Wilder Strudel von Geschichten im Kopf

Von Mirko Schwanitz |
Taras Prohasko stammt aus einem Dörfchen in der Ukraine, das für ihn "alles" bedeutet. Seine Herkunft spiegelt sich in seinen Geschichten, die voll liebenswerter Eigenbrötler sind, die sich im Schutz der Karpaten eine eigene Welt bauen. Der jetzt auf Deutsch erscheinende Band "Daraus lassen sich einige Geschichten machen" wurde in der Ukraine zum "Buch des Jahres".
So oft er kann, verlässt Taras Prohasko seine Heimatstadt Iwano-Frankivsk, das früher Stanislau, im Osten der Ukraine. Irgendwo im Nirgendwo, wo die Karpaten höher und allmählich schroffer werden, steigt er aus. Hier trägt das Nirgendwo den Namen des Dörfchens Delyatin.

Taras Prohasko: "Dieser Ort bedeutet für mich eigentlich alles. Alles, was ich denke, erlebe und fühle, ist mit dieser Landschaft verbunden. Auch wenn ich woanders bin, die Art und Weise, wie ich die Welt sehe, hat hier ihre Ursprünge."

Ein Weg schraubt sich bis vor ein Tor, hinter dem Hühner gackern und zwei Hunde zu faul sind, den hochgewachsenen, breitschultrigen Hausherrn zu begrüßen. Hinter diesem Tor nehmen alle Geschichten von Taras Prohasko ihren Anfang und alle erzählen von der merkwürdigen Parallelwelt, in der er aufgewachsen ist.

Taras Prohasko: "Meine Familie lebte in Relikten einer längst vergangenen Zeit. In einem Galizien, das vor mehr als 50 Jahren untergegangen ist. Die hier lebenden Juden wurden im Krieg vernichtet, die Polen weggebracht, das österreichisch-deutsche Element wurde ausradiert, die ukrainischen Intellektuellen umgebracht.

Statt ihrer wurden hier einige Millionen Menschen aus dem Osten der Sowjetunion angesiedelt. Aber ich wuchs unter Leuten auf, die es verstanden hatten, alle Vernichtungswellen zu überstehen. Polnische Großmütter, die der Umsiedlung entgingen. Juden, die sich retten konnten, nicht erschossene ukrainische Intellektuelle."

Taras Prohaskos Vater rettet sich vor den Kommunisten in die endlosen Wälder der Karpaten, wird Förster, die Mutter Ärztin in der städtischen Kinderklinik. Schon früh erziehen sie ihre Söhne, den 1968 geborenen Taras und den jüngeren Jurko, im Geist einer Familiengeschichte, wie er sich so nur in Galizien zutragen konnte:

Ausschnitt aus Prohaskos "Daraus könnte man ein paar Geschichten machen": "Neben der Musikschule stand ein Haus, es war uralt und irgendwann hatte dort mein Urgroßvater Ignati gewohnt. Er war Hauptdiakon von Stanislau gewesen und Organisator der Diakonatsbewegung in Galizien (…) In den achtziger Jahren war dort ein geheimes Kloster. (….) Die Nonnen brachten uns heimlich geweihtes Jordanwasser, geweihtes Osterbrot und gefärbte Eier. … Früher war unser Haus die Residenz eines Stanislauer Rabbis. Das Dach war so gebaut, dass es sich öffnen ließ. So brauchte man an den Feiertagen, an denen unter freiem Himmel gespeist werden musste, den kleinen Palast nicht zu verlassen…"

Taras Prohasko: "Es war mein Glück, dass ich mich als Kind eher in diesem Paralleluniversum bewegte. Das war wie eine Impfung, dank derer ich dann in der Schule dieser Gehirnwäsche mit ihren Apellen und roten Halstüchern Widerstand leisten konnte."

Vielleicht sind seine Erzählungen gerade deshalb voll liebenswerter Eigenbrötler, die sich im Schutz der Karpaten eine eigene Welt bauen.

Prohasko, der zunächst Forstwirtschaft studierte und heute als Journalist arbeitet, veröffentlichte seinen ersten Erzählband vor zehn Jahren, er war gerade 30 geworden. Die Kritiker staunten. Plötzlich waren da Geschichten, die den kulturellen Untergrund des alten Galiziens freilegten, die ein Verständnis dafür weckten, warum die Sowjetzeit hier nur schwer Wurzeln schlagen konnte.

Es folgten sein Roman "Neprosti" und der jetzt bei Suhrkamp erscheinende Band "Daraus lassen sich ein paar Geschichten machen". Das feine Netz, das Prohasko hier aus den Lebensgeschichten seiner Eigenbrötler webt, veranlasste einen Literaturkritiker dazu, ihn den "Gabriel Marquez der Ukraine" zu nennen. Einen Marquez, den es ohne das Haus in Delyatin nicht geben würde.

"So nun sind wir da. Es riecht ein wenig nach dem feuchten Kalk der Wände, weil wir den ganzen Winter nicht geheizt haben. In den Möbeln nagen die Holzwürmer. Die Uhr ist aus einer Zeit, als die Welt hier noch in Ordnung schien. Sie ist in den Siebzigerjahren stehen geblieben. Zigmal haben wir sie zum Uhrmacher gebracht, wollten sie wieder zum Laufen bringen. Es ist uns nicht gelungen"
Für Taras Prohasko ist diese Uhr die Verbindung zu jenem Galizien, das es nicht mehr gibt. In der Stadt falle es ihm schwer, seine Gedanken zu ordnen. Nie finde er dort wirklich Zugang zu einer Geschichte.

In diesem Haus aber würde der wilde Strudel von Geschichten in seinem Kopf wie von selbst zur Ruhe kommen, würde plötzlich der Beginn einer Erzählung, das Gesicht einer Figur auftauchen. Und während er schreibe vermeine er plötzlich, das Ticken der Uhr zu hören.
"Das ist der Ort, in dem ich mich einfach auflöse. Es ist das Gefühl, als wären hier viele Geschichten gleichzeitig anwesend. Hier, so habe ich einmal geschrieben, erinnere ich mich an Dinge, an die ich mich eigentlich nicht erinnern kann."