Wir arbeiten in Europa

Freizügig durch die Modestadt Antwerpen

Der Künstler Paulo Guerreiro, aufgenommen im Kulturzentrum "Veerman" in Antwerpen
Der Künstler Paulo Guerreiro, aufgenommen im Kulturzentrum "Veerman" in Antwerpen © Johannes Nichelmann
Von Johannes Nichelmann · 06.05.2014
Nur ein kleiner Teil der 500 Millionen EU-Bürger nimmt die geltende Freizügigkeit in Anspruch. Durch den wirtschaftlichen Niedergang in den südlichen Ländern, steigt die Mobilität jedoch an. Zu den attraktivsten Zielen der oft gut Ausgebildeten gehört die Mode- und Medienstadt Antwerpen.
Orchesterproben hinter verschlossenen Türen, geschminkte Schauspieler auf dem Weg zur Kostümabteilung und verschlafene Studierende auf der Suche nach dem Raum ihres Architekturkurses – morgens im Kunstzentrum "deSingle" in der belgischen Stadt Antwerpen. Ein gewaltiger Bau aus den frühen 80ern.
"My name is Paulo Guerreiro. I am a Portuguese Performer, Choreographer."
Paulo ist freischaffender Künstler. Er beginnt seinen Tag im "deSingle" - Absprachen treffen für ein neues Tanzprojekt. Der 32-jährige Portugiese lebt und arbeitet seit fast zehn Jahren in Belgien. Erst in Brüssel, jetzt in Antwerpen. Die Städte liegen nah beieinander. Gut eine halbe Stunde braucht der Zug von Hauptbahnhof zu Hauptbahnhof. Antwerpen zieht junge Kreative an. Es gibt große Medienunternehmen, beliebte Kunsthochschulen - dazu viel Raum für Theater und Musik.
Keine Perspektive in Portugal gesehen
In Portugal hatte Paulo nach seinem Studium an der Tanzakademie keine Perspektive für sich gesehen. Knappe Kassen, Kulturförderung am Existenzminimum - Wenn er seinen Traumjob leben wollte, sagt er, gab es nur den Weg in ein anderes Land. Paulo Guerreiro ist einer von 14 Millionen EU-Bürgern, die sich innerhalb der Europäischen Union eine neue Heimat gesucht haben. Eigentlich wollte er eines Tages zurückkehren. Angesichts der immer angespannteren Lage in Portugal rückt dieser Tag aber immer weiter in die Ferne.
Paulo Guerreiro:"I also always thought, like okay: One day I will maybe come back, you know. I see that day further and further away."
Die Wirtschaftskrise hat die Ströme der Migration innerhalb der EU verändert. Nachdem zu Beginn ein Einbruch der Wanderungsbewegungen verzeichnet wurde, ziehen nun immer mehr Menschen vom Süden in den Norden.
Paulo erzählt wie auch er die Veränderungen spürt:
"Damals waren es nur ein paar Leute, die aus demselben Grund kamen, wie ich. Und jetzt sind es Unzählige! Die wollen alle einfach nur einen Job finden, um nicht am Hungertuch zu nagen. In Portugal müssen einige Leute drei bis vier beschissene Jobs machen. Die haben alle Bachelor-Abschlüsse oder ihren Doktor."
Eine Studie der EU bestätigt seine Wahrnehmung. Es sind die überdurchschnittlich gut ausgebildeten, die ihr Land verlassen. Zwei Drittel der EU-Migranten verdienen in ihrer neuen Heimat Geld. Der Anteil derer, die Sozialleistungen beziehen liegt im unteren einstelligen Prozentbereich. Die Folge: Wachstum für die reichen Zielländer, immer mehr Engpässe bei den Herkunftsländern. Die Hoffnung besteht darin, dass die Auswanderer eines Tages zurückkehren und ihr erworbenes Wissen mitbringen. In der Realität bleibt es zur Zeit bei der Hoffnung.
