Wie wir wurden, was wir sind

Menschen sind einzigartig. Und doch ist es verblüffend zu sehen, dass es nur wenige Eigenschaften sind, die uns von den Tieren unterscheiden: die große Zehe, der Daumen, der Kehlkopf, die Fähigkeit zu lachen, zu weinen und zu küssen. Spannend und anschaulich beschreibt Chip Walter, wie all unsere menschlichen Errungenschaften auf diese sechs körperlichen und emotionalen Eigenschaften zurückzuführen sind.
Es gibt insgesamt sechs Eigenschaften, die den Menschen einzigartig machen. Der dicke Zeh, der Daumen, sein Kehlkopf, Tränen, Lachen und Küssen. Wie, fragen Sie sich jetzt, sind es nicht sein großes Gehirn, die Intelligenz und der aufrechte Gang, die den Menschen einzigartig machen?

Doch natürlich, lautet die Antwort des amerikanischen Wissenschaftsjournalisten Chip Walter in seinem Buch "Hand und Fuß". Aber damit sich ein großes Gehirn, Intelligenz und der aufrechte Gang ausbilden konnten, waren der dicke Zeh, Daumen, Kehlkopf und die Möglichkeit zum weinen, lachen und küssen notwendig. Um zu erklären, wie genau das vor sich ging, nimmt uns Chip Walter auf einen sehr unterhaltsamen und zugleich informativen Spaziergang durch die Evolution unserer Spezies mit.

Dieser beginnt am Rande der Sahara in Zentralafrika. Dort treffen wir auf Lucy, eine unserer berühmtesten Vorfahren. Sie wurde 1975 von den beiden Forschern Donald Johanson und Tom Gray entdeckt. Lucy ging bereits auf zwei Beinen, obwohl ihr Oberkörper noch dem eines Schimpansen ähnelte. Denn Lucy hatte zwei gerade großen Zehen, die ihr das stabile aufrechte Gehen ermöglichten. Sie lebte vor ca. 3,1 Millionen Jahren, war aber nicht die erste, die auf zwei Beinen lief. Die berühmte Anthropologin Mary Leakey fand Fußspuren, die über 3,5 Millionen Jahre alt sind. Der älteste Spaziergang der Menschheit fand in Tansania statt. Drei Personen wanderten damals durch feuchte Vulkanasche, die aushärtete und so ihre Fußspuren erhielt.

Zunächst war also der große Zeh da, erklärt Chip Walter, ohne den es kaum möglich ist, längere Strecken auf zwei Beinen zu laufen. Ein Zufallsprodukt der Evolution, das sich durchsetze, weil es vor über drei Millionen Jahren einen enormen Vorteil bot: Die Fortbewegung auf zwei Beinen benötigte viel weniger Energie als auf allen vieren. Das hatte weitere Folgen für den Körperbau. Unseren Vorfahren standen plötzlich Hände zur Verfügung und der Kehlkopf rutschte ein ganzes Stück weiter nach unten.

Mit den Händen und dem besonders wichtigen Daumen ließen sich Werkzeuge fertigen, was mehr Nahrung bedeutete. Und der tief liegende Kehlkopf ermöglichte differenzierte Laute. So wuchs das Gehirn durch die körperlichen Möglichkeiten. Der Mensch begann zu sprechen und schuf sich seine Kultur.

Aber auch die Kommunikation nonverbaler Art wie das Weinen, Lachen oder Küssen unterscheiden den Menschen vom Tier. Alle drei Äußerungen stehen für Emotionen, die sich mit Worten nicht ausdrücken lassen. Wann und wie genau sie sich entwickeln, bespricht der Autor ebenfalls ausführlich.

Mit seinem sehr verständlichen, angenehmen Stil informiert der Autor nicht nur über die wichtigsten Forscher und Forschungsarbeiten zur Evolution des Menschen, er erläutert auch unterschiedliche Standpunkte der Wissenschaft. Bei der Entstehung von Sprache beispielsweise sind sich die Forscher nicht einig, wie die ersten Wortbildungen zustande gekommen sind. Und auch heute gibt es immer noch offene Fragen innerhalb der Evolutionstheorie. Ein positiver Umstand, bemerkt Walter, der weiterhin die Möglichkeit bietet, Neues zu entdecken.

Heute allerdings leben wir in einer Welt, die wir uns geschaffen haben, für die wir aber nicht mehr geschaffen sind.

Diesem etwas überraschenden Fazit lässt Walter einen ebenfalls überraschenden Blick in die Zukunft folgen. In Anlehnung an Ray Kurzweil stellt er sich die nächsten großen Evolutionsschritte im Bereich der Computer und Roboter Technik vor. Das Modell Mensch, glaubt er, könnte zum Auslaufmodell werden. Wie traurig, nach einer so langen und spannenden Entwicklungsgeschichte.

Rezensiert von Susanne Nessler

Chip Walter: Hand und Fuß. Wie die Evolution uns zu Menschen machte
Aus dem Englischen von Gabriele Herbst
Campus-Verlag, 336 Seiten, 24,90 Euro