreichen will, die richtigen Akzente, wird das Geld richtig verteilt?
Verheugen: Ich glaube nicht. Die Kommission hatte ja auch einen anderen Vorschlag gemacht. Die Kommission hatte ja vorgeschlagen, dass wir die Struktur des Haushaltes verändern und deutlich mehr aufwenden für Zukunftsaufgaben, also für Forschung, für Entwicklung, für Innovation, für moderne Infrastruktur.
Deutschlandradio Kultur: Das sind jetzt nur acht Prozent des EU-Haushalts.
Verheugen: Das aber hat die Kommission erreichen wollen durch eine Ausweitung des Finanzrahmens. Nun wollen die Mitgliedsländer so viel nicht zahlen, und das hat dazu geführt, dass der Vorschlag der Kommission gerade bei diesen Zukunftsaufgaben zurück geschnitten worden ist. Er ist zwar deutlich besser als bisher, das muss man auch sagen, insbesondere im Forschungsbereich, aber für mich nicht zufrieden stellend, und deshalb setze ich meine Hoffnungen und Erwartungen auf die ebenfalls beschlossene Überprüfung des gesamten Zahlenwerks, die im Jahr 2008 stattfinden wird.
Es wird sehr darauf ankommen, wie mutig die Kommission dabei vorgeht. Jedenfalls ist hier noch einmal eine Chance gegeben, den Kurs deutlich zu korrigieren und Sie dürfen sich darauf verlassen, dass ich meine ganze Kraft in der Kommission dafür einsetzen werde, diese Kurskorrektur zu erreichen.
Wir müssen zukunftsfähig werden dadurch, dass wir Europa wettbewerbsfähig machen durch Spitzentechnologie, durch Spitzenqualität, durch Spitzenleistung in allen Bereichen, und das können wir nur schaffen, wenn wir in unsere Zukunft investieren.
Deutschlandradio Kultur: Aber muss man nicht damit fürchten, dass die nationalen Egoismen, die auch zu den schwierigen Finanzverhandlungen im vergangenen Jahr geführt haben, auch 2008 gleichermaßen ungebremst auf diese Europäische Kommission treffen werden und die Schwierigkeiten nicht weniger groß sein werden, als man sie jetzt bei den Finanzverhandlungen für den Finanzrahmen bis 2013 schon erleben konnte?
Verheugen: Befürchten muss man das immer, aber bis dahin können sich die Rahmenbedingungen auch etwas verändert haben. Also wir können eine bessere wirtschaftliche Situation haben in Europa. Wir können ein stärkeres und solideres Wachstum erreicht haben, das würde uns mehr Spielräume erlauben.
Ich setze meine Hoffnungen vor allem auf die neue deutsche Regierung, von der wir in Brüssel erwarten, dass sie Deutschland auf einen soliden und stabilen und nachhaltigen Wachstumskurs zurückbringen. Und wenn die deutsche Lokomotive wieder unter Dampf wäre, würde auch der europäische Zug insgesamt Fahrt aufnehmen und wir würden solche Spielräume gewinnen.
Deutschlandradio Kultur: Die deutsche Lokomotive wieder auf Fahrt bringen - die große Hoffnung der großen Koalition besteht ja darin, dass man spätestens im Jahr 2007 auch die europäischen Kriterien für den Stabilitätspakt wieder wird einhalten können. In einigen Wochen muss aber die europäische Kommission gemeinsam mit der Bundesrepublik über das noch anstehende Defizitverfahren gegen Deutschland entscheiden. Glauben Sie, dass dieses Verfahren wieder aufgenommen wird oder hat die neue Regierung angesichts ihrer Wirtschaftsprogramme, die sie aufgelegt hat, gute Karten, dass dieses Verfahren aufgeschoben wird?
