Willkommen in der Wirklichkeit

Von Richard Herzinger |
Jenseits aller Berliner Politquerelen geht außerhalb der deutschen Grenzen die Weltgeschichte weiter. Freilich: hierzulande scheint dies gegenwärtig kaum jemanden zu interessieren.
Im Wahlkampf wurde die Außenpolitik so gut wie überhaupt nicht thematisiert. Während danach die deutsche Öffentlichkeit von einer politischen Soap Opera rund um das Thema: "Er oder Sie? Oder keiner von beiden?" in Atem gehalten wurde, trat fast unbemerkt noch einmal der alte Bundestag zusammen. Er beschloss nahezu einstimmig eine Verlängerung und Ausweitung des Bundeswehrmandats in Afghanistan.

Über die gegenwärtige Lage am Hindukusch, über die Chancen und Gefahren einer Stabilisierung des dortigen Demokratisierungsprozesses ist hierzulande jedoch kaum etwas bekannt. Was wäre, wenn die Bundeswehr in direkte Kämpfe mit den wieder erstarkenden Taliban verwickelt würde? Ist sie darauf ausreichend vorbereitet? Wie würde die deutsche Öffentlichkeit reagieren, wenn im Kampf getötete deutsche Soldaten in Leichensäcken nach Hause zurückkommen würden?

Solche Fragen werden von den politisch Verantwortlichen mit beruhigenden Floskeln über deutsche "Friedenseinsätze" überspielt. Dass solche Einsätze aber eine indirekte und potenziell direkte Verwicklung in kriegerische Auseinandersetzungen bedeuten, wird aus dieser Sprachregelung ausgeklammert, um die von sozialen Abstiegsängsten geplagte Bevölkerung nicht noch zusätzlich zu beunruhigen.

Gerhard Schröder ließ sich im Wahlkampf als Kanzler einer "Friedensmacht" feiern. Die Opposition ihrerseits vermied ängstlich außenpolitische Themen, um von Schröder nicht in die Ecke der Kriegstreiber gestellt zu werden.

Doch nur weil Deutschland in den Irakkrieg nicht aktiv eingegriffen hat - logistisch hat es ihn durchaus stillschweigend unterstützt -, ist im Zweistromland noch lange nicht der Frieden ausgebrochen. Ob der Irak sich mittelfristig in ein stabiles, zumindest demokratieähnliches Gebilde verwandeln oder in Terror und Chaos versinken wird, betrifft Europa aber genauso wie die USA - gleichgültig, ob man den Irak-Feldzug von 2003 abgelehnt hat oder nicht.

Eine realistische Debatte darüber, was Deutschland und Europa über das bisherige bescheidene Maß hinaus für die Zukunft des Irak und die Demokratisierung des Nahen Ostens tun könnten, findet bei uns allenfalls in den inner circles im und rund um das Außenministerium statt.

Eine breite öffentliche Auseinandersetzung gibt es darüber ebenso wenig wie über die deutsche Rolle in anderen Brennpunkten des internationalen Geschehens: Wie etwa bringt man den Iran doch noch von seinen Atomplänen ab, nachdem die Verhandlungsstrategie der Europäer in die Sackgasse geführt hat? Immerhin würden atomar bestückte iranische Raketen dereinst auch Europa erreichen können. Wie weit hat uns die "strategische Partnerschaft" mit Russland in eine fatale energiepolitische Abhängigkeit von einem keineswegs "lupenrein demokratischen" Regime gebracht?

Und nicht zuletzt die Frage nach der Zukunft der europäischen Integration angesichts des Scheiterns der EU-Verfassung müsste in Deutschland eigentlich alle intellektuellen Kapazitäten mobilisieren. Grundsätzliche Fragen über die Form und das Selbstverständnis Europas angesichts auseinander driftender Interessen innerhalb der Union sind gestellt. Und Deutschland als dem stärksten europäischen Land kommt bei deren Beantwortung eine Schlüssel- und Führungsrolle zu.

Wir aber vergraben uns derzeit in unsere innenpolitischen Schwierigkeiten, als hingen diese mit dem Zustand des Rests der Welt gar nicht zusammen. Arbeitslosigkeit, Staatsverschuldung, Krise der Sozialsysteme - das sind in der Tat drängende Probleme. Doch die Frage nach der Positionierung Deutschlands in der Welt ist für seine innere Verfassung auf Dauer nicht weniger bedeutsam.

Seit die Vision von Jürgen Habermas von einer "europäischen Identität" als Gegenkraft zu Amerika wie eine Seifenblase geplatzt ist, hört man von deutschen Intellektuellen zu diesem Thema gar nichts mehr. Es fehlen bei uns Think Tanks, die kontrovers, kompetent und nüchtern über die Begrenzungen und Möglichkeiten deutscher Außenpolitik und ein realistisches Verhältnis von nationaler Interessensabwägung und supranationaler Verpflichtung nachdenken. Weder moralistische Selbstüberhebung noch trotziger geistiger Isolationismus helfen uns weiter.

Vielleicht kehrt ja aber, wenn das Kasperletheater über die richtige Besetzung des Kanzleramts vorüber ist und eine neue Regierung sich an den Niederungen der Wirklichkeit abarbeiten muss, auch endlich weltpolitisches Problembewusstsein in Deutschland ein.


Dr. Richard Herzinger, Jahrgang 1955, ist Journalist und Buchautor. Ab November wird er außenpolitischer Redakteur bei der ‚Welt am Sonntag". Zuvor war Herzinger Deutschlandkorrespondent der in Zürich erscheinenden "Weltwoche" und hatte als Redakteur und Autor der Wochenzeitung "DIE ZEIT" gearbeitet. Letzte Buchveröffentlichungen: "Die Tyrannei des Gemeinsinns - ein Bekenntnis zur egoistischen Gesellschaft" und "Republik ohne Mitte".