Winkler: Keine Revision des Verbots der Holocaust-Leugnung

Heinrich August Winkler im Gespräch mit Jürgen König |
Der Historiker Heinrich August Winkler hat eine Revision des deutschen Verbots der Holocaust-Leugnung ausgeschlossen. Bei einer Aufhebung des Gesetzes bestehe die Gefahr, dass Rechtsextremisten dieses zur Agitation ausnutzen könnten, sagte Winkler.
Jürgen König: Es gibt immer noch Leute, die behaupten, den Holocaust habe es nie gegeben, und die sagen das auch öffentlich. Und wer je in einer solchen Versammlung gesessen und derlei miterlebt hat, der weiß, was für Gefühle da in einem aufsteigen können, der kennt diesen Impuls zu sagen, nein, das darf man nicht zulassen, diese Leute müssen zum Schweigen gebracht werden. Inzwischen können diese Leute zum Schweigen gebracht werden, jedenfalls theoretisch. Paragraf 130 Absatz 3 unseres Strafgesetzbuches besagt, dass mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden kann, wer, Zitat, "eine unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangene Handlung in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, öffentlich oder in einer Versammlung billigt, leugnet oder verharmlost." Zitat Ende. Vergleichbare Gesetze gibt es mittlerweile in 15 Staaten, die EU strebt eine einheitliche Gesetzgebung an.

Nein, haben dazu französische Historiker gesagt, in einem freien Staat könne es nicht Aufgabe irgendeiner politischen Autorität sein zu definieren, was historische Wahrheit sei. Italienische, belgische, britische, niederländische Historiker haben sich diesem Appell angeschlossen und auch einige deutsche Kollegen, unter ihnen der Historiker Heinrich August Winkler, langjähriger Professor an der Berliner Humboldt-Universität, jetzt emeritiert, aber weiterhin als Publizist tätig. Guten Tag, Herr Winkler!

Heinrich August Winkler: Guten Tag!

König: Es sind bis jetzt nur wenige deutsche Historiker, die sich dem Aufruf angeschlossen haben. Sie haben unterschrieben. Warum?

Winkler: Der Satz, dass es nicht Sache einer politischen Autorität ist, historische Wahrheitsfragen zu entscheiden, der gilt nicht nur für Frankreich, wo die Nationalversammlung in dieser Hinsicht ganz besonders aktiv geworden ist, bis hin zur Interpretation des Kolonialismus als eines doch in manchen Elementen eben auch positiv zu würdigenden Ereignisses. Die französischen Kollegen hatten diese Erfahrung im Hinterkopf.

Aber Sie sehen darin in der Tat nicht nur ein französisches, sondern ein europäisches, ein allgemeines Problem, das Problem von Einzelfallgesetzen, die historische Interpretationen vorschreiben und sie damit der freien wissenschaftlichen Diskussion entziehen. Das ist das Grundsatzproblem, um das es geht. Wenn über Wahrheitsfragen künftig von Parlamenten und Regierungen entschieden werden soll und darüber freier wissenschaftlicher Diskurs nicht oder nur begrenzt möglich ist, dann ist das in der Tat mit einer freiheitlichen, pluralistischen Demokratie nicht zu vereinbaren.

König: Aber dann gehen wir doch vielleicht noch mal ein bisschen detaillierter auf das französische Beispiel ein. Da gab es zunächst das Gesetz, das das Leugnen der Gaskammern unter Strafe stellte. Dann wurde das Gesetz erlassen, dass der Genozid an den Armeniern nicht geleugnet werden durfte. Die Algerienfranzosen haben ein Gesetz durchgesetzt, in dem die positive Rolle des Kolonialismus festgehalten wurde. Zwei weitere Anträge sind derzeit im Parlament anhängig. Bei einer solchen Fülle von Gesetzesvorhaben oder schon bestehenden Gesetzen, da kann ich verstehen, dass ein Historiker sagt, nein, also das schnürt mich zu sehr ein. In Deutschland haben wir nun nur dieses eine Gesetz, das das Leugnen des Holocaust unter Strafe stellt. Sind das also nicht letztlich zwei verschiedene Paar Schuhe?

Winkler: Zunächst einmal zu Armenien. Ich halte das bereits für eine hoch problematische Sache. Ich selbst bin der Auffassung, dass in der Türkei eine Beitrittsreife mit Blick auf die Europäische Union nicht gegeben ist. Solange es dort mit Strafen bedroht wird, über den Völkermord an den Armeniern zu sprechen. Allein die Verwendung des Begriffes löst Sanktionen nach dem ominösen Artikel 301 des wohlgemerkt schon reformierten Strafgesetzbuches aus. Und das bedeutet es kann über ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht frei gesprochen werden.

Anderenfalls, wenn man es tut, drohen ganz massive Strafen. Wenn man nun aber von Gesetzes wegen in Frankreich eine Anerkennung dieses Genozids postuliert und etwa Türken bestraft, wenn sie es nicht tun, dann stellt sich wirklich der Gesetzgeber an die Stelle der Geschichtswissenschaft. Das Europäische Parlament war in dieser Hinsicht sehr viel klüger. Sie haben eine völlig freie Diskussion darüber gefordert, die Beseitigung von allen Maßnahmen und Gesetzesbestimmungen, die eine solche Diskussion erschweren, das ist das Entscheidende. Die freie Diskussion als Teil der Meinungsfreiheit und der Wissenschaftsfreiheit, das muss gefordert werden. Und wir haben in der Tat in Deutschland vor allem diesen einen Fall vor Augen, der aus sehr besonderen Gründen damals so entschieden worden ist. Aber es bleibt ein Problem, das damals möglicherweise nicht intensiv genug diskutiert worden ist, das Problem des Einzelfallgesetzes. Gesetze müssen nach rechtsstaatlichem Verständnis allgemein sein. Und das ist ein Problem, über das nachgedacht werden muss, damit es nicht zum Präzedenzfall wird, Schule macht.

