Willkommenskultur

Wo bleibt der Stolz auf die Flüchtlingshelfer?

Eine Helferin gibt am 06.09.2015 in Dortmund (Nordrhein-Westfalen) in einem Gebäude in der Nähe von Hauptbahnhof einer Mutter Kindermilch.
Helfer versorgen eine Frau und ihr Kind nach der Ankunft in Dortmund. © picture alliance / dpa / Maja Hitij
Von Sieglinde Geisel · 12.12.2017
Viele der Helfer, die sich 2015 um die Geflüchteten in Deutschland kümmerten, sind noch immer aktiv. Doch in der Öffentlichkeit wird das Engagement kaum gewürdigt, sondern unter dem Begriff "Gutmenschentum" sogar eher schlechtgeredet. Die Journalistin Sieglinde Geisel erkennt die Gründe – und sieht weitreichende Folgen.
Zwei Jahre ist es her, dass in meiner Straße die Turnhalle "beschlagnahmt" wurde, wie es damals hieß. Die Bundeswehr stellte Doppelstockbetten auf, und um den Rest kümmerten sich erst einmal – "wir". Es war ein euphorischer Moment: Wir wuchsen über uns hinaus. Wir schafften das! Wir sortierten Kleider, besorgten Regale, gaben Essen aus. Und wir merkten, dass das gemeinschaftliche Helfen auch uns gut tut.
Die Hilfsbereitschaft der Willkommenskultur gehörte zu den großen Überraschungen des Herbsts 2015: Es gab sie auf dem Land wie in der Stadt, in Marzahn wie im Prenzlauer Berg. Dass die Bereitschaft, sich zu engagieren, in Deutschland groß ist, zeigt alle fünf Jahre die Freiwilligensurvey der Bundesregierung. Die letzte stammt aus dem Jahr 2014: 31 Millionen Menschen leisten ehrenamtliche Arbeit, das sind 40 Prozent der Bürger über 14. Meist tun sie es in Vereinen und gern im Sport, seit dem Sommer 2015 helfen manche von ihnen Geflüchteten und Migranten.

Engagement hält weiter an

In der ersten Nacht kamen hundert Helfer in unsere Turnhalle. Mal sehen, wie lange die Euphorie anhält, sagten wir damals, wir trauten unserem eigenen Helfenwollen nicht ganz. Inzwischen wird in der Turnhalle wieder geturnt, der kollektive Hilfseinsatz ist vorbei. Kaum einer der Helfer bereut seinen Einsatz: Viele haben Freundschaften mit Geflüchteten geschlossen und sind weiterhin ehrenamtlich tätig. Dies wird von einer Studie der Bertelsmann-Stiftung bestätigt: Demnach ist das Engagement robust, viele Initiativen haben sich inzwischen professionalisiert.
Doch in den Medien erfährt man davon kaum etwas. Aus der Willkommenskultur ist kein Narrativ entstanden, obwohl es viel zu erzählen gäbe. Das Gegenteil ist der Fall: Wenn es um helfende Bürger geht, wird ihr Engagement eher schlechtgeredet, der Begriff "Gutmensch" brachte es bekanntlich zum Unwort des Jahres 2016. Dabei könnte man "Gutmenschen" genauso gut als Helden sehen: Wir helfen, weil wir stark sind.

Gute Nachrichten bringen keine Klicks

Warum ist man in Deutschland nicht stolz auf das zivilgesellschaftliche Engagement? Dafür gibt es verschiedene Gründe. Psychologisch gesehen ist das "Gutmenschen"-Bashing ein Abwehrmanöver: Man entzieht sich dem moralischen Appell, indem man ihn denunziert. Aus der Sicht der Medien wiederum sind gute Nachrichten keine guten Nachrichten, denn sie bringen keine Klicks. "If it bleeds, it leads" – man kennt den zynischen Spruch: Im Aufmacher wollen wir Blut sehen. Terroranschläge, die Kölner Silvesternacht oder auch Überfälle von Rechtsradikalen auf Flüchtlingsheime – all das ist als Schlagzeile viel zugkräftiger als die völlig unblutigen Geschichten der spontanen Helfer.
Das Lob der helfenden Bürger findet man in einem langsameren und nachdenklicheren Medium: dem politischen Sachbuch. Eine ganze Reihe von Titeln verweisen auf die Erfolgsgeschichte des Herbsts 2015 und würdigen die Zivilgesellschaft. Autoren wie Herfried und Marina Münkler, Heribert Prantl, Hilal Sezgin oder Harald Welzer rücken damit etwas gerade. Mir wurde erst beim Lesen ihrer Bücher bewusst, dass ich schon fast vergessen hätte, wie selbstverständlich uns die spontane Hilfe damals schien.
Die Flüchtlingsfrage spaltet unsere Gesellschaft mehr als alles andere. Ob wir "das schaffen", hängt davon ab, ob wir es schaffen wollen. Ob wir es schaffen wollen, hängt davon ab, ob wir glauben, dass wir es schaffen können. Und ob wir glauben, dass wir es schaffen können, hängt davon ab, ob es im öffentlichen Diskurs eine Erzählung davon gibt, dass wir es schaffen können.
Sieglinde Geisel, freie Journalistin
Sieglinde Geisel, freie Journalistin© privat

Sieglinde Geisel, 1965 im schweizerischen Rüti/ZH geboren, studierte in Zürich Germanistik und Theologie. 1988 zog sie als Journalistin nach Berlin-Kreuzberg, von 1994-98 war sie Kulturkorrespondentin der NZZ in New York, von 1999 bis 2016 in Berlin. Sie arbeitet für verschiedene Medien als Literaturkritikerin, Essayistin und Reporterin. An der FU Berlin hat sie einen Lehrauftrag für Literaturkritik, an der Universität St. Gallen gibt sie Schreibworkshops für Doktoranden. Buchpublikationen: "Irrfahrer und Weltenbummler. Wie das Reisen uns verändert" (2008) und "Nur im Weltall ist es wirklich still. Vom Lärm und der Sehnsucht nach Stille" (2010).

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