Verheugen: Ich kann an dieser Stelle die Entscheidung der Kommission nicht vorwegnehmen. Zunächst ist wichtig festzuhalten, dass die neue deutsche Regierung sich in einer, wie ich finde, sehr bindenden Form dazu verpflichtet hat, im Jahre 2007 das Stabilitätsziel wieder zu erreichen - übrigens nicht nur, um europäischen Vorgaben zu entsprechen. Man muss das ganz deutlich sagen. Es liegt zuerst im deutschen Interesse selber, denn ohne eine Konsolidierung der Staatsfinanzen wird Deutschland wirtschaftlich nicht wieder Fahrt aufnehmen können. Es ist eine zwingende Vorraussetzung für eine wirtschaftliche Erholung und einen wirtschaftlichen Aufschwung in Deutschland, dass die Staatsfinanzen in Ordnung gebracht werden. Das muss man in Deutschland verstehen, es geht hier nicht nur um die formale Erfüllung von europäischen Kriterien.
Günter Verheugen wurde am 28. April 1944 in Bad Kreuznach geboren. Er studierte Geschichte, Soziologie und Politische Wissenschaften an den Universitäten Köln und Bonn. Verheugen war zunächst Generalsekretär der FDP. Der SPD trat er 1982 aufgrund des Koalitionswechsels der FDP zur CDU bei. Verheugen hatte neben weiteren Ämtern innerhalb und außerhalb der SPD, das Amt des Sprechers des SPD-Parteivorstands inne und war als stellvertretender Vorsitzender der SPD-Fraktion im Bundestag für Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik zuständig. Im September 1999 wurde Verheugen Mitglied der EU-Kommission, wo er für eine Amtszeit die Zuständigkeit für die EU-Erweiterung übernahm. Seit November 2004 ist er Vizepräsident der Europäischen Kommission und als EU-Kommissar zuständig für Unternehmen und Industrie.
Verheugen: Also ich glaube nicht, dass man das so verallgemeinern kann. Aber wir haben es mit einem ganz klassischen Zielkonflikt zu tun. Wir haben es einerseits zu tun mit der Frage, wie können wir die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft, in diesem Falle jetzt eines wichtigen Dienstleistungsbereichs im internationalen Wettbewerb stärken, und das geht natürlich nur dadurch, dass man die Kosten senkt…
Deutschlandradio Kultur: Aber die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Häfen ist doch schon sehr groß. Sie sind doch schon jetzt billiger, die deutschen Häfen, als beispielsweise die in Fernost.
Verheugen: Für diejenigen, die mit ihren Schiffen dort ankommen und dort entladen wollen, stellt sich die Kostenfrage anders, wenn ihnen die Möglichkeit gegeben wird, die Entladung des Schiffes mit eigenen Kräften vorzunehmen. Ich will aber das gar nicht hier verteidigen, weil das nicht meine Zuständigkeit ist, und weil ich als Mitglied der Kommission gehalten bin, die Position der Kommission zu vertreten.
Ich wollte darauf hinweisen, dass es ein ziemlich typischer Interessenkonflikt ist, der sich hier darstellt. Auf der einen Seite eben die Forderung nach Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit, auf der anderen Seite die Forderung, dass Arbeitsplätze, wo auch immer wir sie haben, erhalten werden müssen - auch dann, wenn sie unter Umständen nicht wettbewerbsfähig sind. Und hier wird man sich darauf einstellen müssen, dass solche Konflikte noch öfter vorkommen.
Deutschlandradio Kultur: Dahinter liegt ja gleichzeitig noch ein strukturelles Problem. Das alte Bild, dass die EU versucht, durch europaweit einheitliche Regelungen den Wettbewerb zu fördern. Auf der anderen Seite ist es die EU, die ja gleichzeitig das Subsidiaritätsprinzip fördern will, das auch in diesem Fall heißen könnte, Wettbewerb entsteht auch durch jeweils eigene nationale Richtlinien, durch konkrete nationale Bedingungen…
Verheugen: Entschuldigen Sie, dass ich widerspreche, aber an dieser Stelle muss ich wirklich scharf widersprechen. Ihrer Frage liegt ein wirklich grundlegender Irrtum zugrunde. Wir haben keine nationalen Märkte mehr, also können wir auch keine nationalen Regeln mehr haben, die den Wettbewerb auf den Märkten regeln, sondern wir haben einen europäischen Binnenmarkt. Und der europäische Binnenmarkt kann nur funktionieren, wenn Wettbewerbsverzerrungen ausgeschlossen werden.
