Wie zäher Kaugummi

In Drvenkars „DU“ geht es um fünf Berliner Girlies, einen Gangster, einen Serialkiller und ein paar andere Figuren. Die Handlung zieht sich über hunderte Seiten wie zäher Kaugummi. Man möchte die Passagen, in denen die einzelnen Ichs sich jeweils über ihre Befindlichkeit auslassen, schnellstens überblättern.
Zoran Drvenkars Roman „DU“ wird von einem einzigen Kunstgriff dominiert: der permanenten Leseranrede über gefühlte tausend, schließlich aber nur lange fünfhundertundfünfundsiebzig Seiten hin. Erzählstimmen sind beinahe alle im Roman auftauchenden Figuren: Fünf Berliner Girlies, ein Gangster, der Sohn des Gangsters, ein Serialkiller, der Sohn des Serialkillers und ein paar andere Figuren mit unterschiedlicher Relevanz. Alle Erzähler und Erzählerinnen duzen sich selbst. Eine Ausnahme sind zwei marginale Nebenfiguren. Die werden unvermittelt von einem auktorialen Erzähler beschrieben. Die seltsamste Erzählerstimme aber gehört Oskar. Der ist tot und erzählt sich selbst, wie er allmählich in seiner Tiefkühltruhe zerfällt.

Drvenkars Kunstgriff erzielt jene Aufmerksamkeit, die sein eher suboptimal gestalteter Plot nicht so ohne weiteres erlangt hätte. Am Ende werden zwei Erzählstränge zusammengeführt. Der eine schildert die Untaten eines Serialkillers, der ohne Motiv tötet. Er rottet einfach Menschen aus, die im Stau auf der Autobahn stehen, ein ganzes Dorf, ein Hotel und einen InterCity. Er tötet nur mit den Händen und bringt es auf ein paar hundert Opfer. Keine Polizei kommt ihm je nahe. Er ist aber keine Parodie, sondern eine als „dämonisch“ gezeichnete Figur, vor der wir uns gruseln sollen. „Der Reisende“, so wird er genannt, ist vor allem jedoch peinlich papiern.

Der zweite Strang: Ein weiblicher Teenie mit inzestuösem Verhältnis zu Papi bringt selbigen um, weil der nicht länger mit ihr Sex haben will. Sie findet Drogen und will die mit Hilfe ihrer vier besten Freundinnen an Onkel Ragnar verticken, dem sie ohnehin gehören und der sie bei Vati nur zwischengelagert hatte. Gangster Ragnar, der uns als eiskalter Profi vorgestellt wird, fängt, anstatt den Mädels ein paar hinter die Löffel zu geben und sein Rauschgift wieder einzusammeln, einen blutigen Rachefeldzug gegen „die süßen Schlampen“, der zum Showdown nach Norwegen führt, wo inzwischen auch „Der Reisende“ angekommen ist.

Diese Handlung zieht sich über hunderte und aberhunderte Seiten wie zäher Kaugummi. Man möchte die Passagen, in denen die einzelnen Ichs sich jeweils über ihre Befindlichkeit auslassen, schnellstens überblättern. Denn was immer wir über die Figuren erfahren, macht sie nicht plausibel, sondern stattet sie höchstens mit einer Art Scheintiefe aus: Girlies plappern wie Girlies; Gangster sind knallhart; Jungs geiern den Mädels hinterher. Das ist wenig spannend. Interessant vielleicht, wie und wann sich die Zahl der Romanfiguren reduziert. Wenn auch nicht sehr spannend, denn die karge Geschichte lässt kaum Überraschungen zu.

Auch wenn Drvenkar den Teenie-Talk gut beherrscht und dabei ein paar hübsche Sprüche abfallen: der Roman schleppt sich pathetisch dahin, bedeutungsvoll mit Emo-Kitsch und Psychoromantik überladen. Mit einem guten (Kriminal-)Roman, der womöglich in irgendeiner Realität verankert sein möchte, hat die ganze Angelegenheit wenig zu tun. Und für einen Thriller, der sich in action und Tempo ausdrücken möchte, ist er zu aufgeplustert und ambitiös. Ästhetische Aufmerksamkeit, die man „DU“ gutwillig entgegenbringen möchte, wird schon bald durch dessen blanke Belanglosigkeit anästhesiert.

Besprochen von Thomas Wörtche

Zoran Drvenkar: DU
Ullstein, Berlin 2010
575 Seiten, 19,95 Euro