Wildes Ernten in den Städten

Von Selbstversorgern und urbanen Mundräubern

10:33 Minuten
Ein roter Apfel liegt auf dem Boden, im Unschärfebereich dahinter sieht man, dass dort weitere Äpfel liegen. (Symbolbild)
Fallobst: Selbst in der Nähe von urbanen S-Bahnhöfen kann man sich den Speiseplan aufbessern. Urbane Mundräuber halten Ausschau nach solchen Gelegenheiten. © imago / Westend61
Von Matthias Finger · 17.08.2019
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Die modernen Mundräuber von heute vernetzen sich online und kartografieren die Stadt neu: Sie halten Ausschau nach Bäumen und Grünanlagen, die Essbares bereit halten. Dabei zeigt sich: Auch Großstädte werfen weit mehr Nahrung ab, als gedacht.
Die Stadt der Zukunft muss sich auch ernähren. Ein Ansatz ist es, bisher vernachlässigte Nahrungsquelle in die Versorgung der Stadtbevölkerung mit einzubeziehen. Denn überall wächst bereits Essbares und zwar vollkommen kostenlos. Mundräuber nennen sich Menschen, die Obst und Gemüse ernten, das scheinbar keinem gehört: auf Streuobstwiesen oder von Brombeersträuchern in der Stadt.
Unser Reporter Matthias Finger hat sich für uns in Berlin umgesehen – und einiges an Essbarem gefunden, etwa ein Baum an einem S-Bahnhof in seiner Nähe: "Erst jetzt habe ich mitbekommen, dass in der Krone hunderte gelbe Kügelchen hängen: Mirabellen. Die sehe ich normalerweise nicht, weil ich eher geradeaus schaue."

Äpfel aus dem Unterholz

Aufmerksam auf den Baum wurde er über die Webseite mundraub.org, die Gewächse mit essbaren Früchten verzeichnet. Außerdem hat er sich auf organisierte Mundraubtouren begeben. So lassen sich rund um den S-Bahnhof Plänterwald im Unterholz heruntergefallene Äpfel finden, die sich mangels Überzüchtung ihren natürlich Geschmack bewahrt haben.
Magda organisiert solche Touren. Zu ihren Beweggründen erklärt sie: "Bei mir ist es ganz klar die Sache des Erlebnisses in der Natur und der Geschmack. Ich liebe den Geschmack von frisch gepflücktem Obst einfach mehr. Nicht einfach nur, weil es besser schmeckt, sondern weil man ein anderes Gefühl hat beim Sammeln und Pflücken. Und zuhause verarbeitet man das. Da ist man noch irgendwie viel verbundener mit diesem Obst und Gemüse. Das schmeckt mir dann einfach besser."
Magda findet denn auch, dass "viel mehr essbare Obstbäume oder -sträucher gepflanzt werden können. Also Johannisbeersträucher auf dem Spielplatz tun keinem weh, anstatt giftiger Kirschlorbeerbäume."

Aufrüsten in Sachen Biodiversität

Die Stadt Andernach in Rheinlandpfalz nennt sich bereits "essbare Stadt". Im ganzen Stadtgebiet werden nur Nutzpflanzen angebaut. Lutz Kosack vom Stadtplanungsamt hat sich das ausgedacht:
"Erdbeeren, Zucchini, Mangold, verschiedene Kohlsorten, Kartoffeln, Rote Bete, Sellerie. Die ganzen Sachen, die man zuhause aus dem Garten kennt. Und dazu eine Vielzahl an Gehölzen. Wobei wir hier aufgrund des schönen warmen Klimas in Andernach auch sehr wärmeliebende Gehölze nehmen konnten - wie Granatapfel und Khaki. Die wachsen jetzt hier."
Für die Pflanz-und Pflegearbeiten werden Ein-Euro-Jobber herangezogen. Das fördert den sozialen Frieden in der Stadt der Zukunft. Ernten darf aber jeder.
Einfach mal in der Mittagspause nicht zum Dönerstand gehen, sondern frische Pflaumen und Karotten für ein gesundes Mittagessen ernten - warum macht eine Kommune so was? Dahinter steckt ein Aufruf der Bundesanstalt für Naturschutz, mehr für Biodiversität zu tun:
"Wir dachten, Mensch, versuchen wir es doch mit Nutzpflanzen und haben 101 verschiedene Tomatensorten an die Stadtmauer gepflanzt. Und nachdem das bei der Bevölkerung sehr schön angekommen ist, haben wir an dem Punkt weiter gemacht. Und so ist dann in den letzten Jahren die essbare Stadt entstanden."
Und das Ganze war ein großer Erfolg: Die Stadt ist mittlerweile ein wichtiger Ort der Biodiversität. Die Artenvielfalt ist hier zum Teil größer als im Wald.