Konstituierend für einen Markt ist nun einmal der Wettbewerb, und der muss nach fairen und gleichen Regeln erfolgen. Und das ganze Ziel der Politik des europäischen Binnenmarktes ist es ja, durch Vereinheitlichung der Regeln dafür zu sorgen, dass die Wettbewerbsbedingungen überall gleich sind.
Deutschlandradio Kultur: 2005, Herr Verheugen, war kein besonders einfaches Jahr für die EU, unter anderem deshalb, weil die Verfassung auf Eis liegt, nachdem es abgesagte Referenden gegeben hat, vor allem Referenden mit einem klaren Nein zum Verfassungsvertrag gegeben hat. Man hat sich dann eine Denkpause verordnet, und Sie gehörten zu denjenigen, die beklagt haben, dass das eher offenbar eine Pause vom Denken, als eine Pause zum Denken war. Wie soll es denn jetzt weitergehen?
Verheugen: Das Denken muss jetzt wirklich beginnen. Ich will zur Entschuldigung sagen, dass natürlich in den letzten Monaten diejenigen, die hier zum Denken aufgefordert waren, auch mit anderen Fragen sehr stark beschäftigt waren. Wir hatten ja noch ein anderes, nicht geringes Problem innerhalb der europäischen Union zu lösen, nämlich die Sicherung der finanziellen Grundlagen der Gemeinschaft für die Zeit bis 2013. Das ist jetzt geregelt, und jetzt sollte man den Kopf frei haben für diese Frage.
Meine Meinung hier ist, dass etwa gegen Mitte des Jahres die Staats- und Regierungschefs bei einem europäischen Rat eine vorläufige Bilanz ziehen müssen, und dass sie eine Art von Fahrplan aufstellen sollten, wie es nun weitergehen soll. Und da sind eine Reihe von Fragen zu beantworten. Die wichtigste Frage ist natürlich die: Wird das Verfassungsprojekt weiter getrieben und wenn ja, in welcher Form?
Und ich möchte hier sehr deutlich sagen, auch für die ganze Kommission: Wir dürfen dieses Projekt nicht aufgeben. Wir können mit den vertraglichen Grundlagen, die wir heute haben, die Aufgaben des 21. Jahrhunderts nicht lösen.
Man kann reden über die Form, und ganz sicher wird man darüber reden müssen, ob es sinnvoll ist, den Versuch zu unternehmen, das in den Niederlanden und in Frankreich gescheiterte Projekt in derselben Form noch einmal in Gang zu setzen.
Deutschlandradio Kultur: Wäre es?
Verheugen: Das Schicksal dieses Entwurfes ist mehr als ungewiss, und alle Signale, die ich höre, deuten ja eher darauf hin, dass man kaum damit rechnen kann, dass der in zwei Ländern bereits abgelehnte Entwurf in diesen Ländern in derselben Form noch einmal zur Abstimmung gestellt wird. Der niederländische Außenminister hat das übrigens ja gerade in dieser Woche klargestellt, dass die Niederlande nicht daran denken, das zu tun.
Deutschlandradio Kultur: "Der Verfassungsvertrag ist tot", hat er gesagt.
Verheugen: Ja. Er war der erste, der das öffentlich gesagt hat. Das würde dazu führen, dass man sich darauf verständigen muss, welche Änderungen an den jetzigen vertraglichen Grundlagen unbedingt notwendig sind, und wie und wann wir sie erreichen.