Rückkehr nach Kroatien unwahrscheinlich
Am anderen Ende Antwerpens, vor einem der für die Stadt typischen schmalen, mehrstöckigen Häusern. Hier wohnt Sandro Faber. Der 39-Jährige ist Modedesigner, kommt ursprünglich aus Kroatien. Und vermutlich, sagt er, wird er niemals zurückgehen.
Zu Gast in seinem kleinen Atelier, im obersten Stockwerk des Hauses. Ein Hund und eine Katze liegen nebeneinander unter dem Zeichentisch. Entwürfe für Mäntel und Hosen an der einen Wand, Stoffrollen und zahlreiche Kisten an der anderen.
Sandro Faber entwirft Herren-Kollektionen für verschiedene Auftraggeber.
"I am working on a small mans-collection for a group-show in Maastricht. I work on a mans-collection for company in Belgium, which is very commercial."
Vor zehn Jahren kam Sandro aus Kroatien nach Belgien. Auch er hat in seiner Branche keine Zukunft in der Heimat gesehen. Eine Fashion-Industrie hat es damals überhaupt nicht gegeben, meint er. Kroatien ist erst im Sommer 2013 der EU beigetreten.
Personenfreizügigkeit innerhalb der Union ist für Sandro eine neue Erfahrung.
"Ich bin mit einem Studentenvisa gekommen und habe danach geheiratet. Gleichzeitig hab ich mich selbstständig gemacht. Durch diese Kombination durfte ich hier bleiben.Immer wenn ich die Grenze überschritten hatte, fühlte ich mich wie ein
Halbkrimineller oder wie das Mitglied einer Mafia. Das ist ein sehr komisches Gefühl, dass du anders behandelt wirst, weil du nicht den richtigen Pass hast. Und jetzt ist das ganz lustig. Von einem auf den anderen Tag hat sich alles geändert."
Grenzüberschreitende Hürden der Bürokratie
Während Sandro Faber Grenzkontrollen und langwierige Ämtergänge gewohnt war, hat PauloGuerreiro als EU-Bürger nicht eine Sekunde damit gerechnet, bei den Behörden Belgiens irgendwelche Probleme zu haben. Es kam anders: Bürokratische Hürden sind grenzüberschreitend.
Ein halbes Jahr lang, musste Paulo oft bei den Beamten vorsprechen.
"Das war somit die schlimmste Zeit meines Lebens. Nur so viel: Es gab einen Moment, da wollten sie mich aus dem Land werfen. Das ist ja eigentlich durch das Schengener Abkommen gar nicht möglich. Aber sie haben was gefunden! Soweit ich das verstanden habe, gab es damals ein paar Leute aus Marokko, die portugiesische Pässe gefälscht haben. Vermutlich dachten sie, ich wäre einer von denen gewesen."
Paulo und Sandro sind in Antwerpen sesshaft geworden. Sie gehören zu den etwa 500.000 Einwohnern. Auch Touristen kommen gerne – der Hafen, die vielen Modegeschäfte und wichtige Museen laden ein. Der Barockmaler Rubens zählt zu den wichtigsten Söhnen der Stadt:
Sandro Faber: "Antwerpen ist ein sehr bequemes Städtchen. Ich wage es gar nicht, Stadt zu sagen, weil es wirklich sehr klein ist. Es ist auf so vielen Ebenen sehr leicht hier zu leben. Das ist das Positive. Womit ich ein Problem habe, ist, dass du hier die Mentalität einer Kleinstadt hast und gleichzeitig aber auch die negativen Seiten einer Großstadt. Es ist ein Widerspruch."
Paulo Guerreiro:"I don’t see any diamonds. I have to be honest. Well, they are there. Ehm, posh fashion fascists. I think those words good fit."
Für Paulo steht Antwerpen für das Noble – als weltweit größter Verarbeitungs-Standort von Diamanten. Außerdem für Mode - und für Faschisten.
Paulo Guerreiro: "Unser Bürgermeister. Seit einem Jahr ist er unser toller Bürgermeister. Er ist der Typ – du erinnerst dich sicher: Vor zwei Jahren hatte Belgien für eine Zeit lang keine Regierung. Es lag an diesem tollen Mann. Er ist ein flämischer Nationalist."
