"Wir definieren Integration als Investition in die Menschen"
Der Leiter der kantonalen Integrationsstelle Basel, Thomas Kessler, glaubt, dass eine vorsorgende Integrationspolitik Kosten spart. Ohne Integration wachsen die Symptomkosten im Gesundheitsbereich und im sozialen Bereich enorm, sagte Kessler im Deutschlandradio Kultur. Die Stadt Basel geht aktiv auf Ausländer zu und bietet ihnen Sprachkurse sowie Wissensvermittlung über die Schweiz in ihrer Muttersprache an.
Kassel: Die Schweizer Industriestadt Basel hat einen einen so hohen Ausländeranteil oder Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund wie in etwa auch der Berliner Bezirk Neukölln, und es scheint ja überhaupt Gemeinsamkeiten zu geben. Die Neuköllner benennen ihre Schulen, wie wir inzwischen wissen, gerne nach Schweizer historischen Wiesen, aber es gibt offenbar auch große Unterschiede, denn die Stadt Basel hat ein völlig neues Konzept zur Integration vorgelegt. Zuständig für die Integration ist dort in Basel eine kantonale Einrichtung mit dem Namen "Integration Basel", und der Leiter dieser Einrichtung ist seit 1998 Thomas Kessler. Schönen guten Tag Herr Kessler!
Kessler: Guten Tag!
Kassel: Sie haben mal gesagt, Sie stellen das Ganze völlig auf den Kopf im Vergleich zu bisher. Was ist denn so neu und so revolutionär an Ihrem Integrationskonzept?
Kessler: Ja, bis in die 90er Jahre hatten wir auch den so genannten Defizitansatz, der Staat war passiv, hat sich um die Probleme gekümmert, zu helfen versucht und dabei vergessen, die Chancen zu nutzen, von Beginn weg zu wirken. Diesen Fehler haben wir festgestellt in den 90er Jahren, und dann hat die Regierung beschlossen, wir machen es genau umgekehrt, wir integrieren vom ersten Tag weg, wir nutzen die Chancen, wir geben Bildung und verkleinern so die Probleme.
Kassel: Das heißt aber auch, dass Sie nicht warten, bis die betroffenen Menschen zu Ihnen kommen, sondern Sie kommen zu denen?
Kessler: Genau. Sie werden schon vor der Anreise begrüßt, wenn das geht. Wir haben ja sehr viele Industrien hier, Forschungsstätten. Bevor die Menschen zu uns kommen, werden sie schon informiert. Wir gehen sogar zu ihnen nach England oder in die Herkunftsorte, und spätestens hier werden sie am 1. Tag begrüßt, informiert und je nach Bedarf dann auch in einen Kurs geschickt oder sonst unterstützt, je nach Bedürfnissen.
Kassel: In Deutschland sagt man ja immer, zwei Dinge müssen Menschen wirklich lernen, die integriert werden wollen, zum einen müssen sie Deutsch lernen und zum anderen müssen sie mindestens gewisse Kenntnisse erlernen darüber, wie unsere Gesellschaft funktioniert. Ist das im Prinzip auch das, was Sie in der Schweiz erwarten?
Kessler: Ja, das erwarten wir auch, aber wir sehen es gesamtheitlich, das heißt, wir wollen von Beginn weg auch Perspektiven schaffen. Die Schweiz ist ja sehr leistungs- und arbeitsbetont, das heißt, Deutschkenntnisse braucht es auf jeden Fall, man muss sich orientieren können, aber man muss auch Perspektiven haben, das heißt konkrete Aussichten auf gute Bildung und Arbeit, und das ist ebenso wichtig.
Kassel: Nun gibt es in Basel zwar relativ viele Menschen mit Migrationshintergrund, von denen kommen aber die allermeisten aus dem ehemaligen Jugoslawien, und es gibt auch große Gruppen, die kommen zum Beispiel aus Italien und sogar aus Deutschland. Sind denn dann in einer Stadt wie Basel die Integrationsprobleme überhaupt so groß?
Kessler: Ja, wir haben große Probleme aus den 80er und zu Beginn der 90er Jahren. Damals brauchte unsere Wirtschaft viele Hilfskräfte. Die wurden in Jugoslawien rekrutiert, in der Türkei, in Landgebieten, in bildungsfernen Zonen. Das war damals kein Problem, aber die Kinder sind in bildungsfernen Familien aufgewachsen, der Staat war zu wenig präsent, und diese Defizite, die spüren wir heute noch in den Schulen, und die müssen aufgearbeitet werden. Deshalb haben wir Projekte für diese Sekondos, aber auch für die Eltern, die wir damals geholt haben.
