Wildnis vor der Haustür

Ungezähmte Natur gibt es auch in unserer Nähe! Ekkehard Ophoven stellt in "Deutschlands wilde Tiere" die Lebensgewohnheiten und Eigenarten der einheimischen Tierarten in Wort und Bild vor: von den ganz Kleinen, den Kreuzspinnen, bis zum größten deutschen Raubtier, der nimmersatten Kegelrobbe.
Wer an wilde Tiere denkt, sieht Afrikas Löwen, Indiens Tiger oder Grönlands Eisbären vor sich. An Deutschland denkt er zuletzt und das ist keineswegs gerechtfertigt, wie jetzt der studierte Forstwissenschaftler Ekkehard Ophoven in seinem großformatigen Bildband farbprächtig vor Augen führt.

Auch wenn es bei uns nur wenige spektakuläre große Räuber gibt, wie den Steinadler oder den Wolf, der sich allmählich wieder heimisch fühlt, so tummeln sich doch eine Menge kleinerer Tiere in Wald und Feld, Gebirge und Meer, die allesamt dem Ansturm der Zivilisation standgehalten oder getrotzt haben.

Wie sich eine ganze Reihe von Wildtieren an die Nähe des Menschen gewöhnt hat und es sich z.B. in Städten wohlergehen lässt, weckt Bewunderung. Wildschweine, eigentlich scheue Wesen, die am liebsten nächtens unterwegs sind, wühlen sich am helllichten Tag durch Berliner Villengärten - nicht unbedingt zur Begeisterung der Besitzer. Und Füchse schüren durch Parkanlagen, jagen Mäuse und Kaninchen.

Verblüffend ist auch die Anpassungsfähigkeit, für die Ekkehard Ophoven manches schöne Beispiel anführt. Da wäre z.B. der Kolkrabe zu nennen, ein höchst intelligenter Vogel, der gerne auch mal die Rufe anderer Vögel imitiert und rasch lernt, wo es was abzustauben gibt. Lange wurde er als Unglücksrabe und Galgenvogel verfolgt und gejagt.

Sympathisch ist, dass der Autor auch Allerweltsvögel wie den Haussperling aufführt, denn der Spatz lebt gerne mit dem Menschen.

Ekkehard Ophoven hat natürlich eine Auswahl getroffen, denn es gibt weit mehr wilde Tiere in Deutschland, als sein Buch zeigen kann. Natürlich fehlen nicht imposante Säuger wie der mächtige Rothirsch oder der Steinbock, das Buch zeigt scheue Räuber wie den wieder zurückgekehrten Luchs oder den ebenfalls erfolgreich in den Alpen wieder ausgesetzten Steinadler.

Aber wer weiß schon, dass Deutschlands größtes Raubtier die nimmersatte Kegelrobbe mit über drei Metern Länge und über 300 Kilogramm Gewicht ist.

Man lernt auch einige Kuriositäten kennen. So jagt der Schreiadler keineswegs aus der Luft, sondern pirscht sich auf der Wiese an seine Beute und trägt sie dann mit dem Schnabel davon. Bei ihm herrschen zudem raue Sitten im Nest. Der Erstgeborene überlässt dem später Geborenen keinen einzigen Bissen.

Dieser würde verhungern, retteten ihn heute nicht Naturschützer. Nach ein paar Tagen, wenn der Aggressionstrieb des älteren Jungadlers erloschen ist, schiebt man den jüngeren wieder ins Nest. Das funktioniert tatsächlich.

Auch den Kleinen schenkt der Autor seine Aufmerksamkeit, als da sind Kreuzspinne und Prachtlibelle, Auster und Flusskrebs. Am kuriosesten aber ist sicherlich der Hirschkäfer mit seinen mächtigen Oberkiefern.

Er ist in den ausgeräumten deutschen Wäldern nur noch ein seltener Gast, denn er braucht Todholz, um zu leben. Seine Larven fressen sich mehrere Jahre lang durch abgestorbenes Holz, bevor sie sich verpuppen und nur einen einzigen Monat lang im Wald rumkrabbeln.

Je kräftiger das Gebiss, desto größer die Chance der Männchen bei den Weibchen. Die versorgen sie als Dank für die Zeugung des Nachwuchses mit Nahrung, denn die Riesenkiefern hindern die Männchen daran, die Baumrinde aufzubeißen, um an den Saft, ihr Lebenselixier, heranzukommen. Das erledigen die Weibchen für sie.

Bisweilen sind die Tierbeschreibungen allzu kurz geraten, hätte man gerne mehr über ihre Gewohnheiten erfahren, aber das Buch vermittelt insgesamt doch einen faszinierenden Einblick in unser Wildleben. Warum in die Ferne schweifen, wenn die Wildnis vor der Haustür beginnt.

Besprochen von Johannes Kaiser

Ekkehard Ophoven:
Deutschlands wilde Tiere – Wo Adler, Luchs und Biber wohnen

Kosmos Verlag, Stuttgart 2009
159 Seiten, 238 Farbfotos, 29,90 Euro