Eine ganze Reihe von Dingen ist unbedingt notwendig. Natürlich brauchen wir mehr Demokratie in der Europäischen Union. Wir brauchen außen- und sicherheitspolitische Instrumente, die es uns erlauben, unserer internationalen Verantwortung gerecht zu werden, und vor allen Dingen brauchen wir einen institutionellen Rahmen, der es uns erlaubt, handlungsfähig zu sein in jeder gegebenen Situation.
Ich glaube nicht, dass es ein Erfolg versprechender Weg wäre, jetzt einzelne Elemente herauszunehmen und zu sagen, die setzen wir mal vorsorglich in Kraft. Das würde nämlich dazu führen, dass die Balance des gesamten Projektes gestört wird, denn jede einzelne Maßnahme, die darin enthalten ist, stellt ja einen Kompromiss dar, und Mitgliedsländer haben einer bestimmten Idee - nehmen wir etwa die Schaffung eines europäischen Außenministers - zugestimmt, weil sie dafür an anderer Stelle eine Konzession erhalten haben, und deshalb glaube ich nicht, dass es ein Erfolg versprechender Weg ist, einzelne Elemente herauszusuchen.
Deutschlandradio Kultur: Aber genau das hat ja in der vergangenen Woche der französische Staatspräsident Jacques Chirac versucht. Der hat ja gesagt, sofern diese Verfassung in der gegebenen Form keine Chance hat, komplett angenommen zu werden, wäre es doch sinnvoller, man greift sich die konsensfähigen Teile heraus. Und er hat Punkte herausgegriffen, die Sie erwähnt haben - die Außen-, die Sicherheits- und die Verteidigungspolitik, und sagte, vielleicht sei es ja sinnvoller, zumindest darüber einen gemeinsamen Konsens herzustellen, und die dann für die europäische Union in Kraft treten zu lassen.
Verheugen: Ich glaube, dass jede konsensuale Lösung in Ordnung ist. Also das, worauf man sich verständigen kann, das sollte man dann auch tun. Aber ich glaube nicht, dass es möglich ist, ein Stück oder auch nur zwei Stücke herauszusuchen und zu sagen, das machen wir und das andere machen wir nicht.
Deutschlandradio Kultur: Das klingt nach einer Art drittem Weg, der sich uns erstmal spontan noch nicht erschließt.
Verheugen: Mir auch nicht.
Deutschlandradio Kultur: Einerseits sagt man, man soll dieses Vertragswerk nicht zerpflücken, die Balance geht verloren, Einzelteile rauspicken ist nicht gut. Andererseits sagt man, sagen Sie auch eben wieder, man kann das Ganze, so wie es vorliegt, nicht einfach noch mal von vorne verabschieden lassen. Also wo ist der dritte Weg?
Verheugen: Man könnte sich sicherlich auch darauf verständigen, dass man einen Text vorlegt, der der europäischen Idee einer Verfassung näher kommt, indem man sich auf das Wesentliche beschränkt. Nämlich die Grundsätze, der institutionelle Aufbau, die Entscheidungsverfahren, die Grundwerte, an denen man orientiert ist, und die Ziele. Das wäre ja auch eine Möglichkeit.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben mehrfach schon das Wort "Fahrplan" erwähnt. Könnten Sie sich vorstellen, in welchen Zeiträumen denn so etwas zu schaffen wäre, 2006 doch aller Wahrscheinlichkeit nach nicht?
Verheugen: Nein, 2006 nicht. Und die Frage ist heute nicht zu beantworten, weil ich nicht erkennen kann, ob der Zeitpunkt Mitte 2006, den ich als den erwünschten Zeitpunkt genannt habe, tatsächlich schon reif ist, um die Entscheidung zu treffen, also ob die Staats- und Regierungschefs zu diesem Zeitpunkt bereit sein werden, bereits zu sagen, wir machen weiter mit der Verfassung, so wie sie vorlag, oder wir machen nicht weiter mit der Verfassung, wir machen weiter mit einem neuen Text oder wir machen weiter mit einer schlichten Weiterentwicklung der existierenden vertraglichen Grundlagen. Das weiß ich nicht.
