Wie weit reicht die Würde

Von Susanne Lettenbauer |
Ob beim Kopftuchstreit in der Türkei oder der Terrorbekämpfung in den USA – auch 60 Jahre nach der Verabschiedung der International Bill of Human Rights bleibt es umstritten, wie weit das Recht auf Menschenwürde gehen soll. Auf einer Konferenz in Istanbul haben Wissenschaftler aus Deutschland, Österreich und der Türkei über den Schutz der Grund- und Menschenrechte diskutiert.
Sechzig Jahre nach der wegweisenden „Erklärung der Menschenrechte“ klafft das Verständnis von den „Human rights“ weltweit in wichtigen Punkten auseinander. Außereuropäische Staaten beschuldigen die westlichen Nationen der Wertedoktrin. Traditionelle Verhaltensnormen kollidieren mit der alt gewordenen „International bill of human rights“.

Immer öfter stehen gesellschaftliche Interessen vor individuellen Interessen, werden individuelle Freiheiten zugunsten eines starken Staates beschränkt. Aktuelles nationales Beispiel auf der Istanbuler Konferenz: der seit Jahren geführte Kopftuchstreit. Noch immer anhängig beim Verfassungsgericht haben sich die Diskussionen um das Tragen von Kopftüchern an Universitäten und im Parlament mittlerweile nahezu vollständig auf das politische Parkett verlagert und damit einen nahezu aussichtslosen Rechtsstreit hervorgerufen. Das Recht auf die persönliche Freiheit, sich individuell zu kleiden, wird ausgehebelt durch die politische Inanspruchnahme dieses Menschenrechtes, so der Verfassungsrechtler Ibrahim Kaboglu, Lehrstuhlinhaber an der Marmara Universität.

Und dies geschieht weltweit mit den Menschenrechten. In der Türkei wird der seit dem Staatsgründer Atatürk angestrebte Laizismus, das heißt die strikte Trennung von Staat und Kirche und damit das Recht auf Religionsfreiheit, langsam ausgehöhlt, so der renommierte Professor. Menschenrechte dienen heute nicht nur in der Türkei nurmehr dem Schutz des Staates vor dem Bürger und nicht dem Schutz des Bürgers vor der Gesellschaft. Das sehe man gerade an dem Ringen um eine neue türkische Verfassung, die eine große Hoffnung bergen würde, so Kaboglu:

„Das Thema Menschenrechte ist in der Tat ein sehr heterogenes Thema. Auf der Welt gibt es sehr unterschiedliche Staaten und geografische Räume, wo Menschenrechte sehr unterschiedlich wahrgenommen und auch umgesetzt werden . Die Türkei hat einen sehr spezifischen Platz inne. Sie hat in den fünfziger Jahren ihre Präferenz für Europa und für den europäischen Lebensweg ganz bewusst zum Ausdruck gebracht. Es gibt dennoch Menschenrechtsprobleme. Die neue Verfassung könnte schon eine Vermittlerrolle übernehmen. Ja, unter bestimmten Voraussetzungen. Die Verfassung kann eine Transformation in der Türkei in Gang setzen, sie kann in der Türkei ein neues Blatt aufschlagen. Sie kann auf diesem Wege die Rechte und Grundfreiheiten wesentlich verbessern und das würde wesentlich dazu beitragen, dass die Beziehung zur EU verbessert wird und auf eine sehr viel rationalere Grundlage gestellt wird. Es kann ebenso eine weitreichende Wirkung auf den Kaukasus und Richtung Asien, Nahen Osten haben. Wenn wir das schaffen, aber was wir bis jetzt gesehen haben von der Regierungspartei AKP, welche Wege sie eingeschlagen haben, um die neue Verfassung zu erarbeiten, haben genau das Gegenteil gezeigt, aus diesem Grund sind wir gegen die Verfassung.“

Das angestrebte Verbot der Regierungspartei AKP, ausgesprochen im März 2008, hat die Türkei aufgerüttelt und dem Thema der Menschenrechte zu einer Renaissance in den kulturellen Diskussionen verholfen. Claudia Hahn-Raabe, Leiterin des Goethe-Institutes Istanbul, die gezielt Filme zum Thema Menschenwürde zeigt, bemerkt vor allem in den östlichen Regionen der Türkei, an der Grenze zum Iran, Irak und Syrien einen Gesprächsbedarf :

„Ich war erstaunt über den Hunger und die Neugier der Menschen über das, was im Westen passiert. Und dass sie es nicht nur rezeptiv empfangen, durch Fernsehen oder Internet, was es mittlerweile überall gibt, sondern tatsächlich Diskussionen stattfinden.“

Die Menschenwürde ist nicht unantastbar. Diese aus westlicher Sicht unerhörte These stellte die ehemalige Präsidentin des deutschen Bundesverfassungsgerichtes Jutta Limbach in den Raum und verwies damit grundsätzlich auf die Problematik des Begriffs der Menschenrechte.

