Wilde Musik in bewegter Zeit
Erfunden wurde der Jazz bekanntlich in New Orleans, aber quasi die Welthauptstadt des Jazz war New York in den 1920er Jahren. Dem Geist dieser Zeit spürt Robert Nippoldt mit exquisiten Zeichnungen nach. Der Jazz-Experte Hans-Jürgen Schaal ergänzt die Bilder um kenntnisreiche Texte, die Einblick gewähren in die Musikszene jener Jahre.
Die historische Wahrheit über die Geburt und das Aufwachsen des Musikgenres Jazz aufzuspüren , fällt nicht leicht. In New Orleans, der Geburtstadt des Jazz - wenigstens da ist man sich einig - trafen sich um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert ja keine Musiker, die präzise Angaben über ihre Spielweise hinterließen oder sorgfältige Besetzungslisten erstellten. Im Gegenteil: sie traten mit Vorliebe im Rotlichtviertel Storyville auf, das sich durch eine hohe Kriminalitätsrate "auszeichnete"; und von dem Kornettspieler Buddy Bolden, allgemein als eminent wichtiger und populärer Musiker dieser frühen Zeit bezeichnet, existiert keine einzige Musikaufnahme. Zu dem Wenigen, was man über ihn weiß, gehört hingegen, dass er lange Jahre seines Lebens in einer psychiatrischen Anstalt verbrachte.
Trotzdem ist die Lust am Fabulieren über den frühen Jazz ungebrochen. Der international bekannte Schriftsteller Michael Ondaatje tut es, sein Roman "Buddy Boldens Blues", erzählt die Geschichte eben dieses Jazz-Pioniers; und der englische Autor Geoff Dyer legte vor einigen Jahren mit "But Beautiful" eine vorzügliche fiktionale Untersuchung über eine Handvoll Jazzmusiker vor, als deren gemeinsames Problem sich die unbedingte Suche nach Kreativität herausstellte - auch auf Kosten des eigenen Lebens.
Der Design-Grafiker Robert Nippoldt und der Musik-Publizist Hans-Jürgen Schaal befinden sich also mit ihrem Buch "Jazz im New York der wilden Zwanziger" in bester Gesellschaft - und sie bewähren sich bravourös. Ihr hochformatiges Buch ist ein Leckerbissen geworden, und zwar sowohl für Jazzliebhaber als auch für Bücher-Narren. Nippoldts Zeichnungen mit Stahlfeder und Tusche sowie bräunlicher Kolorierung am Computer, also in den Farben Schwarz, Weiß und Braun gehalten, beziehen sich oft auf bekannte Fotos der Jazzgeschichte - etwa die Portraits der alle anderen auch körperlich überragenden Sängerin Bessie Smith oder der durch und durch eleganten Erscheinung des Pianisten und Bandleaders Duke Ellington.
Nippoldt sucht dabei ausgefallene Sichtweisen, er bevorzugt Draufsicht oder Untersicht, und wie bei einem Film-Close up sieht man zum Beispiel in einer extremen "Naheinstellung" nur die Hände und die Stöcke des Schlagzeugers Chick Webb, mit denen er das Becken bearbeitet, oder, leicht angeschnitten, so dass er eine Art Verbeugung vor uns macht, den King of Swing mit seiner Klarinette: Benny Goodman.
Über diese exquisiten Einzeldarstellungen hinaus hat der Verlagsleiter aber dem Designer offenkundig eine carte-blanche gegeben, so viele seiner Ideen wie nur möglich in den Text zu integrieren. So tauchen etwa fingernagel-große, oder besser fingernagel-kleine, Mini-Portraits im Text auf; Schallplatten-Etiketten aus der frühen Zeit werden nachgezeichnet, und mit Nippold werfen wir einen Blick in die großen Ballrooms von New York, in denen die Jazzorchester Programmpunkte aufwendig inszenierter Shows waren.