Und ich glaube, dass man diese Frage auch erst beantworten kann, wenn man ein paar andere Fragen beantwortet hat, die viel fundamentaler sind und viel umfassender - nämlich die Fragen etwa, wie soll es überhaupt weitergehen mit Europa? Und die Menschen fragen doch nicht nach der Verfassung, sondern die Menschen fragen doch, was für ein Europa wollen wir eigentlich? Also was soll Europa tun, was soll Europa nicht tun? Was für eine politische Gestalt soll dieses Europa haben? Wie groß kann dieses Europa sein? Was für Fähigkeiten muss es haben, damit wir angesichts der Stürme der Globalisierung wettbewerbsfähig bleiben? Was müssen wir tun, damit wir ein international handlungsfähiger Akteur sind und nicht zum Spielball der Machtinteressen werden? Und: Was können und müssen wir tun, um Europa zu einem demokratischen Projekt der Bürgerinnen und Bürger selber zu machen?
Deutschlandradio Kultur: Fehlt es vor diesem Hintergrund, den Sie gerade beschrieben haben, nicht an mutigen Europäern wie Helmut Kohl oder dem ehemaligen französischen Staatspräsidenten François Mitterrand, die den europäischen Gedanken weiter vorantreiben? Sie selbst haben einmal gesagt, Europa lechzt nach Führung.
Verheugen: Ja, wir haben ganz gewiss ein Führungsvakuum in der europäischen Politik, das nicht von der Kommission allein gefüllt werden kann. Die Kommission kann immer nur so stark sein, wie die Mitgliedsstaaten es tatsächlich erlauben. Und dieses Führungsvakuum hängt nach meiner Meinung damit zusammen, dass es keine gemeinsame Vision von der Zukunft Europas gibt. Ganz allgemein gesagt, gibt es schon zwei sehr unterschiedliche Vorstellungen von der Zukunft Europas.
Die einen, die Anspruchsvolleren, zu denen ich gehöre, wollen eine wirkliche politische Union, ein wirklich handlungsfähiges Europa, das überall da gemeinsam handelt, wo Mitgliedstaaten alleine nicht mehr in der Lage sind, die Interessen und Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger zu erfüllen. Andere würden sich begnügen mit einer etwas weiter entwickelten Freihandelszone - also Europa reduzieren auf den großen Binnenmarkt. Irgendwann wird man sagen müssen, wohin wir tatsächlich wollen.
Deutschlandradio Kultur: Oder eben sich damit abfinden, dass wir ein Europa der verschiedenen Intensitäten und der verschiedenen Geschwindigkeiten haben und haben werden. Muss man unter Umständen dann auch bereit sein, den einen oder anderen gänzlich hinter sich zu lassen? Es soll ja in dem Verfassungsvertrag, wenn er ratifiziert wäre, auch eine Austrittsklausel geben.
Verheugen: Ob man so eine Klausel hat oder nicht ist, offen gesagt, ist ziemlich egal. Denn Sie können ein Land, das nicht mehr will, nicht festhalten. Sie können ja nicht ein Land mit Waffengewalt zwingen, in der Europäischen Union zu bleiben.
In meinen Augen ist die zu bevorzugende Lösung die, dass wir weitermachen sollen mit der Integration der 25 oder bald der 27 und noch einigen mehr, dass wir immer versuchen sollten, den Fortschritt gemeinsam zu erreichen mit allen, selbst wenn es ein bisschen länger dauert und ein bisschen schwieriger wird. Alle die anderen Ideen, die da im Schwange sind, haben doch Nachteile gegenüber der gemeinsamen Integration. Ich will aber nicht ausschließen, dass eine Situation eintreten kann, in der das Instrument einer verstärkten Zusammenarbeit einiger tatsächlich benutzt werden muss.
