Willi Achten: "Die wir liebten"

Beunruhigendes Schicksal eines Brüderpaares

05:22 Minuten
Willi Achten: "Die wir liebten"
Das Familiendrama nimmt seinen Lauf, als der Vater ein Liebesverhältnis mit der Tierärztin des Ortes beginnt. © Piper Verlag / Deutschlandradio
Von Ursula März · 18.04.2020
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Ländliche Provinz, Familientraumata, revoltierende Jugendliche: Trotz dieser Zutaten ist Willi Achtens "Die wir liebten" kein herkömmlicher Coming-of-Age Roman – denn er beleuchtet ein dunkles, weitgehend verdrängtes Kapitel der Bundesrepublik.
Die Zutaten deutscher Come-of-age-Romane ähneln sich häufig. Sie spielen in der Provinz, aus der sich die Heranwachsenden verzweifelt wegsehnen, im biederen Kleinbürgermilieu, das die jungen, mit Popkultur sozialisierten Menschen verachten.
Und sie spielen nicht selten in Familien, deren Schweigen die aus der Zeit des Nationalsozialismus rührenden Schuldgefühle und Traumata verkapselt.

Die Welt zweier Brüder gerät aus den Fugen

All dies trifft auch auf den Roman "Die wir liebten" des 1958 geborenen Schriftstellers Willi Achten zu. Und doch ist die Geschichte dieses Romans mehr als ein pubertär nervöses Frühlingserwachsen. Denn sie beleuchtet ein dunkles, weitgehend verdrängtes Kapitel der Bundesrepublik: Die Zuchthauspädagogik, die bis weit in die 70er-Jahre hinein in westdeutschen Erziehungsanstalten herrschte.
Edgar und Roman, zwei Brüder, die nur ein Jahr Altersunterschied trennt, wachsen in einem rheinischen Dorf auf. Der Vater führt einen Bäckereibetrieb, die Mutter arbeitet im Lottoladen.
Das Familiendrama nimmt seinen Lauf, als der Vater ein Liebesverhältnis mit der Tierärztin des Ortes beginnt, bald darauf aus dem Haus auszieht und die Mutter in den Alkoholismus abstürzt. Mit beklemmender, bildstarker Eindringlichkeit beschreibt Willi Achten in der ersten Romanhälfte, wie die Welt der Jungen aus den Fugen gerät.

Parallelwelt sadistischer Willkür

Doch die familiäre Katastrophe ist nur die Vorstufe zur Hölle, die sie in der zweiten Hälfte des Romans erwartet. Auf Anordnung des Jugendgerichts werden sie in eine Erziehungsanstalt mit dem bedrohlichen Namen Gnadenhof verbracht.
Sie finden sich in einer Parallelwelt wieder, die aus sadistischer Willkür, systematischer Erniedrigung, Zwangsarbeit, Mangelernährung und schulischer Vernachlässigung besteht.
Eine Welt, in der körperliche Strafmethoden angewandt werden, die den Foltertechniken von Diktaturen entstammen könnten. In der, wie Edgar und Roman herausfinden, tatsächlich die menschenverachtende Ideologie und Personal des NS-Regimes überleben.

Poetische Wucht und politische Relevanz

"Die wir liebten" ist der Glücksfall eines Romans, bei dem sich Erzählkunst, poetische Wucht und politische Relevanz die Waage halten. In drei chronologischen Großkapiteln folgt er dem Schicksal des Brüderpaares von 1971 bis 1976, bis zur Flucht aus der Erziehungsanstalt. Sie entkommen den täglichen Strafen und Prügeln, dem lebenslangen Trauma entkommen sie nicht.
Etwas zutiefst Beunruhigendes geht von Willi Achtens Roman aus. Es liegt nicht nur in seiner Handlung, sondern auch in seinem Kernthema: Das Gespenstische historischer Ungleichzeitigkeit. Während in deutschen Großstädten antiautoritäre Kinderläden gegründet werden, die RAF in den Untergrund geht und sich bürgerliche Milieus liberalisieren, steht im Gnadenhof die Zeit still, als habe es die Jahre nach 1945 nicht gegeben.
Wer diesen sprachlich und inhaltlich vibrierenden Roman zu lesen beginnt, wird ihn nicht wieder aus der Hand legen und nach der Lektüre einmal mehr begreifen, weshalb Literatur auch als Medium der Aufklärung unverzichtbar ist.

Willi Achten: "Die wir liebten"
Piper Verlag, München 2020
378 Seiten, 22 Euro

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