Wie Uwe Johnson zu einem Haus kam

Von Karl Lotz · 13.10.2006
Er gilt neben, wenn nicht vor Grass und Böll, als umfassender, hellsichtiger, unbestechlicher Chronist des gesamtdeutschen Schicksals im 20. Jahrhundert und er wollte nur eins: in beiden Teilen Deutschlands mit dem Leser verkehren dürfen. Seit Anfang des Jahres 2006 gibt es in der kleinen Stadt Klütz vor der Ostseeküste ein Uwe Johnson Literaturhaus. Eine Perle im Mecklenburger Matsch.
Landeinwärts an der Ostsee zwischen Lübeck und Wismar liegt Klütz. Mit seinen etwa 3000 Seelen ist es eine der kleinsten Städte in Mecklenburg. Ein Nest aus niedrigen Ziegelbauten entlang einer Straße aus Kopfstein. Die Überalterung nimmt zu.

In der Mitte der Stadt eine Kirche aus der romanischen Zeit, deren Turm mit einer Bischofsmütze verglichen wird. Der Dichter Uwe Johnson beschrieb ihn so: "Lang und spitz läuft er zu und wie die Mütze eines Bischofs hat er Schildgiebel an allen vier Stirnen." Dieser Turm hat den ersten Johnsohn-Touristen den Weg gewiesen nach Klütz, das sich heute in den Zeiten leerer Kassen, auf Initiative eines sehr engagierten Fördevereins ein Literaturhaus zugelegt.

Vor sechs Monaten wurde nach einem harten Winter endlich Frühling und auf der Baustelle des Literaturhauses hat der Bürgermeister zu einer Pressekonferenz eingeladen. Der Stadtarchitekt Peters führt die Journalisten durch den Bau.

Bauarchitekt: "Vielleicht generell noch zur Architektur, wir haben hier ganz viele Ausnahmen von der Regel. Sie stehen hier auf Holz, das Sie von unten sehen. Wir haben nur ein Treppenhaus, wir haben also hier überall Sonderregelungen mit der Feuerwehr. Dieses gesamte Haus hat eine Brandmeldeanlage und wenn es irgendwo brennt, dann ist sofort die Feuerwehr zur Stelle und die alten Luken, von denen früher die Säcke von außen nach innen getragen oder gezogen wurden, diese Luken sind heute für die Säcke da, ähm, für die ähm also für die Personen. Das sind unsere zweiten Fluchtwege."

Nachrichten aus dem Radio der Bauarbeiter: "Arbeitnehmer in Mecklenburg Vorpommern verdienen am schlechtesten, Hochwasserlage in Sachsen spitzt sich weiter zu und das Wetter am Nachmittag Schauer 12 Grad."

Etwas Außergewöhnliches ist entstanden. Das Flair des alten Speichers ist erhalten geblieben, ohne dabei auf die neueste Technik zu verzichten. Der Innenarchitekt Torsten Rutsch hat es etwas schwerer als sein Kollege vom Bau. Er muss die Phantasie der Presseleute bemühen, denn die Ausstellung ist bisher nur in ihren Ansätzen zu erkennen.

Innenarchitekt: "Da wo schwarze Flächen sind, da kommen Grafiken rein, die aber auch auf Spiegeln gedruckt sind. Man spiegelt sich immer auch selbst, wenn man die Sache sich anschaut und da gibt es zwei Computerstationen darin, wo man dann etwas tiefer in die Texte einsteigen kann."

Wie kam dieses Städtchen dazu, den Dichter Uwe Johnson mit einem Literaturhaus zu ehren, wo er doch hier weder geboren, noch gearbeitet und gestorben ist? Und ob solch ein Unterfangen Bestand haben wird?
Ich besuche innerhalb eines halben Jahres sporadisch diesen Ort, um diesen Fragen nachzugehen, treffe in Klütz natürlich auch Leute, die nichts mit Literatur am Hut haben wie den ehemaligen Bäcker der Stadt, Herr Westphal. Er erzählt aus einer Zeit, als man sich noch keinen Hunger nach Literatur leisten konnte.