Menschenrechte sind revolutionäre Erungenschaften, so Jutta Limbach, und 1948 vor dem Hintergrund der Nazibarbarei als eine Art „Weltethos“ verfasst worden. Heute im Jubiläumsjahr 2008 sieht die Welt jedoch auf zahlreiche terroristische Anschläge zurück, die das Verständnis von individueller Freiheit verändert und die rechtliche Verbindlichkeit der Menschenrechtserklärung von 1948 relativiert haben. Heute leben die nationalen Staaten im Spannungsverhältnis zwischen individueller Freiheit und kollektiver Sicherheit.

In wieweit ein heutiger demokratischer Rechtsstaat sich zum Schutz vor Terrorismus jedoch auf die Errichtung einer „militanten Demokratie“, wie sie schon 1937 von Karl Löwenstein beschrieben wurde, einlassen soll, konnte Michael Sachs, Dekan der juristischen Fakultät der Uni Köln nicht konkretisieren. Es schien dennoch Konsens auf der Tagung zu sein, dass sich die heutigen Staaten als „wehrhafte Demokratien“ verstehen müssten, um auf terroristische Anschläge angemessen reagieren zu können.

Diesem „Angemessenheitsprinzip“ dürfte in Zukunft ein hoher Stellenwert zukommen. Es dürfte dem einzelnen Menschen bei der Durchsetzung seiner universalen Menschenrechte zur Seite stehen, denn angemessen auf eine Straftat zu reagieren, sei künftig der Lackmustest einer Gesellschaft, so Rumpf. Ob umfangreiche Rasterfahndungen, wie in Deutschland geschehen, tatsächlich immer sogenannte „Schläfer“ aufspüren würden, ist fraglich, so der exzellente Kenner der deutschen wie auch türkischen Verfassung. Lauschangriffe, Abhöraktionen oder Spitzeldienste seien so und so unvereinbar mit den Menschenrechten, so Rumpf.

Zynische Menschenrechtsexperten reden gern von drei Definitionen beziehungsweise Generationen des Menschenrechts: In der westlichen Welt beruft man sich gern auf die Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, auf das Tolerieren von gleichgeschlechtlichen Paaren, das Recht auf ein Kind und sei es künstlich gezeugt. In den sogenannten Schwellenländern begrenzen sich die Menschenrechte auf ausreichend Nahrung, Kleidung und eine Unterkunft. In Entwicklungsländern, zu denen zahlreiche afrikanische Staaten zählen sind die Menschen, wie zum Beispiel die Flüchtlinge, oft schon froh, wenn man ihnen nicht das Recht auf Leben abspricht.

Der Jurist Korkut Kanadoglu sprach deshalb davon, dass „Grundrechte subjektive Rechte“ seien, kulturell oder traditionell festgelegte Normen. Für die Philosophin Ioanna Kucuradi genau das universelle Problem, vor dem die Welt derzeit steht:

„Wir haben gelernt, dass wir alle Kulturen respektieren müssen, Ich sage: Nein! Kulturen sind nicht Objekte des Respektes, die Menschen sind Objekte des Respektes. Was sind Kulturen? Weltauffassungen, Lebensaufassungen, Normen. Können Sie zum Beispiel Polygamie respektieren? Man verwechselt einfach zwei Kulturbegriffe und denkt Kultur ist etwas Gutes. Nein, das ist nicht der Fall. Die Kultur im Singular, die cultura animi ist etwas sehr wichtiges, die Kulturen sind aber nicht so, sie haben viele Normen, die gegen die Menschenrechte sind.“

Die türkische Menschenrechtsphilosophin Ioanna Kucuradi, gebürtige Griechin und Lehrstuhlinhaberin an der Hatepe Universität, scheut nicht die Provokation. Sie lässt derzeit untersuchen, ob eine militärische Intervention im Katastrophengebiet von Myanmar nach der Verweigerung von Hilfe durch die Militärregierung mit den Menschenrechten vereinbar wäre. Ihre klare Antwort: Ja. In Istanbul fragt sie derweil nach einem exakten Kulturbegriff:

„Wir müssen frei werden davon, Kulturen als etwas Gutes zu betrachten. Kulturen unterscheiden die Menschen. Was bringt uns unsere menschliche Identität? Was ist das Gleiche bei den Menschen? Nicht der Unterschied. Wenn man ein Problem versucht zu lösen, schafft man gleichzeitig ein Neues. Kulturen sind nicht ein Objekt des Respektes. Was wir respektieren müssen, sind die Menschen.“