Kassel: Nun haben Sie am Anfang ja gesagt, dass Sie jetzt so weit sind, wenn das irgendwie geht, auf Leute, die neu nach Basel kommen, aus welchen Ländern auch immer, von Anfang an zuzugehen, vielleicht im Idealfallfall noch bevor sie da sind. Jetzt haben Sie aber ja auch erwähnt - und das Problem kennen wir auch in Deutschland -, viele sind schon da, zum Teil seit Jahrzehnten, und sind noch nicht integriert. Wie erreichen Sie denn die?
Kessler: Ja, für die haben wir so genannte aufsuchende Projekte. Wir gehen mit unseren Deutschlehrerinnen und Hortleiterinnen zu diesen Menschen, also zu den Frauen, die ihre Kinder hüten, in den Parks und in die Vereine und an alle Stellen, wo sich diese aufhalten. Wir analysieren auch über die Einwohnerkontrolle, wer hat Probleme, wer stößt an, und diese werden persönlich angeschrieben und aufgesucht, wenn nötig mit einem Mediator, also einem Fachmenschen aus diesen Kulturen selber.
Kassel: Jetzt haben Sie gerade Einwohnerkontrolle gesagt. In Deutschland würde sofort die Fahne hochgehen, Achtung Datenschutz! Was ist denn da Einwohnerkontrolle, wie finden Sie denn die Leute, die in Ihren Augen Probleme haben?
Kessler: Ja, die sind ja alle angemeldet bei unseren Diensten, und dort werden auch die Dossiers geführt, und die allermeisten Migranten haben keine Probleme. Bei uns leben ja über 30 Prozent Migranten aus über 153 Ländern, aber die kleine Minderheit, die Probleme hat, die fällt auf, weil sie beispielsweise die Steuern zu spät bezahlt oder sonst Probleme hat, und die werden direkt angeschrieben. Der Datenschutz ist bei uns nicht so sakrosankt wie in Deutschland. Wir haben ein positives Verhältnis zu dieser Kontrolle, weil wir dann gezielt die Menschen anschreiben können.
Kassel: Nun sagen Sie, Sie haben ein positives Verhältnis zu dieser Kontrolle. Das leuchtet ein, aber wie reagieren denn Menschen, die, ich formuliere es mal einfach, Sie nicht nach Hilfe gefragt haben, und Sie bieten denen trotzdem Hilfe an?
Kessler: Ja, sie reagieren alle eigentlich positiv, weil sie plötzlich einen proaktiven, selbstbewussten Staat erleben, der nicht länger wartet und zusieht, sondern direkt helfen will, und das sind häufig Menschen, die nicht auf bürokratische Kommunikation reagieren, auf Papiere, sondern auf persönliche Begegnungen, und deshalb schicken wir dann auch den Mediator vorbei, der ihnen das in der Muttersprache erklärt, und alle diese Leute, die dann einen Kurs besuchen, erleben das als Befreiung, als ersten Schritt in die Gleichstellung.
Kassel: Das heißt, Sie haben in der Schweiz oder konkret in Basel - für diesen Kanton sind Sie zuständig - kein Problem mit Menschen, die sagen, ich lebe in meiner Welt, ich lebe in einer islamischen oder irgendeiner anderen Gesellschaft und möchte mit der Schweizer Gesellschaft gar nichts zu tun haben?
Kessler: Ja, das können diese Menschen, wenn sie nicht in Probleme geraten. Wenn sie alle Gesetze einhalten und die Steuern bezahlen und niemanden stören, dann darf jeder in völliger Freiheit leben. Aber dort, wo es Probleme gibt, wenn wir feststellen, dass sie die Kinder gar nicht unterstützen können und sie deshalb Schwierigkeiten haben in der Schule, dort ist es nötig, ist es in ihrem Interesse - und das leuchtet allen Menschen ein, auch den ganz einfachen -, dass es für sie besser ist, wenn sie in die Integrationsprozesse aufgenommen werden und nicht isoliert leben.
Kassel: Das klingt aber so, als sei es auch in Basel möglich, in Parallelgesellschaften zu leben, solange diese Parallelgesellschaften die Schweizer Gesellschaft nicht stören.
