Wir bleiben!

Von Svenja Pelzel |
Bürgerliche Familien sind bisher aus Berlin-Neukölln weggezogen, sobald ihre Kinder eingeschult werden mussten. Inzwischen engagieren sich bildungsbewusste Eltern, egal ob deutscher oder ausländischer Herkunft, in ihrer Kiezschule, damit sie ihr Wohnviertel nicht verlassen müssen.
Tag der offenen Tür in der Karlsgarten-Schule in Neukölln. Anneke Ulrich sitzt an einem niedrigen Tisch in einem großen, hellen Flur, dessen Betonwände jedes Wort doppelt verstärken - das Baby auf dem Schoß, mehrere Stapel bunter Flyer vor sich. Sie gehört zur Elterninitiative "Kiezschule für alle".

Seit zwei Jahren setzen sie und andere Eltern sich dafür ein, dass alle Kinder, die in der Gegend wohnen, auch hier zur Schule gehen. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Dass ihr Engagement aber Sinn macht, zeigen die vielen Mütter und Väter, die an diesem Morgen vorbei kommen und ihr Fragen stellen. Einen Vater hat sie gerade von der Schule überzeugt.

Christian Frei: "Also ich möchte unseren Kleinen nicht so in einer heilen Welt weg halten von allem, was nicht toll ist. Wir wohnen ja auch hier und man bekommt sowieso auch mit, wie es ist und von daher haben wir uns dafür entschieden, dass er auf eine Schule geht, die hier vor Ort ist."

Mehr als 80 Prozent der Schüler hier sind nichtdeutscher Herkunft. Der Ruf der Karlsgarten-Schule ist deshalb schlecht, bildungsorientierte Eltern meiden die Einrichtung, deutsche wie nichtdeutsche. "Typischer Spielplatztratsch", sagt Anneke Ulrich und regt sich ein bisschen auf. Mit der Realität habe der nichts zu tun. Sie schwärmt von der Schule, erzählt dass sich ihr Sohn Norman in seiner ersten Klasse super wohl fühlt. Ihr gefällt vor allem, dass alle Kinder individuell gefördert werden, dass zwei Lehrer pro Klasse unterrichten, die Gruppen altersgemischt sind. Deshalb engagiert sie sich.

Anneke Ulrich: "Weil das noch nicht alle Eltern so erkannt haben, dass es so ist, wie es ist. Also ich persönlich weiß zwei Beispiele, wo die Mutter schon gesagt hat, ja Mist, ich habe mir die Schule nicht mal angeguckt."

Stattdessen sind diese Eltern vor der Einschulung in einen wohlhabenderen Stadtteil umgezogen oder bezahlen eine teure Privatschule für ihre Söhne und Töchter. Für die Kinder bedeutet das oft längere Fahrtwege und Mitschüler, die weit weg wohnen. Anneke Ulrich findet es dagegen nicht wichtig, aus welchem Land die Mitschüler ihres Sohnes - oder besser gesagt, deren Eltern - ursprünglich stammen.

Anneke Ulrich: "Ich hab es nie nachgezählt, ehrlich gesagt. Es ist für mich nicht das Thema. In dem Moment, wo ich festgestellt habe, dass das eine gute Schule ist, und entschieden habe, dass das hier Normans Schule sein soll, in dem Moment zähle ich da jetzt nicht nach. Und zum Beispiel gibt es Kinder in der Klasse, die einen Migrationshintergrund haben, die aber perfekt Deutsch sprechen."

Neben Anneke Ulrich am Tisch sitzt Schulleiterin Brigitte Unger, beantwortet geduldig die vielen Fragen der neugierigen Eltern. Oft geht es um den Ausländeranteil an ihrer Schule, aber auch um Freizeitangebote, Fortbildung der Lehrer und das Schulkonzept. Die 62-Jährige leitet seit über neun Jahren die Karlsgarten Schule und hat sie in dieser Zeit gemeinsam mit ihrem Team modernisiert. Dass die Kiezeltern neuerdings die Werbetrommel rühren, freut sie natürlich. Aber eigentlich bräuchte ihre Schule gar keine Werbung, findet sie.

Brigitte Unger: "Wir haben ja nicht unsere Arbeitsweise oder die Ausstattung oder irgendwas an dieser Schule verändert, weil plötzlich die Kiezeltern kamen. Sondern dass, was die Eltern hier gesehen haben, ist das, was wir schon immer gemacht haben, und was die Kollegen schon immer gemacht haben: nämlich guten Unterricht mit einer hoch engagierten Kollegenschaft."

Plötzlich ein Drittel bildungsnahe Eltern
Doch die altbewährte Idee der Kiezeltern - tue Gutes und rede darüber, scheint auch in diesem Fall zu funktionieren.

Brigitte Unger: "Wir hatten einen Anteil von bildungsnahen Eltern, naja, ich kann ihnen das noch nicht mal in Prozent sagen. Das waren zwei oder drei Familien, die hierher kamen von 400 Kindern ungefähr. Und wir hatten im letzten Jahr bei der Anmeldung am Anfang ein Drittel plötzlich bildungsnahe Eltern."

Währenddessen beendet die gemischte Klasse der Erst-, Zweit- und Drittklässler im ersten Stock gerade die Pause mit einem Lied. Anschließend bekommen alle Kinder von ihren beiden Lehrerinnen unterschiedliche Deutschaufgaben, je nach persönlichem Können. Hinten im Klassenzimmer sitzen einige Mütter und Väter, verfolgen den Unterricht aufmerksam, zum Beispiel Funda Akacan. Die 33-Jährige stammt ursprünglich aus der Türkei, lebt aber seit 17 Jahren in Deutschland und arbeitet selbst als Lehrerin. Ihre Tochter besucht seit einem Jahr eine teure Privatschule.

Funda Akacan: "Ich bin selber Ausländerin, aber für mich ist Erziehung sehr wichtig und deshalb hatten wir eine Waldorfschule ausgesucht, da achten die auch darauf, aber es ist einfach zu weit und kostet auch. Das Kind soll sich einfach wohl fühlen, soll sich nicht besonders fühlen."

In der Klasse, in der Funda Akacan gerade sitzt, wird sich ihre Tochter ganz sicher nicht als etwas Besonderes fühlen. Sie ist einfach zu bunt gemischt: Es gibt zwei geistigbehinderte Kinder, blonde Mädchen, dunkelhaarige Jungs, ein Kind mit afrikanischen Wurzeln eines mit asiatischen. Funda Akacan beobachtet den Unterricht noch eine Weile, verlässt dann leise das Klassenzimmer. Sie will noch zum Elterncafé im Erdgeschoss, das einige türkische Mütter und Väter jeden Vormittag anbieten. Wahrscheinlich wird sie ihre Tochter demnächst hier anmelden.

Funda Akacan: "Deswegen haben wir überlegt, dass wir eine Schule suchen und mithelfen, AGs anbieten und Vorbild sein, auch für die Deutschen. Dass die sagen, ah, es gibt auch Ausländer, die wirklich interessiert und dabei sind."

Vielleicht wird Funda Akacan auch bald bei den Kiezeltern mitmachen. Denn ohne die Initiative hätte sie sich die Karlsgarten-Schule gar nicht erst angesehen.