Wie Südamerika unabhängig wurde

Der Argentinier Domingo Faustino Sarmiento war Journalist, Erzähler und Politiker. Sein 1845 publiziertes Werk, das ihn weltweit bekannt machen sollte, erzählt vom Aufstieg von Juan Facundo Quiroga (1788-1835). Quiroga brachte es vom Gaucho und Banditenführer zum General und Beherrscher einer Region. Was für ein Werk, das Porträt eines halben Erdteils, und was für ein Autor.
Endlich! möchte man ausrufen, endlich erscheint dieser Titel auf deutsch, eines der wichtigsten Bücher Lateinamerikas: Sarmientos "Barbarei und Zivilisation". Was für ein Werk, das Porträt eines halben Erdteils, und was für ein Autor.

Domingo Faustino Sarmiento, geboren 1811 im Westen des heutigen Argentiniens, war Journalist, Erzähler, Politiker; er fühlte sich zum Lehrer eines Volkes berufen, zum Gesetzgeber der Nation. Seine Kindheit fiel in anarchische Zeiten: Die Region löste sich von der Kolonialmacht Spanien, in endlosen Kriegen entstanden neue Staaten und zerfielen gleich wieder.

Lokalfürsten, Caudillos, kämpften gegen die Protagonisten der Zentralgewalt. Viele Städter forderten einen demokratischen Staat mit Buenos Aires als Hauptstadt, die Viehzüchter die lose Föderation autonomer Provinzen. Sarmiento – eine egozentrische Persönlichkeit, kultiviert, liberal, Europa zugewandt – opponierte gegen die Gewaltherrscher. Mehrfach vertrieben sie ihn ins Exil.

In Chile publizierte Sarmiento 1845 (zuerst als Folge von Artikeln) jenes Werk, das ihn weltweit bekannt machen sollte. Teil eins beschreibt das Land, die Kulisse – "unermeßlich die Ebenen, unermeßlich die Wälder, der Horizont immer unbestimmt". Teil zwei erzählt vom Aufstieg einer authentischen Figur: Juan Facundo Quiroga (1788-1835). Quiroga – der "Tiger der Pampa", ein Mann von dämonischer Ausstrahlung, "jähzornig wie die Bestien" – brachte es vom Gaucho und Banditenführer zum General und Beherrscher einer Region, bevor er (zehn Jahre vor Niederschrift dieses Buches) einem Mordanschlag zum Opfer fiel.

Für Sarmiento war der Caudillo eine Art Spiegel der ländlichen Volksseele, "Verkörperung argentinischer Lebensart" und "typischer Ausdruck der urtümlichen Barbarei".

Das Lebensbild des kleinen Tyrannen dient in Teil drei als Vorlage für ein Gemälde, das den einen großen argentinischen Gewaltherrscher im 19. Jahrhundert zeigt: Juan Manuel Rosas (1793-1877), Viehzüchter, Exporteur von Fleisch und Leder, de jure Gouverneur der Hauptstadt, de facto ab 1835 siebzehn Jahre lang Alleinherrscher. Rosas, "der das Gauchomesser ins kultivierte Buenos Aires stößt": Mit Staatsterror, Geheimpolizei und Personenkult wirkte seine Diktatur schon sehr heutig.

Vor Rosas verbarg sich Sarmiento in Chile (der Despot verlangte seine Auslieferung). Zur Kampfschrift gegen Rosas geriet das ganze Werk. Der Tyrann fühlte sich allerdings geschmeichelt: "Das Buch des verrückten Sarmiento gehört zum Besten, was gegen mich geschrieben wurde; so attackiert man."

Sieben Jahre nach Erscheinen des "Facundo" wurde Rosas von einem Gefolgsmann gestürzt. Er emigrierte nach England, lebte dort noch 25 Jahre auf seinem Landsitz bei Southampton.

