Wiederentdeckungsfahrt durch das Imperium Romanum

14.12.2006
Woran denkt man, wenn man sich das alte Rom vergegenwärtigt? An Augustus‘ Stadt aus Marmor, an den Film "Quo vadis" und die Christenverfolgungen, an Cäsars Gallischen Krieg und die Gänse auf dem Capitol, an Gladiatoren, Spartakus und Sklavenaufstände, an Seeschlachten in der Ägäis und Kleopatra, die zwei römische Feldherren becircte, an Latein als erster Weltsprache bis zu Rom heute, einem riesigen Freiluftmuseum. Unvergleichlich scheint das Erbe, das diese Stadt hinterlassen hat.
In 38 Beiträgen präsentieren Althistorikerinnen und -historiker, die durchweg in Forschung und Lehre arbeiten, die wichtigsten Stationen der römischen Geschichte. Aus einer winzigen Ansiedlung an einer Furt am Tiber hervorgegangen, entwickelte sich das Dorf zur gewaltigen Metropole, zur Domina der antiken Welt. Das Imperium Romanum umschloss den gesamten Mittelmeerraum, es reichte im ersten nachchristlichen Jahrhundert von Britannien bis Oberägypten, von der spanischen Atlantikküste bis zum Euphrat; es bestand aus einer Vielzahl von Ländern, Völkern, Stämmen und Städten, die trotz allem auch ihr eigenes Gesicht wahrten.

Das Buch gliedert sich in sieben Abschnitte, die, oberflächlich besehen, einem chronologischen Faden folgen: von der Gründung der Stadt aus dem Mythos um Romulus und die Wölfin bis zur Repräsentation der Antike im Faschismus. Eigentlich aber sind die Beiträge dem Prinzip von Struktur- und Mentalitätsgeschichte verpflichtet.

So finden sich unter der Überschrift "Roma Caput Mundi" - Rom, die Hauptstadt der Welt - Aufsätze über das Forum Romanum ebenso wie über den Kalender als Ordnung der Erinnerung, Vergils "Äneis" als "Nationalepos" oder Latein als Weltsprache. Das Kapitel "Monumente der Monarchie" erzählt vom Colosseum als Schauplatz des populistischen Unterhaltungsprogramms "Brot und Spiele", vom großen Brand unter Nero, aber auch vom römischen Recht, das in vielen Gesetzestexten bis heute fortwirkt.

Die Herausgeber Elke Stein-Hölkeskamp und Karl-Joachim Hölkeskamp orientierten sich für ihren Sammelband an Pierre Noras Projekt von den "Lieux de Mémoire", das der französische Historiker unter Mitterrand für die französische Geschichte in Angriff nahm. Sie folgen zwar dessen These, dass man für die Erinnerung auf Denkmäler angewiesen sei, auf Jubiläen, Bilder und Symbole, auf "loci memoriae", Orte der Erinnerung, in denen sich das Gedächtnis in besonderem Masse kondensiert. Aber klar ist auch, dass Noras epochemachendes Vorgehen nur bedingt auf das antike Rom anwendbar ist. Denn Rom war keine Nation im Sinne des modernen Nationalstaats, als Imperium aber darum bemüht, bis in seine Peripherie eine gemeinsame Kultur auszuprägen.

Bei den römischen "Erinnerungsorten" handelt es sich daher um konkrete Orte, die als identitätsstiftende "Zeichen" gewirkt haben wie das Capitol, um Plätze und Monumente wie die Trajanssäule oder den Limes als Schutzmauer gegen die Barbaren. Aber es geht auch um symbolische Erinnerungsorte wie Tacitus‘ "Annalen", die schon damals als Zeugnisse der eigenen imperialen Vergangenheit erlebt wurden, oder um das eigentümliche Spektakel der Leichenzüge, auf denen Schauspieler das Andenken an die Verstorbenen wiedererweckten.

Angesichts der Vielfalt von Themen gibt es natürlich unterschiedliche Schwerpunkte, allen gemeinsam aber ist die Absicht, wenn möglich den Bezug zur Gegenwart herzustellen. Besonders gut gelingt dies bei der Rolle der römischen Leistungen, die Räume und Zeiten dauerhaft imprägniert haben, wie Architektur, Recht und Sprache. Anschaulich und fesselnd wird erzählt, wie das Lateinische mehr als anderthalb Jahrtausende hindurch das Abendland gewissermaßen zusammenhielt; von der frühen Kaiserzeit bis zur Französischen Revolution, von ihrem Siegeszug als erfolgreichster Sprache der Welt, wenn man ihr Fortleben in den modernen Sprachen und in der heutigen Wissenschaftsterminologie betrachtet, bis zum neuen "Lateinboom", der auf der Hoffnung basiert, dass sich durch grammatisches Training der Verstand auf einzigartige Weise schulen lasse.

In den besten Beiträgen kommt stets die europäische Dimension in den Blick, besonders beispielhaft in dem Aufsatz über Tacitus, den Historiker in bleierner Zeit. Nach allen Regeln historiographischen Handwerks werden da die Facetten eben dieses Berufsstandes durch die Epochen gespiegelt. Zu solchen Reflexionen über Nutzen und Nachteil der Historie für die Gegenwart laden viele Beiträge in diesem gewichtigen Band ein.

Die "Erinnerungsorte der Antike" bilden ein außerordentlich gelehrtes, zumeist flüssig und verständlich formuliertes Kompendium, das zeigt, dass das Gedächtnis auch seine Konjunkturen hat, dass es aufblüht und dann wieder versinkt. Umso besser, wenn man angesichts eines erweiterten Europa auf Wiederentdeckungsfahrt durch den alten lateinischen Raum gehen kann.


Rezensiert von Edelgard Abenstein

Elke Stein-Hölkeskamp, Karl-Joachim Hölkeskamp (Hrsg.): Erinnerungsorte der Antike. Die römische Welt
C. H. Beck, München 2006
797 S., 38 Euro.