Wie wollen wir sterben?

03.04.2010
Diese Frage schieben die meisten Menschen lange vor sich her – zu lange? "Ja", sagt der Mediziner Michael de Ridder. Der Leiter der Rettungsstelle am Berliner Vivantes-Klinikum am Urban hat oft mit Patienten zu tun, die sich selbst kaum Gedanken darüber gemacht haben. Oder deren Angehörigen nicht wissen, was der Vater, die Ehefrau oder der Bruder für das Ende ihres Lebens gewollt haben.
Was tun, wenn ein solcher Patient auf die Intensivstation kommt oder in der Rettungsstelle eingeliefert wird? Welche Maßnahmen sollen ergriffen werden, welche unterbleiben?

"Wie wollen wir sterben? Ein ärztliches Plädoyer für eine neue Sterbekultur in Zeiten der Hochleistungsmedizin" lautet der Titel des Buchs von Michael de Ridder, das gerade in der Deutschen Verlags-Anstalt (DVA) herausgekommen ist.

Es ist ein engagiertes Plädoyer für die Akzeptanz des Sterbens, für eine bewusste Auseinandersetzung mit diesem eher verdrängten Thema – individuell wie gesellschaftlich - und für eine Stärkung der Palliativmedizin. De Ridder weiß, wovon er redet - er hat das Sterben kennen gelernt, als er unter anderem sieben Jahre auf einer Intensivstation und 15 Jahre im Notarztwagen im Einsatz gewesen ist.

"Wir haben das gesellschaftliche Ideal der Jugendlichkeit und der Alterslosigkeit und des perfekten Körpers. Und wir haben eine Medizin, die nicht mehr dem klassischen Auftrag der Versorgung folgt, sondern der Optimierung des Körpers."

Dies zeige auch die Janusköpfigkeit der Hochleistungsmedizin. Einerseits eröffne sie neue wichtige Heilungschancen, anderseits führe sie aber auch dazu, dass der Tod und das Sterben immer mehr ausgeblendet werden.

"Einfach so zu sterben ist in unserer Gesellschaft nicht mehr vorgesehen. Es stirbt kaum jemand ohne Infusion oder künstliche Ernährung. Das Sterben hat längst seine Natürlichkeit verloren."

Statt Todkranke um jeden Preis am Leben zu erhalten, müssten Ärzte auch lernen, loszulassen und ihnen ein friedvolles und selbstbestimmtes Sterben zu ermöglichen

"Es geht darum, ein Bewusstsein bei den Ärzten zu schaffen, dass wir bei jeder medizinische Intervention, jeder Beatmung, jeder Medikamentierung, jeder Chemotherapie fragen müssen, ´tue ich etwas zum Wohl der Patienten oder dient dies nur zur Aufrechterhaltung des Organsystems? Ist es eine Lebensverlängerung oder eine qualvolle Verzögerung des Sterbens?"

Sein Appell:

"Wir müssen unsere Sterblichkeit neu denken."

Der streitbare Internist wagt sich mit dem Buch auch auf ein weiteres umstrittenes Terrain: Als erster leitender Arzt in Deutschland spricht er sich offen für einen ärztlich assistierten Suizid aus - wenn alle anderen ärztlichen Maßnahmen ausgeschöpft sind und der Patient es wünscht. Es könne nicht sein, dass Hilfesuchende dafür nach Holland oder in die Schweiz fahren.

"Es gibt auch Grenzen der Palliativmedizin. Und diese Menschen dürfen wir nicht an solche Dilettanten wie Kusch oder Minelli verlieren. Wir müssen auch für diese Fälle ein ärztliches Angebot haben."

Diese Frage werde er auch notfalls gerichtlich klären lassen.

"In Umfragen geben 40 Prozent der deutschen Ärzteschaft an, dass sie sich einen ärztlich assistierten Suizid vorstellen können – da ist dringend Klärungsbedarf geboten."

"Wie wollen wir sterben?" Darüber diskutiert Stephan Karkowsky heute von 9.05 Uhr bis 11 Uhr gemeinsam mit dem Arzt Michael de Ridder. Hörerinnen und Hörer können sich beteiligen unter der Telefonnummer 00800 / 8503 – 2254 2254 oder per E-Mail unter gespraech@dradio.de.

Literaturhinweis:
Michael de Ridder: "Wie wollen wir sterben? Ein ärztliches Plädoyer für eine neue Sterbekultur in Zeiten der Hochleistungsmedizin", DVA Sachbuch 2010

Michael de Ridder befindet sich derzeit auch auf Lesereise

Informationen im Internet:
Patientenverfügung
Informationen der Akademie für Ethik in der Medizin e.V. Göttingen
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