William Boyd: "Die Fotografin"

Bilder eines Lebens

Keine weitere Verwendung über das Ursprungsstück hinaus!
Eines der Bilder, die Boyd für sein Buch verwendete: Ein Schwarzweißbild eines Mannes, der einen Handstand macht. Boyd fand die Bilder auf Flohmärkten © Berlin Verlag / Promo
Von Tobias Wenzel · 29.01.2016
William Boyd erzählt in "Die Fotografin" das Leben der fiktiven Amory Clay, die am Ende ihres Lebens zurückblickt. Boyd vermengt in seinem Roman geschickt reale Fakten mit seiner Fiktion und erweist sich dabei als Meister des Verwirrspiels - bis in seine Danksagungen hinein.
William Boyd läuft auf der Londoner King's Road und trotzt Wind und Nieselregen. Der schottische Autor hat die Kapuze seines Mantels so tief ins Gesicht gezogen, dass man nur noch seine Nase sieht. Boyd bleibt vor dem Dovehouse Square stehen:
"Amorys Wohnung liegt schräg gegenüber vom Platz, da vorne im Obergeschoss. Man kann die Platanen des Dovehouse Square aus ihrem Schlafzimmer sehen."
Hier habe die Fotografin Amory Clay während des Zweiten Weltkriegs gewohnt, erzählt er mit der ernsten Miene eines Stadtführers. Aber William Boyd ist ein Schlitzohr. Er hat Amory Clay frei erfunden und zur Ich-Erzählerin seines neuen Romans "Die Fotografin" gemacht.
1977 auf einer schottischen Insel blickt Amory Clay melancholisch auf ihr Leben zurück. Die 69-jährige Fotografin kramt alte Kartons mit all ihren Negativen und Abzügen hervor.
Clay fotografiert in London die feine Gesellschaft und in Berlin Prostituierte
William Boyd sitzt zu Hause auf dem Sofa. Er blättert in einem Foto-Haufen, der auf seinem Schoß liegt. Diese 73 Schwarzweißfotos, die er neben einigen Tausend anderen auf Flohmärkten und im Internet gekauft hat, sind in seinem neuen Roman abgedruckt. Eines davon zeigt eine junge Frau, die in einem See badet. Für William Boyd und den Leser ist sie von nun an Amory Clay:
"Das ist das Außergewöhnliche an anonymen Fotos: Ich weiß nicht, wer das Foto gemacht hat und wer darauf abgebildet ist. Aber sobald ich diesem Menschen einen Namen gebe, gehört er gewissermaßen mir. Mit all diesen gefundenen, weggeworfenen oder für ein paar Pennys gekauften Fotos habe ich nun die Kontrolle über die Identität der abgebildeten Menschen."
Die meisten anderen Fotos werden zu Aufnahmen, die Amory Clay gemacht hat. Sie fotografiert in London die feine Gesellschaft, in Berlin Prostituierte, in Frankreich den Kampf gegen die Wehrmacht und später den Vietnam-Krieg. Was ihr der vom Ersten Weltkrieg traumatisierte Vater antat, als sie noch eine Jugendliche war, schwebt ihr Leben lang wie eine düstere Wolke über ihr:
"Unvermittelt schienen wir schneller zu fahren, und mein Vater sah sich zu mir um, mit seltsam verzerrtem Gesicht, als müsste er die Tränen zurückhalten.
'Ich hab dich lieb, mein Schatz. Vergiss das nie.'
Und dann riss er das Lenkrad plötzlich nach rechts, und wir scherten mit einem Holpern von der befestigten Straße aus, rasten über einen dünnen Rasenstreifen, und dann stürzte der Wagen vornüber in den See."
Ein von Krieg und Traumata gezeichnetes Jahrhundert
Beide überleben. Und wir zittern mit Amory, schämen oder freuen uns mit ihr. Wir glauben Boyd jedes Wort in diesem wunderbaren, 560 Seiten dicken Roman über das ganze Leben einer Fotografin in einem von Kriegen und Traumata gezeichneten Jahrhundert. William Boyd hat viele Briefe erhalten:
"Den Lesern kommt die Hauptfigur Amory vertraut vor. Das ist ein sehr starkes Gefühl. Am Ende des Romans wird es zum Gefühl des Verlusts. Das ist so, als wenn ein eigenes Familienmitglied gestorben wäre. Oft haben mir Leser geschrieben: 'Dann habe ich den Roman gleich noch einmal gelesen.'"
Das liegt wohl daran, so Boyd, dass der Leser das ganze Leben Amory Clays kennt und gleichzeitig die konkreten Fotos, die wiederum rührende Geschichten im Text ausgelöst haben, geradezu den Schluss zu verbieten scheinen, die Frau sei eine Erfindung. Wie das Foto des Vaters, der Handstand vor seinen Töchtern macht:
"Er stand gern kopf, erklärte er, weil es seine Sinne schärfte, seine Wahrnehmung der Welt. 'Ich sehe euch Mädchen von den Füßen hängen wie Fledermäuse', sagte er gern, während er Handstand machte, 'und ihr tut mir leid, oh ja, in eurer verkehrten Welt. In der die Erde oben und der Himmel unten ist. Ihr armen Mäuse.' Nein, nein, kreischten wir dann immer aufgeregt zurück, nein – du stehst doch verkehrt herum, Papa, nicht wir!"
Bis in die Danksagung hinein vermengt Boyd, der Meister des Verwirrspiels, in diesem Buch Fiktion und Realität. Im Regen auf der King's Road sieht der Autor unter seiner Kapuze dorthin, wo für ihn Amory Clay gewohnt hat:
"Jetzt fehlt nur noch eine Gedenktafel: 'Hier lebte Amory Clay von 1938 bis 1944.' Das wäre der letzte Schliff."

Es könnte William Boyds nächster Streich werden.

William Boyd: Die Fotografin. Die vielen Leben der Amory Clay
Roman. Aus dem Englischen von Patricia Klobusiczky und Ulrike Thiesmeyer
Berlin Verlag
560 Seiten, 24 Euro