Wiedergänger per Post

05.02.2010
Was für ein Paar: Der Selbstmörder Heinrich von Kleist schreibt Liebesbriefe an die Schwester im Geiste Ulrike Meinhof. Die jenseitige Briefreise unterhält und lässt staunen angesichts der virtuosen Bespielung dieses einzigen Ortes, an dem die Toten wiederkehren können: die Literatur.
Wiedergänger sind meist schwindsüchtiger Gestalt und beißen in ungeschützte Halsschlagadern, verfolgen die Lebenden, rächen sich am Diesseits. Nicht so in diesem Roman, in dem ein Revenant leicht-luftig durch die Lande reist und Tagebuch darüber führt. Nicht für sich selbst, sondern ein Journal schreibt er an eine Schwester im Geiste, die er sich selbst auserwählt hat – ein Toter, der eine Tote verfolgt.

Ein harmloses Gespensterhaschen ist's mitnichten. Die Versuchsaufstellung schon ist unerhört: Der Selbstmörder Heinrich von Kleist, erschossen am 21. November 1811, verfasst über ein gutes Jahr Luftpost der Verführung, und die Adressantin ist niemand anderes als die radikale Journalistin und später verurteilte Terroristin Ulrike Meinhof, erhängt in Stammheim 1976.

Kleists scriptum post mortem beginnt an einem Tag kurz vor Frühling, am 18. März 2008, und er selbst legt nur den Anlass seines Journals offen: eine Begegnung und ein Spaziergang mit Ulrike im thüringischen Oßmannstedt, dem Landsitz C.M. Wielands. Weshalb genau er zu schreiben beginnt, bleibt Geheimnis: ist es Sympathie, Verliebtheit? Verwandtschaftsgefühl oder Stalking? Fakt ist: Die Adressatin antwortet nicht, der Briefeschreiber muss sich selbst als eine imaginierte Ulrike kommentieren, und macht dies in kurzen kursiven Einschüben, aus denen aber nach und nach auch Ulrike anfängt, eine eigene Stimme zu entwickeln, revitalisiert wird.

Nach München, Italien, an kleinere Stätten wie Naumburg führt der Briefeschreiber – und zieht sich doch immer wieder in die untote Stadt zurück, in das Palimpsest Berlin, aus dem schon viele andere Autoren ihre Wiedergänger gesogen haben. Kleist wandert die Orte deutscher und persönlicher Geschichte ab, bespricht die Gaskammern ebenso, wie er über die Pfaueninsel plaudert, erzählt Ulrike von seinen Gegenwarts- und Witterungserlebnissen, und endet in Stammheim: Entliebt, da ohne Antwort geblieben, bereit, sich eine neue Adressatin zu suchen.

Weshalb nun gerade die Autorin sich den Kleist und der Kleist sich die Meinhof sucht und jeweils Erweckungsexperimente gestartet werden: aufgelöst wird diese Attraktion weniger auf der inhaltlichen Ebene denn auf der literaturtheoretischen. Neben den Fragen nach Wiederholung der Geschichte, nach Systemkritik und den Legitimierungen von Gewalt wird ein poetisches Programm vorgestellt: der Autor, die Autorin als Totenerwecker.

Dagmar Leupold, Literatin und Literaturwissenschaftlerin, hat auch in ihrem neusten Roman wieder ein Geflecht der literarischen Fährten und Anspielungen angelegt, und das in der ihr eigenen bemerkenswert sinnlichen Sprache. Virtuos und weitab jedweder platten Psychologisierung ihrer monumentalen Protagonisten fügt sich Dagmar Leupold mit ihrem Erweckungsexperiment in eine Konjunktur, die das Spiel mit dem Jenseitsstimmchen gerade erfährt. Man denke an Uwe Timms "Halbschatten", Cees Nootebooms "Allerseelen" oder Sibylle Lewitscharoffs "Consummatus". Dort wie hier beschert der Kunstgriff einen seltsamen Effekt: Auch wenn aus einer unmöglichen Situation erzählt wird, den Toten glauben wir, was auch immer sie uns weismachen wollen. Denn wer vom Geheimsten per se, vom Jenseits weiß, der weiß auch alles andere, hat die Hoheit und die Bürde des letzten Wortes.

Besprochen von Katrin Schumacher

Dagmar Leupold: Die Helligkeit der Nacht
C.H. Beck Verlag, München 2009
207 Seiten, 19,50 Euro