Tiere in der City

Wild, wilder, Großstadt

Ein Fuchs steht auf einer Parkbank im Botanischen Garten neben einem Papierkorb.
Haben ihre Scheu weitgehend verloren: Stadtfüchse wie dieser in Berlin. © picture alliance / dpa / Wolfram Steinberg
Von Tobias Kurfer · 11.08.2023
Kamel, Gorilla, Elefant: Immer wieder treiben sich tierische Ausbrecher in der Stadt herum. Doch deutsche Städte sind auch Rückzugsort vieler heimischer Wildtiere geworden. Die Artenvielfalt ist erstaunlich.
Eine satirische Erzählung Kurt Tucholskys heißt „Der Löw' ist los“. Sie handelt von einer Raubkatze, die aus dem Zoologischen Garten in Berlin ausbricht, was eine „unbeschreibliche Aufregung“ unter den Besuchern auslöst: „Viele ließen in der Eile ihr Bier stehen, ohne zu zahlen.“
Die Geschichte spielt im Sommer 1920, und der Zufall wollte es, dass fast genau hundert Jahre später gar nicht weit entfernt wieder ein Löwe los war oder vielmehr eine Löwin. Hinsichtlich der Löwenhaftigkeit des gesichteten Tiers war man sich weitgehend einig.

Medien-Berlin hielt den Atem an

Wie bei Tucholsky kochte auch im Sommer 2023 die Erregung in den Redaktionen über. Reporter schwirrten mit Kamera und Notizblock aus, der zuständige Rundfunk Berlin-Brandenburg brachte Sondersendungen, Twitter lief voll. Medien-Berlin hielt den Atem an.
Bekanntlich entpuppte sich das exotische Raubtier bald als ordinäres Wildschwein. Was die Fantasie vieler Menschen beflügelte. Es seien jetzt mehrere Tiger gesichtet worden, schrieb auf Twitter jemand über das Foto von ein paar gestreiften Wildschweinferkel. Ein anderer stellt das Bild einer Löwin mit majestätisch erhobenem Haupt neben das einer Wildsau und kommentierte „Before Berlin – After Berlin“.

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Kurz nachdem sich die Löwin als Medien-„Ente“ herausgestellt hatte, meldeten Lokalzeitungen ein Känguru, das durchs Berliner Umland hüpfe.

Tod durch Tigerbiss

Erstaunlicherweise sind entlaufene wilde Tiere gar keine Seltenheit. Allein in Berlin nahmen in den vergangenen Jahren unter anderem drei Kamele, ein Brillenbär, ein Gorilla und zwei Elefanten aus Zoos und Zirkussen Reißaus. In Jena war in diesem Jahr ein entwischter Albino-Pfau Stadtgespräch, eine Antilope legte 2021 in Darmstadt den Zugverkehr lahm.
Nicht immer gehen Begegnungen zwischen den Geflüchteten und Menschen glimpflich aus. Als fünf Schimpansen 2012 aus dem Zoo Hannover ausbrachen, wurde ein Mädchen verletzt. Ein Tierpfleger aus Münster fand 2013 den Tod, als ein entwischter Tiger sich nach Tigerart rücklings anschlich und ihn ins Genick biss.
Ein Luchs auf Freigang in Nürnberg starb 2021 an dem Gift aus einem Betäubungspfeil, ein flüchtiger Zoo-Wolf wurde bei Gelsenkirchen von einem Auto überrollt und starb. Es gibt viele solcher Fälle.

Berlin ist Europas Hauptstadt der Wildtiere

Trotz der Fülle an unschönen und auch tragischen Geschichten zieht es die bei uns heimischen Wildtiere ausgerechnet in die Städte. In der Dämmerung beobachten Hamburger Füchse, die mit lautlosem federndem Schritt durch Parkhäuser ziehen; in Münchener Randbezirken liefern sich die Wildschweine eine Wette, wer die meisten Vorgärten umgräbt, und nebenan klettert ein Waschbär – an seiner den Dieb verratenden maskenhaften Gesichtszeichnung erkennbar – ein Regenrohr hoch, um das Katzenfutter vom Balkon zu stehlen.
Berlins Wildlife stellt all das in den Schatten. In der Hauptstadt sollen mehr als 150 Vogel- und 53 Säugetierarten heimisch sein. Allein 1000 Nachtigallen singen nach Schätzungen von Biologen in Berliner Büschen. Mehrere Biberfamilien leben im Bezirk Tiergarten. Tatsächlich haben weder Helsinki noch in Paris so viele Tier- und Pflanzenarten zu bieten. Berlin gilt als europäische Hauptstadt der Wildtiere.
Das liegt vor allem an reichlich viel Platz, denn noch immer ist an der Spree vergleichsweise wenig Fläche verbaut; um Berlin herum gibt es viel Wald und im Stadtgebiet mehr als 2500 Parks, Grünanlagen, Friedhöfe und Brachen. Ein weitverzweigtes Netz aus Flüssen, Kanälen, Seen und Feuchtgebieten machen die Stadt zur begehrten Heimstätte für wilde Neu- und Altberliner.

Was tun, wenn man im Garten auf ein Wildschwein trifft? Sind Stadtfüchse gefährlich? Wie schützt man sein Auto vor Schäden durch Marder? Die Berliner Senatsverwaltung für Umwelt und Klimaschutz gibt auf ihrer Website Tipps zum Umgang mit Wildtieren.

Doch auch in anderen deutschen Großstädten sagen sich Fuchs und Hase gute Nacht. Hier finden Wildtiere oft mehr Nahrung als auf den Feldern und in den bewirtschafteten Wäldern des Umlands.
Heutige Städte seien oft artenreicher als das Umland, berichtet der Biologe Josef H. Reichholf. Vor allem im Winter steigt ihre Population. Durch die Wärme, die beheizte Gebäude und Autos abgeben, können die Temperaturen in der Stadt sechs bis zwölf Grad höher liegen als im Umland. Das mag vor allem das Federvieh. Über zehn Mal mehr Kleinvögel als in den Wäldern finde man in der winterlichen Großstadt, sagt Reichholf. Selbst so mancher Zugvogel flieht nicht mehr in den Süden, sondern überwintert in der City.

Handel mit Fuchswelpen

In Stadtparks darf das Wildleben also gedeihen und sich entfalten, aber in den Stadtwohnungen fristen wilde Tiere oft ein trauriges Dasein. Vergangenes Jahr flog in Berlin eine Frau auf, die Fuchswelpen zu 5000 Euro das Stück verkaufte. Die Tiere sollen nur sechs Wochen alt und unterernährt gewesen sein.
Im Januar öffneten bei einer Verkehrskontrolle Dresdner Polizisten einen Transporter und fanden darin einen Kranich, Stachelschweine, Alpakas, ein Hokkohuhn und ein Parma-Känguru. Es gibt viele solche polizeilich bestätigten Berichte.
Da geht es den Wildtieren im Stadtzoo allemal besser, das möchte man nur allzu gerne glauben. Und wahrscheinlich stimmt es ja auch. Tucholskys Löwe ließ sich übrigens ohne Gegenwehr einfangen und in seinen Käfig führen. Die Stadt Berlin, fand er, war eine Enttäuschung.
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