Willkommen in der Realität

Von Peter Merseburger |
Deutschland friert, aber unser Umweltminister sagt: "Die umweltfreundlichste und sicherste Kilowattstunde ist die, die nicht verbraucht wird". Der so spricht, heißt Siegmar Gabriel. In einer Regierung, die sich von der vorangegangenen zunächst einmal angenehm im Stil unterscheidet - Pragmatismus statt Ideologie, Verzicht auf Pathos, auf Show und Rambogehabe - erscheint er als der große Außenseiter.
Zusammen mit Ludwig Stiegler, dem stellvertretenden SPD-Fraktionschef, hält er die reine Lehre hoch - sprich: die Ideologie der grünen Mitregenten von gestern, die leider auch in der SPD tief verwurzelt ist. Am Atomkonsens, so versichern beide, werde nicht gerüttelt; und dieser Konsens, der auf Pochen der SPD in die schwarz-rote Koalitionsvereinbarung aufgenommen wurde, bedeutet die Stilllegung von vier deutschen Atomreaktoren in den nächsten vier Jahren. Der erste von ihnen soll nächstes Jahr vom Netz gehen.

Nun ist gewiss nichts dagegen zu sagen, wenn Gabriel Energiesparen großschreibt. Und schon gar nichts dagegen, dass seine und Stieglers Blicke nach vorn gerichtet sind - auf die vermehrte Nutzung erneuerbarer Energien. Aber so wünschenswert diese auch ist - auf Jahrzehnte hinaus können Sonnen-, Windenergie oder Wasserkraft den Stromausfall nicht wettmachen, der durch das Abschalten unserer Atomkraftwerke entstünde.

Mit der Sonne hapert es bekanntlich in unseren Breiten, und der Anteil von Wind- und Wasserenergie beträgt heute gerade einmal 8,6 Prozent. Dem Ausbau der Windkraft sind nicht nur wegen der - berechtigten - Widerstände gegen die Verspargelung der Landschaft Grenzen gesetzt. Windräder haben den Nachteil einer stets schwankenden Energieversorgung; für den Fall, dass der Wind entweder zu schwach oder aber zu stürmisch weht, müssen herkömmliche Kraftwerke standby in Reserve gehalten werden.

Die Energiebranche bereitet sich deshalb auf den Bau neuer Kraftwerke vor, die alle fossile Brennstoffe, vorzugsweise Kohle nutzen. Selbst wenn sie mit neuester Technik ausgerüstet würden, bliesen sie zwar weniger CO/2 als herkömmliche Kohlekraftwerke in die Luft, aber immer noch genug, um Atmosphäre und Klima nachhaltig zu schädigen.

Ist es da ein Wunder, wenn in einer Zeit explodierender Öl- und Erdgaspreise, in einer Zeit auch wachsender Einsicht, wie sehr fossile Kraftwerke den Treibhauseffekt befördern, der Kernenergie wieder positive Seiten abgewonnen werden?

"Realitäten annehmen und ehrliche Fragen stellen" heißt das Diskussionspapier, das eine Gruppe sozialdemokratischer Parlamentarier des Europa-Parlaments letzte Woche in Straßburg vorgestellt hat. Diese Europa-Abgeordneten werfen der Energiepolitik der Bundes-SPD vor, sie sei vorwiegend ideologisch motiviert und stelle sich nicht der Wirklichkeit. Wenn sie erklären, Lösungen für die Energieprobleme der Zukunft würden nicht auf nationaler, sondern nur noch auf europäischer Ebene gefunden, legen sie den Finger auf den wunden Punkt der sozialdemokratischen Energie-Politik.

Denn selbst wenn Deutschland morgen frei von Atomkraft wäre, Schutz vor dem Atom gäbe es für uns Deutsche nicht. Schließlich sind wir geradezu umzingelt von Atomkraftwerken - im Osten stehen sie in Litauen, Tschechien, der Slowakei und Bulgarien; die Ukraine setzt nach dem russischen Gasdebakel verstärkt auf neue Kernkraftwerke, im Norden bauen die Finnen einen neuen Reaktor, und in Schweden, das ursprünglich für 2010 das definitive Ende der Kernkraft geplant hatte, ist dieses Datum für den Ausstieg mit Blick auf unsere Energiekrise längst vom Tisch.

Dass ein nationaler Atomverzicht keine Sicherheit bietet, wissen wir spätestens seit Tschernobyl. Damals wehte der Wind vom Osten. Meist indes weht er von westlich des Rheins - und in Frankreich, das Dreiviertel seiner Elektrizität mit Kernkraft produziert, stehen 59 Atom-Kraftwerke, ein zusätzliches sechzigstes Kernkraftwerk ist gerade in Bau. Handeln deutsche Ausstiegsbefürworter da nicht nach der altdeutsch-alldeutschen These, am deutschen Wesen müsse die Welt genesen?

Eine Verlängerung der Laufzeiten unserer Atomkraftwerke scheint vernünftig, und nicht minder vernünftig scheint mir der Vorschlag Edmund Stoibers, dafür in einem breiten gesellschaftlichen Diskurs die Bereitschaft der Bürger zu wecken. Gegen eine längere Laufzeit steht lediglich Ideologie, und sie hat mit Wahrheit bekanntlich nichts zu tun, sondern ist ihr parteiliches Gegenteil.

Vielleicht sollte unser Umweltminister einmal darüber nachdenken, dass sein Name eigentlich verpflichtet. Der Erzengel Gabriel, von dem er sich ja herleitet, ist nach christlicher Tradition nicht nur der sehr ehrenwerte Schutzpatron der Postboten und Müllmänner, sondern - edler und wichtiger - auch der Verkünder der Wahrheit.

Peter Merseburger, geboren 1928 in Zeitz, studierte Germanistik, Geschichte und Soziologie. Er war von 1960 bis 1965 Redakteur und Korrespondent des Hamburger Nachrichtenmagazins "Der Spiegel", moderierte ab 1967 die Fernsehsendung "Panorama" und wurde 1969 TV-Chefredakteur des Norddeutschen Rundfunks. 1977 ging Peter Merseburger als ARD-Korrespondent und Studioleiter nach Washington. Weitere Stationen waren Ost-Berlin und London. Buchveröffentlichungen u.a. "Die unberechenbare Vormacht", "Grenzgänger - Innenansichten der anderen Republik", die Kurt-Schumacher-Biographie "Der schwierige Deutsche" und "Mythos Weimar". Zuletzt erschienen ist die Biographie "Willy Brandt 1913 – 1992". Peter Merseburger lebt in Berlin und Südfrankreich.