Kessler: Ja, solange sie nicht stören, aber hier greifen wir auch ein über die Stadtentwicklung, wir möchten keine Ghettos, wir definieren das sozial und nicht über Ethnien und national. Für uns heißt Chancengleichheit sozialer Aufstieg, und deshalb investieren wir viel in diese Arbeiterquartiere, die sozial unterschichtet sind, wie man so sagt. Wir bauen dort neue Häuser, Immobilien für Mittelstandsfamilien, und investieren stark in die Bildung, dass dort auch Kinder aus sozial schwachen Familien eine wirklich gute Bildung erhalten.
Kassel: Aber können Sie denn wirklich, ich insistiere jetzt mal ein bisschen, ich kann mir das nicht richtig vorstellen, wirklich auch Leute überzeugen? Bleiben wir mal bei islamischen Familien, wir reden wie immer nicht von allen, aber es gibt zumindest in Deutschland welche, wo die Väter und auch die Mütter sagen, das ist eine Tochter, das heißt, das ist ein weibliches Wesen, die muss gar nichts lernen, die muss gar nicht richtig zur Schule gehen, das ist bei uns nicht üblich. Vermutlich gibt es auch in der Schweiz auch für muslimische Mädchen eine Schulpflicht. Gibt es denn da keine Konflikte?
Kessler: Es gibt ganz wenige Konflikte, und auch diese ganze Kopftuchgeschichte, ich habe es analysiert. Wir haben 47 Mädchen, die eins tragen. Dort gucken die Lehrer ganz genau, und wenn sie den Eindruck haben, die Förderung der Kinder sei ungenügend, dann werden die Eltern in ein Gespräch aufgefordert, und wenn wir feststellen, da gibt es Zurückhaltung oder patriarchalische Erziehungsansichten, dann arbeiten wir mit Mediatoren aus diesen Ländern, die ihnen ganz genau erklären, wie bei uns die Gesetzgebung ist, die Prinzipien, und dass hier vor allem auch die Mädchen sehr gut geschult werden müssen. Wir alle haben auch keine Dispensationen. Wir setzen die Verfassung ganz konsequent um.
Kassel: Das heißt aber am Schluss, ein bisschen Druck muss ein. Sie sagen schon, wir machen ganz, ganz viele Angebote, aber wenn ihr die alle nicht nutzt, dann ist irgendwann auch Schluss?
Kessler: Das ist klar. Das gehört zum selbstbewussten Auftritt. Das ist genau für Menschen aus dem Orient sehr wichtig, dass der Staat mit einer klaren Identität daherkommt und die Regelungen klar kommuniziert. Das tun wir. Das ist bei uns sehr einfach, das ist nämlich die Verfassung und die Gesetzgebung, dort steht alles drin, daran haben sich alle zu halten, und wenn das geklärt ist, dann kann man dann wirklich eine normale, gute Kommunikation führen. Ich besuche persönlich die konservativen religiösen Kreise, und der erste Punkt ist immer die Klärung der Regelungen, und die Regeln sind in unserer Verfassung definiert.
Kassel: Reden wir mal über das Praktische. Nun ist Basel eine für Schweizer Verhältnisse nicht, aber im Vergleich zu vielen deutschen Großstädten ja nicht so riesige Stadt, aber eine noch relativ wohlhabende. Wenn ich jetzt höre, wie Sie von Mediatoren reden, die dann in die Familien gehen, die die Sprachen oft sprechen, die die Einzelfälle betreuen, das ist aber doch ein relativ teures Konzept, oder?
Kessler: Auf den ersten Blick sieht es so aus. Es rechnet sich aber sehr schnell. Also wir definieren die Integration als Investition ins Potential, in die Menschen. Wir geben ihnen Unterstützung, Beratung, Bildung, Zugang zu Stellen. Das ist eine Investition, und wenn man die rechnet und verrechnet mit den Symptomkosten, die wir haben oder früher hatten wegen der fehlenden Integration, dann ist das ein Siebtel dieser Kosten. Das heißt, Integration rechnet sich, das ist unternehmerisch. Man steuert den Erfolg und erfasst den Misserfolg ganz früh und kann ihn korrigieren. Ohne Integration wachsen die Symptomkosten im Gesundheitsbereich, Justizbereich, Jugendunterstützungsbereich und in der Arbeitslosigkeit enorm, also, wissenschaftlich gesprochen, ins Siebenfache der Integration, die man nicht geleistet hat.