Bäcker Westphal: "Erst mal war die Ernährung, allgemein gesagt. Die ganzen Umsiedler, die von Pommern, Ostpreußen usw., die hier liegen geblieben sind, die hatten doch nichts. Die hatten doch kaum das Hemde auf dem Arsch. Wir wollen es ruhig so nennen, wie es ist. Dann hat jeder angefangen, der einen leeren Magen hatte, der nahm den Bäckerberuf. Ja Brot war alles, alles um einen Menschen damals glücklich zu machen. Heute wird es verachtet, weil wir alles im Überfluss haben."

Bürgermeister: "Meine sehr geehrten Damen und Herren aus Anlass der Einweihung des Literaturhause Uwe Johnson begrüße ich ganz herzlich Herrn Dr. Lemke und Frau Dr. Völzer vom Bildungsministerium MV. Herzlich Willkommen."

Der jetzige Vorsitzende des Fördervereins, Herr Vitte, erzählt, wer ihm eine Brücke zu Uwe Johnson gebaut hat.

Apotheker und Vorsitzende Herr Vitte: "Herr Peters ist Stadtarchitekt, er hat die Entwicklung der Stadt begleitet und ich hatte persönlich Kontakt zu ihm gehabt. Meine Apotheke war in einem alten Bauernhaus und der Zustand war nur noch eine kurze Zeit aufrecht zu erhalten und da hab ich den Platz am Markt gekriegt und da war er mein Architekt und zur Einweihung nahm er mich in die Pflicht und schenkte mir die ‚Jahrestage’, so lief das über ihn die Brücke zu Uwe Johnson."

Dr. Lemke: "”Und jetzt Herr Vitte, das bitte ich zu bedenken, das ist keine Show, die MitarbeiterInnen haben es geschafft, den Förderbescheid für dieses Jahr, das sind 28.000 Euro, damit hier Veranstaltungen stattfinden können. Das ist tatsächlich das Original, die Tinte ist noch frisch.""

Apotheker: "Ja, da war der Gedanke, und dann da ist eine kleine Gruppe, die sich ein Konzept erarbeitet hatte, nach Schwerin ins Kultusministerium gegangen. Die haben das wahrscheinlich enthusiastisch vorgetragen und haben die richtigen Ohren getroffen und dann irgendwann ging es los."

Dr. Lemke: "Nun ist es sicher ein bisschen übertrieben, die Einweihung des Johnsonhauses als eine Sternstunde der Menschheit zu betrachten."

Innenarchitekt Rutsch: "Ja, unser Ideal wäre, dass also jemand, der sich so eine Themenausstellung anschaut, eben nicht nur Reliquien und nicht nur schöne, einzelne Objekte sieht, sondern die Geschichte hinter der Geschichte und die Geschichte um die Geschichte herum versteht. Auch vielleicht empfindet und fühlt, das ist das, was wir versuchen."

Jugendlicher: "Ne. Literatur interessiert mich eigentlich gar nicht."
Interviewer: "Interessiert dich Literatur?"
Jugendlicher: "Nee."
Interviewer: "Warum nicht?"
Jugendlicher: "Keine Ahnung."

Innenarchitekt Rutsch: "Und das bedeutet eben dann, dass man den Leuten dieses Scheu, diese Vorsicht nimmt. Dass sie also hingehen und sich wohlfühlen. Und indem sie sich wohlfühlen, sich dann auch einlassen können, und wenn sie sich darauf einlassen, dann werden sie auch aktiver sein. Und dieses Aktivseinwollen oder dieses Aktivseinkönnen, muss dann ja aber auch vorbereitet sein. Und deswegen sind in den Ausstellungen, die wir gestalten, immer Elemente, wo man durch eine Aktivität etwas lernt."