Deutschlandradio Kultur: Es existiert doch schon. Der Euroraum ist so eine Form davon.
Verheugen: Ja, richtig, Wir haben das bereits beim Euro. Wir haben es im Grunde sogar bei der Außen- und Sicherheitspolitik, wo Dänemark ja z.B. nicht mitmacht. Wir haben diese verschiedenen Geschwindigkeiten oder diese verschiedene Intensität ja schon.
Es ist aber nicht wünschenswert. Es schafft in Wahrheit ja nur Probleme. Es kann sein, dass das passiert, und es kann sein, dass wir in die Lage kommen, wo diejenigen, die es können und wollen, eine stärkere politische Union innerhalb der Union bilden müssen, weil sonst kein Fortschritt möglich ist. Und das wäre vertretbar, wenn ein solches System offen bleibt. Man dürfte das also nicht als einen geschlossenen Club innerhalb der Union anlegen, sondern müsste offen sein für alle.
Man kann sich sogar - aber jetzt komme ich ein bisschen ins Theoretisieren - man kann sich sogar vorstellen, dass solche verdichteten Kerne je nach Gegenstand in wechselnder Zusammensetzung entstehen. Ich muss Ihnen aber sagen, von den praktischen Abläufen her, ist das alles ein Alptraum.
Deutschlandradio Kultur: Herr Verheugen, Sie haben schon davon gesprochen, dass Europa sich auch entscheiden muss, wo es eigentlich hin will. Nun hat es sich ja 2000 zumindest ein Teilziel ganz klar gesetzt: man will der wettbewerbsfähigste Raum innerhalb der Welt werden, möglichst bis 2010 oder später. Die berühmte Lissabon-Agenda sollte den Weg dahin weisen. Sie wissen selbst, die Halbzeitbilanz ist, ernüchternd ausgefallen. Man hat beschlossen, dass man die Reform-Agenda abspecken will. Auch da ist weniger vielleicht mehr. Wenn man sich jetzt den hart erkämpften Finanzrahmen zwischen 2007 und 2013 anschaut - setzt der denn vor dem Hintergrund dessen, was man erreichen will, die richtigen Akzente, wird das Geld richtig verteilt?
Verheugen: Ich glaube nicht. Die Kommission hatte ja auch einen anderen Vorschlag gemacht. Die Kommission hatte ja vorgeschlagen, dass wir die Struktur des Haushaltes verändern und deutlich mehr aufwenden für Zukunftsaufgaben, also für Forschung, für Entwicklung, für Innovation, für moderne Infrastruktur.
Deutschlandradio Kultur: Das sind jetzt nur acht Prozent des EU-Haushalts.
Verheugen: Das aber hat die Kommission erreichen wollen durch eine Ausweitung des Finanzrahmens. Nun wollen die Mitgliedsländer so viel nicht zahlen, und das hat dazu geführt, dass der Vorschlag der Kommission gerade bei diesen Zukunftsaufgaben zurück geschnitten worden ist. Er ist zwar deutlich besser als bisher, das muss man auch sagen, insbesondere im Forschungsbereich, aber für mich nicht zufrieden stellend, und deshalb setze ich meine Hoffnungen und Erwartungen auf die ebenfalls beschlossene Überprüfung des gesamten Zahlenwerks, die im Jahr 2008 stattfinden wird.
Es wird sehr darauf ankommen, wie mutig die Kommission dabei vorgeht. Jedenfalls ist hier noch einmal eine Chance gegeben, den Kurs deutlich zu korrigieren und Sie dürfen sich darauf verlassen, dass ich meine ganze Kraft in der Kommission dafür einsetzen werde, diese Kurskorrektur zu erreichen.
Wir müssen zukunftsfähig werden dadurch, dass wir Europa wettbewerbsfähig machen durch Spitzentechnologie, durch Spitzenqualität, durch Spitzenleistung in allen Bereichen, und das können wir nur schaffen, wenn wir in unsere Zukunft investieren.