Kassel: Das heißt, man könnte daraus, was Sie jetzt gesagt haben, logisch schließen, auch in deutschen Großstädten, denen es finanziell möglicherweise sehr viel schlechter geht als Basel, wäre es trotzdem aus Ihrer Sicht sinnvoll, ähnliche Konzepte auszuprobieren?
Kessler: Unbedingt. Gerade wenn man ökonomische Probleme hat, zuwenig Geld, dann muss man erst Recht Integration betreiben, weil sonst die Kosten explodieren im Sozialbereich und bei all diesen Problemen. Die müssen dann zwangsläufig finanziert werden.
Kassel: Herzlichen Dank für das Gespräch.
Kessler: Guten Tag!
Kassel: Sie haben mal gesagt, Sie stellen das Ganze völlig auf den Kopf im Vergleich zu bisher. Was ist denn so neu und so revolutionär an Ihrem Integrationskonzept?
Kessler: Ja, bis in die 90er Jahre hatten wir auch den so genannten Defizitansatz, der Staat war passiv, hat sich um die Probleme gekümmert, zu helfen versucht und dabei vergessen, die Chancen zu nutzen, von Beginn weg zu wirken. Diesen Fehler haben wir festgestellt in den 90er Jahren, und dann hat die Regierung beschlossen, wir machen es genau umgekehrt, wir integrieren vom ersten Tag weg, wir nutzen die Chancen, wir geben Bildung und verkleinern so die Probleme.
Kassel: Das heißt aber auch, dass Sie nicht warten, bis die betroffenen Menschen zu Ihnen kommen, sondern Sie kommen zu denen?
Kessler: Genau. Sie werden schon vor der Anreise begrüßt, wenn das geht. Wir haben ja sehr viele Industrien hier, Forschungsstätten. Bevor die Menschen zu uns kommen, werden sie schon informiert. Wir gehen sogar zu ihnen nach England oder in die Herkunftsorte, und spätestens hier werden sie am 1. Tag begrüßt, informiert und je nach Bedarf dann auch in einen Kurs geschickt oder sonst unterstützt, je nach Bedürfnissen.
Kassel: In Deutschland sagt man ja immer, zwei Dinge müssen Menschen wirklich lernen, die integriert werden wollen, zum einen müssen sie Deutsch lernen und zum anderen müssen sie mindestens gewisse Kenntnisse erlernen darüber, wie unsere Gesellschaft funktioniert. Ist das im Prinzip auch das, was Sie in der Schweiz erwarten?
Kessler: Ja, das erwarten wir auch, aber wir sehen es gesamtheitlich, das heißt, wir wollen von Beginn weg auch Perspektiven schaffen. Die Schweiz ist ja sehr leistungs- und arbeitsbetont, das heißt, Deutschkenntnisse braucht es auf jeden Fall, man muss sich orientieren können, aber man muss auch Perspektiven haben, das heißt konkrete Aussichten auf gute Bildung und Arbeit, und das ist ebenso wichtig.
Kassel: Nun gibt es in Basel zwar relativ viele Menschen mit Migrationshintergrund, von denen kommen aber die allermeisten aus dem ehemaligen Jugoslawien, und es gibt auch große Gruppen, die kommen zum Beispiel aus Italien und sogar aus Deutschland. Sind denn dann in einer Stadt wie Basel die Integrationsprobleme überhaupt so groß?
Kessler: Ja, wir haben große Probleme aus den 80er und zu Beginn der 90er Jahren. Damals brauchte unsere Wirtschaft viele Hilfskräfte. Die wurden in Jugoslawien rekrutiert, in der Türkei, in Landgebieten, in bildungsfernen Zonen. Das war damals kein Problem, aber die Kinder sind in bildungsfernen Familien aufgewachsen, der Staat war zu wenig präsent, und diese Defizite, die spüren wir heute noch in den Schulen, und die müssen aufgearbeitet werden. Deshalb haben wir Projekte für diese Sekondos, aber auch für die Eltern, die wir damals geholt haben.
Kassel: Nun haben Sie am Anfang ja gesagt, dass Sie jetzt so weit sind, wenn das irgendwie geht, auf Leute, die neu nach Basel kommen, aus welchen Ländern auch immer, von Anfang an zuzugehen, vielleicht im Idealfallfall noch bevor sie da sind. Jetzt haben Sie aber ja auch erwähnt - und das Problem kennen wir auch in Deutschland -, viele sind schon da, zum Teil seit Jahrzehnten, und sind noch nicht integriert. Wie erreichen Sie denn die?