Bürgermeister der "Neu-Flämischen Allianz"
Bart de Wever ist Vorsitzender der "Neu-Flämischen Allianz". Seine Partei wurde bei den Parlamentswahlen 2010 überraschend stärkste Kraft und mit der Regierungsbildung beauftragt. Allerdings war keine der wallonischen Parteien aus dem Südteil Belgiens bereit eine Koalition mit de Wever einzugehen. Die Folge: ein monatelanges Hin und Her. Am Ende stand schließlich eine Koalition von Sozialisten, Konservativen, Liberalen und Grünen. Die "Neu-Flämische Allianz" blieb außen vor. Der Grund: Die Partei hat es sich zum Hauptziel erklärt Flamen vom Rest Belgiens zu separieren. Der reiche Norden soll nicht mehr den schwachen Süden unterstützen.
Bei den Kommunalwahlen im Oktober 2012 schließlich wurde Bart de Wever Bürgermeister Antwerpens und stieß seinen sozialistischen Gegenkandidaten aus dem Amt. Paulo und Sandro meinen, dass der Bürgermeister seine radikalen und ausländerfeindlichen Tendenzen nicht so offen ausspreche, wie es die Politiker der rechtsradikalen Partei "Vlaams Belang" täten. Diese Partei hatte bei den letzten Kommunalwahlen deutlich verloren. Aber die Stimmung gegenüber Ausländern habe sich verändert.
Paulo Guerreiro: "Man spürt es. Ich denke das ist die Konsequenz aus der aktuellen Krise. Die Leute haben Angst vor Fremden."
Sandro Faber: "Ja, ich denke, dass dieser Nationalismus immer mehr zum Thema wird. Seitdem ich hier angekommen bin, hat sich das geändert. Es ist zum Beispiel wichtiger geworden, dass du flämisch sprichst. Dass du dich, wie soll ich sagen, dass du dich integrierst. Ich hab mich aber nie anders gefühlt. Diese ganze Integrationssache ist keine, an der ich wirklich arbeiten muss."
Bart de Wever übrigens tritt bei den EU-Parlamentswahlen als Kandidat für die Provinz Antwerpen an. Und das, obwohl er als Bewerber für das Bürgermeisteramt beschwor er in jedem Fall sechs Jahre im Rathaus zu bleiben.
Nachmittag. Paulo, der als freischaffender Performance- und Tanzkünstler arbeitet, ist bei seinem zweiten Auftraggeber ankommen. "Veerman" heißt das kleine Kulturzentrum. Im Eingangsbereich hängt ein Plakat. Werbung für eine Bühnenshow von Paulo. Ein Stockwerk höher arbeiten seine Kolleginnen an Kostümen.
Frau: "Making costumes for a party."
Paulo Guerreiro: "Ah, cool!"
Frau: "Did you see?"
Paulo Guerreiro: "No. Oh, wow! That’s nice!"
Beide wollen zur EU-Wahl gehen
Paulo Guerreiro hat in Belgien sein Auskommen. Er kann sich künstlerisch entfalten, hat hier geheiratet und seinen Lebensmittelpunkt gefunden. Genau wie Sandro Faber wird er am 25. Mai zur Europawahl gehen. Beide schätzen die Idee der Europäischen Union, die Vorteile der Freizügigkeit.
Für den Portugiesen und den Kroaten ist es ein Segen, dass sie leben können, wo sie wollen. Aber der Blick in die alte Heimat, sagt Paulo, tut oft weh und stimmt pessimistisch: Portugal hätte vielleicht niemals in die EU gedurft.
Paulo Guerreiro: "Ich mache meine Stimme meistens ungültig. Mit dem Europäischen Parlament kann ich mich nicht identifizieren. All die kulturellen und sozialen Aspekte – die sind ein bisschen hinten herunter gefallen. Der Hauptfokus liegt auf der Wirtschaft. Und das sagt doch alles. Wir sind aber nicht nur Wirtschaft. Wir sind auch menschliche Wesen, die ihre Träume haben. Das ist doch paradox!"
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