Dazu gibt es eine große Übersichtskarte von Manhattan mit Eintragungen aller bekannten Clubs, und schließlich zeichnet Robert Nippold ein auch Sonogramm auf, das die bildlich-graphische Umsetzung von Musikstücken ermöglicht oder prüft nach, wer von den Musikern im Mittelpunkt (oder eben eher am Rande) des Geflechts von Verbindungen und gemeinsamen Aufnahmesessions stand.
Am spannendsten unter diesen graphischen Einfällen aber ist die großformatige, zweiseitige Übersicht der Reiserouten des Klarinettisten (später Sopransaxophonisten) Sidney Bechet zwischen 1919 bis 1931. Sie nachzuverfolgen ist schier unglaublich. Bechet, in New Orleans geboren, blieb nicht lange in den USA. Er verließ New York, Boston und Washington, ging nach Paris, wurde in England in kriminelle Machenschaften verwickelt, verweilte einige Zeit in Deutschland, fühlte sich in Paris wie zu Hause, kannte Italien sehr gut, besuchte Algier, Tunis und Kairo; für ihn waren die Städte Belgrad, Sofia und Istanbul keine unbekannten Orte, er trat sogar erfolgreich in Osteuropa auf, war in Budapest, Kiew, Odessa, Charkow und Moskau. Auf einer dieser Tourneen traf er in Frankfurt am Main Elisabeth Ziegler, die er schließlich 1951 heiraten wird. Selten kann man die weltumspannende Macht der Jazzmusik eindringlicher sehen.
Die Texte von Hans-Jürgen Schaal wiederum, die kurzen historischen Einleitungen zu New Orleans, zu Chicago und über die Gründe, die New York in den zwanziger Jahren zur Jazz-Hauptstadt machten, geben einen skizzenhaften, aber präzisen Hintergrund ab. Die Kurzdarstellungen der Lebensläufe von knapp zwei Dutzend Musikern - darunter die weniger bekannten Orchesterleiter Nick LaRocca oder Jean Goldkette und natürlich die Porträts der Großen: Fats Waller, Bix Beiderbecke, Coleman Hawkins und Louis Armstrong - bieten vielleicht für Kenner der Jazz-Geschichte keine großen Enthüllungen, doch als "appetizer" und anekdotengetränkte kleine Vorstellungen bilden sie einen gelungenen Kontrast zu den Zeichnungen.
Sie sind vor allem auch deshalb als Hintergrund wichtig, weil die Bilder alleine suggerieren könnten, welch wunderbare Welthauptstadt der neuen Musik und des raffinierten Entertainments New York in den zwanziger Jahren war. Schaals Texte weisen jedoch auch auf die Schattenseiten hin, den Rassismus jener Jahre vor allem: Afro-Amerikaner fanden als Besucher, wenn sie denn den Eintritt hätten zahlen können, keinen Platz in den berühmten Clubs, sie waren dort nur als Bedienstete gern gesehen - und natürlich als Entertainer: Musiker, Tänzer, Sänger.
"Slumming" hieß das Zauberwort der Besucher aus Midtown und Downtown New York in jenen Jahren: Man vergnügte sich und hatte gleichzeitig ein Gefühl eines aufregenden Prickelns, denn nördlich der 125. Straße lebten nur Schwarze; was konnte hier alles passieren! Tatsächlich kam es oft zu filmreifen Szenen und Schießereien - die Mafia hatte, wie wohlbekannt war, ihre Finger auch im Musikgeschäft.
Mit einem großformatigen Bild knüpfen Nippoldt und Schaal einen feinen Faden in die späteren Jahre. 1958 bat die Zeitschrift "Esquire" alle berühmten New Yorker Jazzmusiker nach Harlem, um ein Gemeinschaftsphoto zu erstellen. Das eindringliche Porträt einer ganzen Musikergeneration entstand. Nippoldt und Schaal bedienen sich dieser Vorlage, füllen die Reihen allerdings mit ihren Helden - den Stars der 20er Jahre.