Kessler: Ja, für die haben wir so genannte aufsuchende Projekte. Wir gehen mit unseren Deutschlehrerinnen und Hortleiterinnen zu diesen Menschen, also zu den Frauen, die ihre Kinder hüten, in den Parks und in die Vereine und an alle Stellen, wo sich diese aufhalten. Wir analysieren auch über die Einwohnerkontrolle, wer hat Probleme, wer stößt an, und diese werden persönlich angeschrieben und aufgesucht, wenn nötig mit einem Mediator, also einem Fachmenschen aus diesen Kulturen selber.
Kassel: Jetzt haben Sie gerade Einwohnerkontrolle gesagt. In Deutschland würde sofort die Fahne hochgehen, Achtung Datenschutz! Was ist denn da Einwohnerkontrolle, wie finden Sie denn die Leute, die in Ihren Augen Probleme haben?
Kessler: Ja, die sind ja alle angemeldet bei unseren Diensten, und dort werden auch die Dossiers geführt, und die allermeisten Migranten haben keine Probleme. Bei uns leben ja über 30 Prozent Migranten aus über 153 Ländern, aber die kleine Minderheit, die Probleme hat, die fällt auf, weil sie beispielsweise die Steuern zu spät bezahlt oder sonst Probleme hat, und die werden direkt angeschrieben. Der Datenschutz ist bei uns nicht so sakrosankt wie in Deutschland. Wir haben ein positives Verhältnis zu dieser Kontrolle, weil wir dann gezielt die Menschen anschreiben können.
Kassel: Nun sagen Sie, Sie haben ein positives Verhältnis zu dieser Kontrolle. Das leuchtet ein, aber wie reagieren denn Menschen, die, ich formuliere es mal einfach, Sie nicht nach Hilfe gefragt haben, und Sie bieten denen trotzdem Hilfe an?
Kessler: Ja, sie reagieren alle eigentlich positiv, weil sie plötzlich einen proaktiven, selbstbewussten Staat erleben, der nicht länger wartet und zusieht, sondern direkt helfen will, und das sind häufig Menschen, die nicht auf bürokratische Kommunikation reagieren, auf Papiere, sondern auf persönliche Begegnungen, und deshalb schicken wir dann auch den Mediator vorbei, der ihnen das in der Muttersprache erklärt, und alle diese Leute, die dann einen Kurs besuchen, erleben das als Befreiung, als ersten Schritt in die Gleichstellung.
Kassel: Das heißt, Sie haben in der Schweiz oder konkret in Basel - für diesen Kanton sind Sie zuständig - kein Problem mit Menschen, die sagen, ich lebe in meiner Welt, ich lebe in einer islamischen oder irgendeiner anderen Gesellschaft und möchte mit der Schweizer Gesellschaft gar nichts zu tun haben?
Kessler: Ja, das können diese Menschen, wenn sie nicht in Probleme geraten. Wenn sie alle Gesetze einhalten und die Steuern bezahlen und niemanden stören, dann darf jeder in völliger Freiheit leben. Aber dort, wo es Probleme gibt, wenn wir feststellen, dass sie die Kinder gar nicht unterstützen können und sie deshalb Schwierigkeiten haben in der Schule, dort ist es nötig, ist es in ihrem Interesse - und das leuchtet allen Menschen ein, auch den ganz einfachen -, dass es für sie besser ist, wenn sie in die Integrationsprozesse aufgenommen werden und nicht isoliert leben.
Kassel: Das klingt aber so, als sei es auch in Basel möglich, in Parallelgesellschaften zu leben, solange diese Parallelgesellschaften die Schweizer Gesellschaft nicht stören.
Kessler: Ja, solange sie nicht stören, aber hier greifen wir auch ein über die Stadtentwicklung, wir möchten keine Ghettos, wir definieren das sozial und nicht über Ethnien und national. Für uns heißt Chancengleichheit sozialer Aufstieg, und deshalb investieren wir viel in diese Arbeiterquartiere, die sozial unterschichtet sind, wie man so sagt. Wir bauen dort neue Häuser, Immobilien für Mittelstandsfamilien, und investieren stark in die Bildung, dass dort auch Kinder aus sozial schwachen Familien eine wirklich gute Bildung erhalten.