Deutschlandradio Kultur: Aber muss man nicht damit fürchten, dass die nationalen Egoismen, die auch zu den schwierigen Finanzverhandlungen im vergangenen Jahr geführt haben, auch 2008 gleichermaßen ungebremst auf diese Europäische Kommission treffen werden und die Schwierigkeiten nicht weniger groß sein werden, als man sie jetzt bei den Finanzverhandlungen für den Finanzrahmen bis 2013 schon erleben konnte?
Verheugen: Befürchten muss man das immer, aber bis dahin können sich die Rahmenbedingungen auch etwas verändert haben. Also wir können eine bessere wirtschaftliche Situation haben in Europa. Wir können ein stärkeres und solideres Wachstum erreicht haben, das würde uns mehr Spielräume erlauben.
Ich setze meine Hoffnungen vor allem auf die neue deutsche Regierung, von der wir in Brüssel erwarten, dass sie Deutschland auf einen soliden und stabilen und nachhaltigen Wachstumskurs zurückbringen. Und wenn die deutsche Lokomotive wieder unter Dampf wäre, würde auch der europäische Zug insgesamt Fahrt aufnehmen und wir würden solche Spielräume gewinnen.
Deutschlandradio Kultur: Die deutsche Lokomotive wieder auf Fahrt bringen - die große Hoffnung der großen Koalition besteht ja darin, dass man spätestens im Jahr 2007 auch die europäischen Kriterien für den Stabilitätspakt wieder wird einhalten können. In einigen Wochen muss aber die europäische Kommission gemeinsam mit der Bundesrepublik über das noch anstehende Defizitverfahren gegen Deutschland entscheiden. Glauben Sie, dass dieses Verfahren wieder aufgenommen wird oder hat die neue Regierung angesichts ihrer Wirtschaftsprogramme, die sie aufgelegt hat, gute Karten, dass dieses Verfahren aufgeschoben wird?
Verheugen: Ich kann an dieser Stelle die Entscheidung der Kommission nicht vorwegnehmen. Zunächst ist wichtig festzuhalten, dass die neue deutsche Regierung sich in einer, wie ich finde, sehr bindenden Form dazu verpflichtet hat, im Jahre 2007 das Stabilitätsziel wieder zu erreichen - übrigens nicht nur, um europäischen Vorgaben zu entsprechen. Man muss das ganz deutlich sagen. Es liegt zuerst im deutschen Interesse selber, denn ohne eine Konsolidierung der Staatsfinanzen wird Deutschland wirtschaftlich nicht wieder Fahrt aufnehmen können. Es ist eine zwingende Vorraussetzung für eine wirtschaftliche Erholung und einen wirtschaftlichen Aufschwung in Deutschland, dass die Staatsfinanzen in Ordnung gebracht werden. Das muss man in Deutschland verstehen, es geht hier nicht nur um die formale Erfüllung von europäischen Kriterien.
Günter Verheugen wurde am 28. April 1944 in Bad Kreuznach geboren. Er studierte Geschichte, Soziologie und Politische Wissenschaften an den Universitäten Köln und Bonn. Verheugen war zunächst Generalsekretär der FDP. Der SPD trat er 1982 aufgrund des Koalitionswechsels der FDP zur CDU bei. Verheugen hatte neben weiteren Ämtern innerhalb und außerhalb der SPD, das Amt des Sprechers des SPD-Parteivorstands inne und war als stellvertretender Vorsitzender der SPD-Fraktion im Bundestag für Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik zuständig. Im September 1999 wurde Verheugen Mitglied der EU-Kommission, wo er für eine Amtszeit die Zuständigkeit für die EU-Erweiterung übernahm. Seit November 2004 ist er Vizepräsident der Europäischen Kommission und als EU-Kommissar zuständig für Unternehmen und Industrie.