Willi Lemke: Ein Spiel wird im Kopf verloren

Moderation: Jörg Degenhardt |
Nach der 1:2 Niederlage der deutschen Nationalmannschaft gegen Kroatien am Donnerstag ist der frühere Manager von Werder Bremen und UN-Sportbeauftragte Willi Lemke dennoch zuversichtlich: "Ich denke, die Spieler sind auch ein bisschen aufgeputscht durch die gesamte Atmosphäre in Deutschland in das Spiel gegangen". Diesen Fehler werde es im Spiel gegen Österreich am kommenden Montag nicht geben.
Jörg Degenhardt: So haben wir uns das nicht vorgestellt. Deutschlands beste Kicker verlieren gegen Kroatien und stürzen die Nation in tiefe Verunsicherung. Wollten Löw und seine Jungs nicht Gipfelstürmen? Nun müssen sie erst mal zurück ins Basislager, um Kräfte zu sammeln für den schweren Gang gegen Gastgeber Österreich am kommenden Montag. – Mein nächster Gesprächspartner hat über all die letzten Jahre immer wieder Ballkontakte gehabt. Sprich: er war eng mit dem Fußball im Speziellen und mit dem Sport im Allgemeinen verbunden. Sie kennen Ihn vielleicht noch als Manager von "Werder Bremen" oder als Bildungssenator in dem Stadtstaat. Heute ist er Sonderberater von UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon für Sport, Entwicklung und Frieden. Die Rede ist von Willi Lemke. Guten Morgen Herr Lemke!

Willi Lemke: Guten Morgen, Herr Degenhardt.

Jörg Degenhardt: Haben Sie schon eine Erklärung für das, was da gestern passiert ist?

Willi Lemke: Ich denke so wahnsinnig schwer ist das nicht zu erklären, weil alle, die sich ein bisschen mit Fußball beschäftigen, wissen, dass Spiele sehr häufig im Kopf gewonnen oder verloren werden. Ich glaube wir haben gestern ein klassisches Beispiel dafür erlebt, wie ein Spiel im Kopf verloren wird. Die erste Halbzeit hat die deutsche Mannschaft so schlecht gespielt, wie wir uns das gar nicht vorstellen konnten, weil sie nicht präsent waren. Sie haben gedacht, nach dem doch sehr schönen 2:0-Sieg gegen Polen, der sehr konzentriert herausgespielt worden ist, würde dieses ja fast im Alleingang zu schaffen sein. Sie wähnten sich schon im Geiste im Halbfinale oder im Finale. Das ist das allerschlimmste, was passieren kann.
Dann als der Trainer sicherlich in der Halbzeit versucht hat, den Hebel umzulegen, und ihnen klar gemacht hat, was jetzt gerade abgeht, da war es nicht mehr zu schaffen, den Hebel in Konsequenz umzulegen. Deshalb glaube ich, dass das gar nicht so dramatisch schlecht ist, sondern jetzt wissen wir worum es geht. Wir können gegen Österreich nicht verwalten, sondern wir müssen dort das Spiel suchen. Sonst kann, wenn wir theoretisch unentschieden spielen, in der 93. Minute auch ein Elfmeter gegen uns gegeben werden, so wie es gestern passiert ist, und dann würden wir nach Hause fahren. Das passiert garantiert am Montag nicht!

Jörg Degenhardt: Ich möchte noch einen kleinen Schritt zurückgehen. Sie haben den Kopf angesprochen. Waren die Deutschen vielleicht eine Spur überheblich?

Willi Lemke: Das wollte ich eben ein bisschen diplomatischer zum Ausdruck bringen.

Jörg Degenhardt: Okay. Dann haben wir das jetzt noch mal ganz klar zum Ausdruck gebracht.

Willi Lemke: Ja. – Ich denke, die Spieler sind auch ein bisschen aufgeputscht durch die gesamte Atmosphäre in Deutschland in das Spiel gegangen. Die kriegen alle Medien Deutschlands dort im Trainingslager zu sehen. Die wissen genau was los ist: im Fernsehen, im Radio. Sie kriegen das alles hautnah mit. Und dann kommt man in so ein Gefühl na ja, was soll uns schon passieren. Wir sind so gut wie schon weiter mit dem Sieg gegen Polen. Die Österreicher haken wir sowieso ab. – Das denke ich war der entscheidende Fehler und diesen Fehler, den wird es im Spiel gegen Österreich garantiert nicht geben, sondern da wird eine andere deutsche Mannschaft so spielen, vermute ich, wie die Kroaten gestern gegen uns gespielt haben – von der ersten Sekunde an.

Jörg Degenhardt: Was heißt "eine andere deutsche Mannschaft"? Denken Sie auch an andere Spieler, die am Montag gegen Österreich auflaufen werden?

Willi Lemke: Ich kann mir nach dem gestrigen Spiel vorstellen, dass der Bundestrainer ein oder zwei Positionen umstellt.

Jörg Degenhardt: Aber wahrscheinlich nicht den Torwart.