Kassel: Aber können Sie denn wirklich, ich insistiere jetzt mal ein bisschen, ich kann mir das nicht richtig vorstellen, wirklich auch Leute überzeugen? Bleiben wir mal bei islamischen Familien, wir reden wie immer nicht von allen, aber es gibt zumindest in Deutschland welche, wo die Väter und auch die Mütter sagen, das ist eine Tochter, das heißt, das ist ein weibliches Wesen, die muss gar nichts lernen, die muss gar nicht richtig zur Schule gehen, das ist bei uns nicht üblich. Vermutlich gibt es auch in der Schweiz auch für muslimische Mädchen eine Schulpflicht. Gibt es denn da keine Konflikte?
Kessler: Es gibt ganz wenige Konflikte, und auch diese ganze Kopftuchgeschichte, ich habe es analysiert. Wir haben 47 Mädchen, die eins tragen. Dort gucken die Lehrer ganz genau, und wenn sie den Eindruck haben, die Förderung der Kinder sei ungenügend, dann werden die Eltern in ein Gespräch aufgefordert, und wenn wir feststellen, da gibt es Zurückhaltung oder patriarchalische Erziehungsansichten, dann arbeiten wir mit Mediatoren aus diesen Ländern, die ihnen ganz genau erklären, wie bei uns die Gesetzgebung ist, die Prinzipien, und dass hier vor allem auch die Mädchen sehr gut geschult werden müssen. Wir alle haben auch keine Dispensationen. Wir setzen die Verfassung ganz konsequent um.
Kassel: Das heißt aber am Schluss, ein bisschen Druck muss ein. Sie sagen schon, wir machen ganz, ganz viele Angebote, aber wenn ihr die alle nicht nutzt, dann ist irgendwann auch Schluss?
Kessler: Das ist klar. Das gehört zum selbstbewussten Auftritt. Das ist genau für Menschen aus dem Orient sehr wichtig, dass der Staat mit einer klaren Identität daherkommt und die Regelungen klar kommuniziert. Das tun wir. Das ist bei uns sehr einfach, das ist nämlich die Verfassung und die Gesetzgebung, dort steht alles drin, daran haben sich alle zu halten, und wenn das geklärt ist, dann kann man dann wirklich eine normale, gute Kommunikation führen. Ich besuche persönlich die konservativen religiösen Kreise, und der erste Punkt ist immer die Klärung der Regelungen, und die Regeln sind in unserer Verfassung definiert.
Kassel: Reden wir mal über das Praktische. Nun ist Basel eine für Schweizer Verhältnisse nicht, aber im Vergleich zu vielen deutschen Großstädten ja nicht so riesige Stadt, aber eine noch relativ wohlhabende. Wenn ich jetzt höre, wie Sie von Mediatoren reden, die dann in die Familien gehen, die die Sprachen oft sprechen, die die Einzelfälle betreuen, das ist aber doch ein relativ teures Konzept, oder?
Kessler: Auf den ersten Blick sieht es so aus. Es rechnet sich aber sehr schnell. Also wir definieren die Integration als Investition ins Potential, in die Menschen. Wir geben ihnen Unterstützung, Beratung, Bildung, Zugang zu Stellen. Das ist eine Investition, und wenn man die rechnet und verrechnet mit den Symptomkosten, die wir haben oder früher hatten wegen der fehlenden Integration, dann ist das ein Siebtel dieser Kosten. Das heißt, Integration rechnet sich, das ist unternehmerisch. Man steuert den Erfolg und erfasst den Misserfolg ganz früh und kann ihn korrigieren. Ohne Integration wachsen die Symptomkosten im Gesundheitsbereich, Justizbereich, Jugendunterstützungsbereich und in der Arbeitslosigkeit enorm, also, wissenschaftlich gesprochen, ins Siebenfache der Integration, die man nicht geleistet hat.
Kassel: Das heißt, man könnte daraus, was Sie jetzt gesagt haben, logisch schließen, auch in deutschen Großstädten, denen es finanziell möglicherweise sehr viel schlechter geht als Basel, wäre es trotzdem aus Ihrer Sicht sinnvoll, ähnliche Konzepte auszuprobieren?
Kessler: Unbedingt. Gerade wenn man ökonomische Probleme hat, zuwenig Geld, dann muss man erst Recht Integration betreiben, weil sonst die Kosten explodieren im Sozialbereich und bei all diesen Problemen. Die müssen dann zwangsläufig finanziert werden.
Kassel: Herzlichen Dank für das Gespräch.