Als zusätzlichen Bonbon erhält der Leser von "Jazz im New York der wilden Zwanziger" eine CD mit zwanzig Originalsongs aus jenen "roaring 20s" - sie beginnt mit "Freakish" einem Stück von Jelly Roll Morton, der von sich behauptet hatte, eigenhändig den Jazz erfunden zu haben (er konnte sogar ein genaues Datum dafür angeben), und endet mit dem Showman Cab Calloway, der 1930 "Minnie The Moocher" intonierte und sein Publikum aufforderte, sich am offenkundig unsinnigen, dafür aber sehr rhythmischen Scatgesang zu beteiligen: "Hi De Hi Di Hidi Hi".
Rezensiert von Maximilian Preisler
Robert Nippoldt und Hans-Jürgen Schaal: Jazz im New York der wilden Zwanziger
Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2007
144 Seiten, 39,90 EUR
Trotzdem ist die Lust am Fabulieren über den frühen Jazz ungebrochen. Der international bekannte Schriftsteller Michael Ondaatje tut es, sein Roman "Buddy Boldens Blues", erzählt die Geschichte eben dieses Jazz-Pioniers; und der englische Autor Geoff Dyer legte vor einigen Jahren mit "But Beautiful" eine vorzügliche fiktionale Untersuchung über eine Handvoll Jazzmusiker vor, als deren gemeinsames Problem sich die unbedingte Suche nach Kreativität herausstellte - auch auf Kosten des eigenen Lebens.
Der Design-Grafiker Robert Nippoldt und der Musik-Publizist Hans-Jürgen Schaal befinden sich also mit ihrem Buch "Jazz im New York der wilden Zwanziger" in bester Gesellschaft - und sie bewähren sich bravourös. Ihr hochformatiges Buch ist ein Leckerbissen geworden, und zwar sowohl für Jazzliebhaber als auch für Bücher-Narren. Nippoldts Zeichnungen mit Stahlfeder und Tusche sowie bräunlicher Kolorierung am Computer, also in den Farben Schwarz, Weiß und Braun gehalten, beziehen sich oft auf bekannte Fotos der Jazzgeschichte - etwa die Portraits der alle anderen auch körperlich überragenden Sängerin Bessie Smith oder der durch und durch eleganten Erscheinung des Pianisten und Bandleaders Duke Ellington.
Nippoldt sucht dabei ausgefallene Sichtweisen, er bevorzugt Draufsicht oder Untersicht, und wie bei einem Film-Close up sieht man zum Beispiel in einer extremen "Naheinstellung" nur die Hände und die Stöcke des Schlagzeugers Chick Webb, mit denen er das Becken bearbeitet, oder, leicht angeschnitten, so dass er eine Art Verbeugung vor uns macht, den King of Swing mit seiner Klarinette: Benny Goodman.
Über diese exquisiten Einzeldarstellungen hinaus hat der Verlagsleiter aber dem Designer offenkundig eine carte-blanche gegeben, so viele seiner Ideen wie nur möglich in den Text zu integrieren. So tauchen etwa fingernagel-große, oder besser fingernagel-kleine, Mini-Portraits im Text auf; Schallplatten-Etiketten aus der frühen Zeit werden nachgezeichnet, und mit Nippold werfen wir einen Blick in die großen Ballrooms von New York, in denen die Jazzorchester Programmpunkte aufwendig inszenierter Shows waren.
Dazu gibt es eine große Übersichtskarte von Manhattan mit Eintragungen aller bekannten Clubs, und schließlich zeichnet Robert Nippold ein auch Sonogramm auf, das die bildlich-graphische Umsetzung von Musikstücken ermöglicht oder prüft nach, wer von den Musikern im Mittelpunkt (oder eben eher am Rande) des Geflechts von Verbindungen und gemeinsamen Aufnahmesessions stand.