Im Hintergrund der Charakterstudien entdeckt der Leser des "Facundo" eine Vielzahl kleinerer Skizzen, mit kräftigem Strich zu Papier gebracht – über den jungen Staat und die Kunst guten Regierens, über Fortschritt und Chaos, über Volkstypen und ihr Milieu.

Zu welcher Gattung gehört das Buch? Ist es Abenteuerroman, biographischer Essay, eine Monographie zu Geschichte, Landeskunde, Nationalcharakter? Alles in einem, mal dies und mal das, auch Pamphlet und Reisebericht. Auffällig: der mitreißende, zu Dramatisierung und Pathos neigende Stil, eine Sprache, die manchmal an antike Dichter erinnert und manchmal an den Vortrag eines Bänkelsängers. "Ein seltsames Buch", befand Sarmiento selbst, "ein Buch ohne Kopf und ohne Füße, ein gegen das Haupt der Tyrannen geworfenes Felsstück".

Als roter Faden durch das Labyrinth diente dem Autor die Titelthese: Barbarei contra Zivilisation. Barbarisch war in Sarmientos Augen die Rohheit der Landbewohner. Zivilisiert glaubte er die kosmopolitischen Städter, vor allem jene, die noch gar nicht gekommen waren, Immigranten aus der Alten Welt. Daß ein "Barbar" wie Rosas die Metropole unterjochen konnte, hielt Schöngeist Sarmiento für einen Betriebsunfall der Geschichte. Daß auch die moderne Zivilisation barbarische Züge besitzt, hat er nicht vorausgesehen.

Das Werk, in Eile verfaßt, zeigt jede Menge Mängel: Übertreibungen, Vorurteile, rassistische Wertungen (die Ureinwohner heißen nur "die Wilden"), kolonialer Dünkel ("Wilde" und Gauchos galten dem Autor nicht als Argentinier), die hitzige Polemik, dazu eine endlose Reihe von Irrtümern und Ungenauigkeiten. Fragwürdig ist auch die arg schematische Grundthese (Zivilisation oder Barbarei, Stadtkultur oder ländliche Unkultur) zur Erklärung von Geschichte und Gegenwart Lateinamerikas.

Trotz dieser Mängel wurde der "Facundo" im jungen Argentinien zu einem identitätsstiftenden Werk. Der US-amerikanische Philologe Roberto González Echevarría nennt es "the most important book written by a Latin American in any discipline." Im Nachwort zur deutschen Ausgabe heißt es knapp: "Wer den ‚Facundo’ nicht gelesen hat, der kennt Argentinien nicht, der kennt Lateinamerika nicht."

Das Buch – im Spanischen in zahllosen Editionen verfügbar – wurde nach Erscheinen rasch in andere europäische Sprachen übersetzt; im Deutschen existierte bislang nur eine umstrittene Teilübersetzung von 1911. Die nun vorliegende Übertragung des Literaturwissenschaftlers Berthold Zilly erlaubt angenehme Lektüre. Man kann sich vom Fluß der Erzählung treiben lassen oder tief eintauchen in Anmerkungen, Nachwort, Zeittafel, Register.

Sarmiento hat vom Ruhm des Werks profitiert: Er wurde Botschafter, Gouverneur, schließlich (1868) sogar argentinischer Präsident und konnte seine Auffassungen von Zivilisation umsetzen, nicht immer zum Vorteil der Regierten. Seinen Lieblingsfeinden, den Caudillos, soll er immer ähnlicher geworden sein. ("Facunde Quiroga und ich sind geistesverwandt.") Die letzte Ruhestätte fand Sarmiento, von der Nation betrauert, anno 1888 auf dem Promi-Friedhof von Buenos Aires – ganz in der Nähe von Quiroga und Juan Manuel Rosas.


Rezensiert von Uwe Stolzmann


Domingo Faustino Sarmiento: Barbarei und Zivilisation. Das Leben des Facundo Quiroga
Aus dem Spanischen von Berthold Zilly.
Eichborn Verlag, Frankfurt/Main 2007, 456 Seiten, 28,50 Euro