Willi Lemke: Für mich nicht. Ich habe fast erschrocken heute Morgen gehört, dass man ihm das Tor ankreidet. Aber der Ball ist ja abgefälscht worden. Das konnte doch jeder deutlich sehen. Wäre er nicht abgefälscht worden, hätte er sich in der Position genau richtig gefunden, in der er sich umorientieren musste, weil der Ball abgefälscht worden ist. Für mich hat Lehmann in der Situation gestern keinen Fehler gemacht.
Nein, ich denke ein bisschen an andere Positionen. Ich bin aber nicht Bundestrainer, um hier vorzugreifen. Wenn ich sage "da wird eine andere Mannschaft auftreten", dann meine ich nicht damit "da werden andere Spieler auftreten", sondern die Mannschaft wird anders eingestellt sein. Sie wird nicht so locker in das Spiel gehen, sondern sie wird von der ersten Minute an konzentriert in die Zweikämpfe gehen, wird jedem Ball versuchen nachzugehen. Das war gestern sehr, sehr schön analysiert worden und ich denke, dass wir hier völlig anders motiviert in die Begegnung reingehen. Ich habe keine Sorgen um den Einzug in die nächste Runde. Das war ein Warnschuss zur rechten Zeit. Mir ist das deutlich lieber, als wenn wir im Viertelfinale sang- und klanglos ausscheiden. Die gestrige Niederlage können wir wieder gutmachen. In den nächsten Spielen danach können wir es nicht mehr gutmachen.

Jörg Degenhardt: Wenn die Deutschen weiter kommen, dann heißt das ja auch, dass die Österreicher rausfliegen. Noch ist es wie gesagt nicht so weit. Das heißt dann die Schweiz ist nicht mehr mit dabei, die Österreicher möglicherweise auch nicht mehr. Die Gastgeberländer fehlen. Wird das denn aus Ihrer Sicht die Stimmung bei der Euro trüben?

Willi Lemke: Natürlich wäre es viel schöner, wenn die Gastgeber noch in den nächsten Runden dabei wären – zumindest vielleicht eine Gastgebermannschaft. Ich habe aber eine andere Theorie. Ich glaube, so eine Europameisterschaft soll nicht nur die sportliche Leistung in den Vordergrund stellen, so ähnlich übrigens wie das bei uns war bei der Fußballweltmeisterschaft. Falls das einige vergessen haben: wir sind nicht Fußballweltmeister geworden und waren noch nicht mal im Finale. Und trotzdem war es eine grandiose wunderbare Weltmeisterschaft. Gerade in den letzten Wochen, wo ich ja sehr viel internationale Kontakte hatte, schwärmen alle von dieser Weltmeisterschaft in Deutschland.
Ich denke, sowohl die Schweizer als auch die Österreicher machen eine unglaublich gute Europameisterschaft. Ich war selbst in dieser Woche beim sehr großartigen Spiel der Holländer gegen die Italiener im Stadion in Bern anwesend. Ich war acht Stunden praktisch um das Spiel herum und es war große Klasse. Es war wirklich eine Stimmung wie bei unserer großen Weltmeisterschaft. Es war friedlich. Es war total in einer guten Atmosphäre, in einer sportlichen Atmosphäre. Das ist meines Erachtens für Österreich und für die Schweiz – das will ich mal so ein bisschen zum Trost sagen – viel, viel wichtiger, als jetzt das Viertelfinale zu erreichen. Das Viertelfinale ist eine Momentaufnahme, aber eine großartig organisierte Europameisterschaft für die Freunde in Europa, das ist letztendlich viel, viel wichtiger als die Teilnahme am Viertelfinale.

Jörg Degenhardt: Eine Frage habe ich noch speziell an den UN-Sportberater Willi Lemke. Fußball und Patriotismus, diese Verbindung wird ja gerne in den Feuilletons immer wieder bemüht, auch gelegentlich von der Politik. Wird da die Bedeutung des Spiels nicht gewaltig überschätzt?

Willi Lemke: Die Bedeutung des Spiels wird überschätzt, aber dennoch ist das eine ganz, ganz wichtige Funktion, weil das ist ein wunderbares friedliches Mittel des miteinander Konkurrierens und sich auch des miteinander Freuens, wenn die eigene Nationalmannschaft gut spielt oder nicht. Aber man darf es natürlich letztendlich nicht überbewerten. Wichtiger, was ich eben gesagt habe, als das Resultat ist die Tatsache, dass Menschen aus zwei Nationen zusammenkommen, um dann einen großartigen Wettbewerb zu erleben, wo die Besten des Landes aufeinander treffen und dann manchmal ja auch der Glücklichere gewinnt, nicht immer der Bessere. Deshalb muss man ein bisschen auf dem Teppich bleiben, aber ich finde die Atmosphäre, trotz aller Grenzüberschreitungen wie zum Beispiel die Attacken der polnischen Presse, für die sich ja Gott sei Dank auch der polnische Trainer, der in diesem Fall kein Pole ist, sofort entschuldigt hat, was ich sehr schön fand – und das war echt sportlich -, das denke ich, ist wesentlich wichtiger. Ich habe da überhaupt keine Probleme. Ich freue mich übrigens auch, wenn seit 2006 in deutschen Schulklassen oder deutschen Schulen die Kinder Fähnchen mitbringen, ihre Nationalfarben stolz zeigen. Das hat es jahrzehntelang in Deutschland nicht gegeben. Ich freue mich, wenn das alles so friedlich und in guter Atmosphäre stattfindet. Dann ist das ein sehr positives Signal, das vom Sport gekommen ist, in die Politik.

Jörg Degenhardt: Der UN-Sportberater Willi Lemke zum bisherigen Abschneiden der deutschen Mannschaft und überhaupt zum Verlauf der Euro 2008. Vielen Dank für das Gespräch!

Willi Lemke: Danke sehr.

Das Gespräch mit Willi Lemke können Sie bis zum 13.11.2008 als Audio-on-demand abrufen: MP3-Audio