Am spannendsten unter diesen graphischen Einfällen aber ist die großformatige, zweiseitige Übersicht der Reiserouten des Klarinettisten (später Sopransaxophonisten) Sidney Bechet zwischen 1919 bis 1931. Sie nachzuverfolgen ist schier unglaublich. Bechet, in New Orleans geboren, blieb nicht lange in den USA. Er verließ New York, Boston und Washington, ging nach Paris, wurde in England in kriminelle Machenschaften verwickelt, verweilte einige Zeit in Deutschland, fühlte sich in Paris wie zu Hause, kannte Italien sehr gut, besuchte Algier, Tunis und Kairo; für ihn waren die Städte Belgrad, Sofia und Istanbul keine unbekannten Orte, er trat sogar erfolgreich in Osteuropa auf, war in Budapest, Kiew, Odessa, Charkow und Moskau. Auf einer dieser Tourneen traf er in Frankfurt am Main Elisabeth Ziegler, die er schließlich 1951 heiraten wird. Selten kann man die weltumspannende Macht der Jazzmusik eindringlicher sehen.
Die Texte von Hans-Jürgen Schaal wiederum, die kurzen historischen Einleitungen zu New Orleans, zu Chicago und über die Gründe, die New York in den zwanziger Jahren zur Jazz-Hauptstadt machten, geben einen skizzenhaften, aber präzisen Hintergrund ab. Die Kurzdarstellungen der Lebensläufe von knapp zwei Dutzend Musikern - darunter die weniger bekannten Orchesterleiter Nick LaRocca oder Jean Goldkette und natürlich die Porträts der Großen: Fats Waller, Bix Beiderbecke, Coleman Hawkins und Louis Armstrong - bieten vielleicht für Kenner der Jazz-Geschichte keine großen Enthüllungen, doch als "appetizer" und anekdotengetränkte kleine Vorstellungen bilden sie einen gelungenen Kontrast zu den Zeichnungen.
Sie sind vor allem auch deshalb als Hintergrund wichtig, weil die Bilder alleine suggerieren könnten, welch wunderbare Welthauptstadt der neuen Musik und des raffinierten Entertainments New York in den zwanziger Jahren war. Schaals Texte weisen jedoch auch auf die Schattenseiten hin, den Rassismus jener Jahre vor allem: Afro-Amerikaner fanden als Besucher, wenn sie denn den Eintritt hätten zahlen können, keinen Platz in den berühmten Clubs, sie waren dort nur als Bedienstete gern gesehen - und natürlich als Entertainer: Musiker, Tänzer, Sänger.
"Slumming" hieß das Zauberwort der Besucher aus Midtown und Downtown New York in jenen Jahren: Man vergnügte sich und hatte gleichzeitig ein Gefühl eines aufregenden Prickelns, denn nördlich der 125. Straße lebten nur Schwarze; was konnte hier alles passieren! Tatsächlich kam es oft zu filmreifen Szenen und Schießereien - die Mafia hatte, wie wohlbekannt war, ihre Finger auch im Musikgeschäft.
Mit einem großformatigen Bild knüpfen Nippoldt und Schaal einen feinen Faden in die späteren Jahre. 1958 bat die Zeitschrift "Esquire" alle berühmten New Yorker Jazzmusiker nach Harlem, um ein Gemeinschaftsphoto zu erstellen. Das eindringliche Porträt einer ganzen Musikergeneration entstand. Nippoldt und Schaal bedienen sich dieser Vorlage, füllen die Reihen allerdings mit ihren Helden - den Stars der 20er Jahre.
Als zusätzlichen Bonbon erhält der Leser von "Jazz im New York der wilden Zwanziger" eine CD mit zwanzig Originalsongs aus jenen "roaring 20s" - sie beginnt mit "Freakish" einem Stück von Jelly Roll Morton, der von sich behauptet hatte, eigenhändig den Jazz erfunden zu haben (er konnte sogar ein genaues Datum dafür angeben), und endet mit dem Showman Cab Calloway, der 1930 "Minnie The Moocher" intonierte und sein Publikum aufforderte, sich am offenkundig unsinnigen, dafür aber sehr rhythmischen Scatgesang zu beteiligen: "Hi De Hi Di Hidi Hi".
Rezensiert von Maximilian Preisler
Robert Nippoldt und Hans-Jürgen Schaal: Jazz im New York der wilden Zwanziger
Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2007
144 Seiten, 39,90 EUR