Mädchen: "Nee, gar keine. Ja Schulbücher, wenn überhaupt."
Jugendlicher: "Ich persönlich nicht. Aber ich weiß, dass da so ein Uwe Johnson Haus ist."
Interviewer: "Schon mal drin?"
Jugendlicher: "Nee."

Innenarchitekt Rutsch: "Und das muss er aber auch können und um da zu helfen, braucht es aber auch einfach Verständnishilfen. Man muss helfen an den Stellen, wo vielleicht die Bildung in diesem speziellen Bereich nicht vorhanden ist. Man muss helfen, wo man, wenn es jetzt eine historische Ausstellung ist, aus unserem heutigen Zeitkontext heraus nicht mehr in der Lage ist, bestimmte Symbole zu verstehen, so dass solche Kunstwerke nicht mehr selbstredend sind, wie die vielleicht für die Leute waren, die in dieser Zeit in die sie entstanden sind. Und was wir finden, es soll auch Spaß machen. Und dieses Spaßmachen steht nicht im Vordergrund, aber ist dennoch gleichberechtigt."

Inhaber eines Klützer Angelgeschäfts: "Als Klützer würde ich eher sagen: eher nein. Weil der Mann für mich aus meiner Sicht keine Beziehung nach Klütz hat. Und sicherlich nie hier gewesen ist, höchstwahrscheinlich. Und das wurde sehr skeptisch aufgenommen von den meisten Klützern dann eben. Wir freuen uns, dass der Speicher schön hergerichtet worden ist, aber der Uwe Johnson hat vielen Leuten nichts gesagt. Wenn es ein Heimatdichter oder so was gewesen wär, wäre die Reaktion vielleicht etwas anders gewesen. Wir Klützer haben da nicht so einen richtigen Kontakt dahin."

Klützer Bauunternehmer: "Ich seh da keinen Sinn drinne. Erst mal kennen wir den gar nicht, wer das überhaupt ist, und ich werd auch hier nie reingehen."

Bäcker Westphal: "Ich halt da nicht viel von. Es wurde mir mal davon erzählt. Das Buch. Und ich hab es nicht gelesen und ich werd es mir auch nicht anschaffen, weil ich doch nicht dazu komm. Denn das ist ja ... ich weiß nicht also, es kann ja sein, es wird für alles wat geben."

Innenarchitekt Rutsch: "Dieses Literaturhaus ist ein alter Speicher, ein sehr rustikales und robustes Gebäude und das stand dann für uns als Synonym für Mecklenburg. Denn seine Liebe zu Mecklenburg hat er ja bis zum Schluss immer mit sich getragen und das ist ja auch Motor für viele Dinge, die er macht."

In der Ausstellung gibt es nicht nur was zu sehen, sondern auch zu hören. Die Text- und Tondokumente lassen die Lebensstationen Uwe Johnsons sinnlich erlebbar werden. Geboren in Vorpommern, aufgewachsen in Stralsund, in Leipzig studiert und kurz vor dem Mauerbau in den Westen getrieben. Weitere Stationen waren Westberlin, New York und London.

"Eingeengt vom Etikett ‚Dichter der beiden Deutschland’ suchte der Wahlberliner nach neuen Wegen und neuen Orten. Zum vierten Mal eingesperrt in die Phrase des Gesamtdeutschen, wird einer die Flucht versuchen dürfen. Muss es aber gleich sechstausend Kilometer weit weg sein?"

Interviewer: "Hatten sie Sehnsucht in die weite Welt zu reisen?"
Bäcker: "Nein! Ja. Für ein paar Tage, aber das andere: Nein."
Interviewer: "Sie sind so bodenständig?"
Bäcker: "Ja."

Die Mentalität der Klützer steht einem Besuch im Literaturhaus Uwe Johnson sicher im Wege, aber um so mehr werden die Touristen, meist aus Boltenhagen kommend, von der Uwe Johnson-Ausstellung angezogen. Die funktionelle Einheit von Stadtinformation, Bibliothek und Johnson-Ausstellung hat einen großen Synergieeffekt.