Auf dem Weg zur Selbstversorgung

Auch ökologisch ist das sinnvoll: Transportwege fallen weg. Das junge Stadtgemüse ist meist öko. Und es kann sogar Versorgungsketten sichern. Die Essensvorräte moderner Städte reichen für maximal 3 Tage, meint Wilfried Bommert, Sprecher des Instituts für Welternährung in Berlin:
"Nur zehn Prozent dessen, was heute in den Städten angeboten wird, kommt aus ihren Regionen. Das heißt: Wir sind in den Städten auf Importe angewiesen. Aber diese Importe werden immer risikoreicher – nicht zuletzt aufgrund des Klimawandels. Stürme irgendwo, Dürren irgendwo können die Logistikketten irgendwo zerreißen und dann stehen die Städte einfach – was die Nahrungsmittel betrifft – blank da."
Durchaus plausibel: In der Automobilindustrie kommt es ja auch immer mal zu Engpässen – bei der Just-in-Time-Logistik. Nichts wird mehr vorgehalten, alles kommt genau dann, wenn es gebraucht wird. Bei den Nahrungsmitteln ist es ähnlich. Die Lagerung findet auf LKWs statt, die durch die Gegend fahren. Zudem importiert Deutschland auch viel Essen.

Die Politik reagiert verhalten

Außerdem: Wir schneiden unsere eigenen Wurzeln, den Bezug zu unserer Nahrung, ab. Ernten in der Stadt ist ein kultureller Wert, der in Vergessenheit gerät. Hier müssen wir ansetzen, weil es um die Überlebensfähigkeit der Gesellschaft geht, meint Wilfried Bommert:
"Zu sehen, dass das, was wir essen irgendwo wächst und wir das anbauen können und wachsen lassen können. Und früher war es so: Wenn Leute ernten oder sähen, dass sie ihre Nachbarn dabei hatten. Das war auch ein soziales Ereignis. Und insofern ist Selbstanbau auch ein kultureller Akt."
Die Politik reagiert derzeit noch verhalten. Für die Stadt Berlin wird gerade ein Selbstversorgungskonzept erarbeitet. Doch viele Kommunen haben sich damit noch gar nicht befasst.

Eine Art Spinat aus Brennnesseln

Bis dahin können wir uns ja auch bei Wildpflanzen bedienen, die zum Teil ebenfalls auf mundraub.org verzeichnet sind. Junge Baumtriebe eignen sich für Salate - erklärt mir Karo, die ich auch getroffen habe. Sie versucht wilde Pflanzen in ihren Speiseplan einzubauen, darunter auch Brennnesseln:
"Man kann aus den Blättern eine Art Spinat herstellen. Wenn man sie einmal mit heißem Wasser überbrüht, dann brennen auch die Brennhaare nicht mehr. Die Samen der Brennnessel, die nicht brennen, kann man verwenden. Sind sehr proteinhaltig."

Ist das Stadtobst nicht abgasverseucht?

Aber schadet Obst und Gemüse aus der Stadt nicht - Stichwort Abgase? Es kommt drauf an. Gemüse nimmt Schadstoffe auf und sollte nicht direkt an viel befahrenen Straßen geerntet werden. Äpfel aus dem Supermarkt hingegen können mehr Blei enthalten als Äpfel, die in der zugestauten Berliner Karl-Marx-Allee wachsen – sagt Mundraubguide Magda:
"Hier ja. Hier sind wir zehn Meter von der Straße entfernt. Es gibt eine Studie von der TU Berlin. Die haben das mal getestet. Und es hat sich herausgestellt, dass Bäume, die zehn Meter entfernt von der Straße stehen, schon etwas belastet sind - aber nicht gesundheitsschädigend."
Dafür pflückt Magda aber kein Obst in der Nähe großer Maisfelder, weil dort oft Insektenschutzmittel benutzt werden.

Strenggenommen handelt es sich um Diebstahl

Allerdings: In unserer Gesellschaft gehört ja alles irgendjemandem. Wer ernten möchte, sollte eventuell nachfragen. Die Kommunen haben meistens nichts dagegen, Pächter von Streuobstwiesen vielleicht schon.
Strenggenommen ist es gemeiner Diebstahl. Den Straftatbestand des Mundraubes gibt es seit über 40 Jahren nicht mehr.
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