König: Gut, aber die Meinungsfreiheit ist auch bei uns eingeschränkt. Das ist immer eine Frage der Güteabwägung. Nehmen wir die Pressefreiheit, die stößt an Gesetze, wenn es um Persönlichkeitsrechte, um Verunglimpfung geht. Ich sprach vorhin von diesem Impuls zu sagen, nein, wer den Holocaust leugnet, darf das nicht tun. Sind solche Erinnerungsgesetze nicht nötig, um die Würde der Opfer zu bewahren? Ich meine, es gibt im Strafgesetzbuch Beleidigungsparagrafen. Wer zu Polizisten Bulle sagt, wird dafür in der Regel bestraft. Werden nun Angehörige von Holocaustopfern nicht in weitaus höherem Maße beleidigt, wenn jemand sagt, den Holocaust, was wollen Sie überhaupt, den hat es nie gegeben? Das ist doch eine obszöne Verhöhnung der Opfer und ihrer Hinterbliebenen?

Winkler: Ich kann diese Argumentation nachvollziehen und frage mich dennoch, ob wir mit ein Einzelfallgesetzen nicht rechtsstaatliche Prinzipien preisgeben. Es gibt auch Interpretationen der Geschichte, die müssen in erster Linie gesellschaftlich geächtet werden, sie müssen moralisch und politisch und wissenschaftlich bekämpft werden. Aber sind dazu Gesetze erforderlich? Ich fordere keine Revision des Gesetzes, die jetzt als Triumph von rechtsaußen gefeiert werden soll. Aber die Frage, ob wir mit Einzelfallgesetzen weiterkommen, ob da nicht doch ein gefährlicher Weg beschritten wird, diese Frage stellen ausgesprochene liberale und linke Historiker, unter ihnen etwa Eric (…) oder Timothy Garden Ash.

Das sind ja nun weiß Gott keine Rechtsrevisionisten, die vor der Gefahr einer Geschichtsdeutung auf dem Gesetzesweg waren als Einengung wissenschaftlicher Freiheit. Bis hierher und nicht weiter, wäre, glaube ich, das Mindeste, was man sagen muss. Die Gefahr ist groß, dass wir auf diese Weise den wissenschaftlichen Diskurs einschränken. Und der wissenschaftliche Kampf gegen Irrmeinungen und gegen gefährliche Auffassungen, der kann der Wissenschaft, der kann der freien Diskussion nicht abgenommen werden.

König: Aber ist die Gefahr nicht noch größer, dass rechtsradikale Vordenker oder auch NPD-Politiker, wie Horst Mahler zum Beispiel, Straffreiheit zu schamloser Agitation ausnutzen?

Winkler: Ich sehe diese Gefahren, deswegen habe ich keine Rückgängigmachung dieses Gesetzes gefordert. Ich denke nur, es gibt Anlass für das, was man Second Force nennt. Die Gefahr, dass das auch für andere Gegenstände ähnlich gehandhabt wird, dass da auf dem Gesetzesweg kodifiziert wird, was wissenschaftlich zu klären und zu beantworten ist, diese Gefahr darf man nicht unterschätzen.

König: In diesem sogenannten Appell von (…), heißt es, dass die Freiheit des Historikers mittels der Androhung von Strafsanktionen nicht eingeschränkt werden darf. Erklären Sie uns das noch mal. Inwiefern schränkt oder würde ein solches Gesetzt die Freiheit der Forschung einschränken?

Winkler: Ich nehme das Beispiel der positiven Bewertung des Kolonialismus, gegen die übrigens damals der Staatspräsident Chirac sein Veto eingelegt hat. Das würde bedeuten, dass, wer den Kolonialismus kritisiert und bestreitet, dass er wesentliche positive Errungenschaften hatte, deswegen mit einer Strafe bedroht wird. Auf diese Weise ist man in der Tat in der Gefahr, den Spielraum der wissenschaftlichen Diskussion gewaltig einzuschränken. Und das ist ein Beispiel, das sicherlich vielen vor Augen geschwebt hat, als sie diesen Protest unterschrieben haben. Die Angelsachsen sind ja ohnehin sehr viel strikter als die Kontinentaleuropäer der Meinung, dass Gesetze allgemein sein müssen und Einzelfallgesetze rechtsstaatlich zumindest hoch problematisch sind.

König: Aber zum Holocaust kann doch nach wie vor geforscht werden, was immer wer immer will?

Winkler: Ja. Und dennoch denke ich, die Frage der Präzedenzfallwirkung ist zu bedenken, die Frage, ob nicht analog bestimmte Deutungen vorgeschrieben werden können auf dem Gesetzesweg für Interpretationen anderer Diktaturgeschichten. Wenn man auf diesem Wege weiterschreitet, dann wird die Gefahr der Einengung der wissenschaftlichen Diskussion so spürbar werden, wie das nach der Meinung sehr vieler französischer Historiker bereits heute in Frankreich der Fall ist.

König: Gegen ein staatlich verordnetes Geschichtsbild, ein Gespräch mit dem Historiker Heinrich August Winkler. Vielen Dank!

Winkler: Ich danke Ihnen!