Tourist: "Es war nur eine Urlaubsfahrt geplant. Und wir wussten noch gar nicht, dass das Haus hier steht. Sind also wirklich sehr begeistert. Ich hab früher sehr viel von dem Uwe Johnson gelesen und es macht sehr viel Spaß, sich das hier anzugucken, die Erinnerung an das Gelesene wieder aufzufrischen. Ich denk, Literatur hat sicherlich eine große Funktion. Ich denk auch den Leuten hier vor Ort zu zeigen, dass jemand wirklich über Sprache ja die Welt bereisen kann letzten Endes. Das hat ja der Johnson auch gemacht. Er ist nach New York gegangen und hat dann wirklich eine Weltliteratur geschaffen in Verbindung zu dem, was hier vor Ort war. Hier Mecklenburg Vorpommern. Er hat ja seine Heimat immer mitgenommen eigentlich."

"Mit Mecklenburg und New York treffen Welten aufeinander: Der sprichwörtlich langsamen und sinnlich erfahrbaren Lebenswelt Mecklenburgs wird die hektische und Moderne der Großstadt gegenübergestellt. Der Mikrokosmos New York veranschaulicht Gesine Chresphals Weg in die moderne Welt, in der neben dem technischen Fortschritt auch Krieg, politischer Mord und Ausgrenzung …. Uwe Johnson äußert sich in einem Gespräch 1969 in einem Gespräch wie folgt: Ich kann nicht sagen, dass ich Amerika liebe. Ich liebe New York.”"

In der Ausstellung können die Klützer, die Uwe Johnson in der Schule nicht lesen durften, mehr erfahren über sich und ihren vertriebenen Dichter, den man bestenfalls in seiner privaten Nische lesen konnte. Dafür sorgte der ideologische Apparat, besonders das Fernsehen der DDR, in dem Karl Eduard von Schnitzler mit unverminderter Kampfeslust sein Unwesen trieb.

Schnitzler: ""Nach diesem kurzen Prolog betreffend die Glaubwürdigkeit und das Niveau der Mehrzahl westdeutscher und westberliner Publikationsmittel vom wohlinformierten Spiegel, über die seriösen Süddeutschen Zeitung, dem sozialdemokratischen Vorwärts bis zu Uwe Johnson ... mehr braucht man da nicht zu sagen. (…) Mit zugespitzter Sachlichkeit , unverminderter Kampfeslust und neuer Gesundheit …"

Ein halbes Jahr ist das Literaturhaus für Besucher offen. Im Gästebuch ist großes Lob zu lesen. Es ist Herbst geworden, die Saison in der Region vorbei. Die braunen Blätter der kranken Kastanien säumen links und rechts die Baumalleen. Dazwischen auch zerfetzte Wahlplakate. Die von der NPD hängen hoch noch an den Masten.

Ob Uwe Johnson in Klütz war, ist nicht sicher. Jedenfalls in den Berichten der Stasi ist nichts zu finden, obwohl er sich einmal als ein Mister Johnson in einer englischen Reisegruppe in die DDR geschlichen hat. Über die Wende und über ein Literaturhaus für ihn hätte er sich sehr gefreut, denn er wollte von den Lesern beider Deutschlands gelesen werden. 2000 Besucher haben bisher das Literaturhaus besucht.

Sicher wäre Johnson nach der Wende auch nach Klütz gekommen, ob er aber auch zu der Lesung jetzt am 14.10. kommen würde, in der Klaus Feldmann, ehemaliger Sprecher der Aktuellen Kamera im DDR Fernsehen - ein Kollege von Herrn Schnitzler - Schmonzetten aus alter Zeit zum Besten gibt, weiß ich nicht. Sicher bin ich, dass viele alte Klützer aus Neugier kommen werden. Mit Uwe Johnson können sie wenig anfangen, mit Klaus Feldmann schon, gehörte er doch mehr zu ihrem Leben.