Wie Sterne in einer großen Galaxie

Menschen in Gruppen organisieren sich genauso wie Insekten, Sandkörner oder Moleküle. Len Fisher, Physiker an der Universität Bristol und Kolumnist der britischen Tageszeitung "Guardian", geht dem Phänomen auf den Grund.
"Geh hin zur Ameise, du Fauler! Sieh an ihr Tun und lerne von ihr." So steht es schon in der Bibel – und jetzt hat die moderne Naturwissenschaft diesen Rat beherzigt. So ist der Physiker Len Fisher nicht erbost, sondern erfreut, wenn eine Ameisenstraße mitten durch seine Küche führt. Denn er bewundert die kollektive Intelligenz, die einen Ameisenstaat auszeichnet.

Wenn die kleinen Tierchen auf der Suche nach Nahrung ausschwärmen, werden diejenigen, die in geringster Entfernung fündig wurden, am schnellsten zurück im Nest sein. Andere, die noch wahllos herum irren, schließen sich den Erfolgreichen an – und schnell entsteht ein Trend, der immer mehr Ameisen auf die richtige Fährte lockt.

Die simplen Regeln, die eine Gruppe steuern, gelten nicht nur für Insekten sondern auch für uns Menschen, wie Len Fisher in seinem neuen Buch "Schwarmintelligenz" sehr anschaulich und unterhaltsam erklärt. Bei Ameisen, Bienen und Heuschrecken lässt sich Vieles abgucken.

Vor einigen Jahren bemerkten Mitarbeiter eines großen Paketauslieferers, dass die vermeintlich schnellsten Routen häufig sehr ungünstig waren, weil man oft links abbiegen musste. Die Erkenntnis sprach sich herum und jetzt wird auf den Touren möglichst oft rechts abgebogen, was die Abläufe beschleunigt. Der Schwarm ist intelligenter als das Individuum, wie Len Fisher immer wieder mit Vergleichen und Anekdoten aus dem wahren Leben belegt.

Meist merken die Mitglieder eines Schwarms gar nicht, wie sie ihr Verhalten aufeinander abstimmen. So beschreibt Fisher ebenso humorvoll wie sachlich fundiert, dass Menschen in einer überfüllten Fußgängerzone denselben Regeln folgen, mit denen Heuschrecken Kollisionen in der Luft vermeiden. Wenn sich aus einfachen Regeln in einer großen Gruppe komplexe Muster ergeben, dann spricht man von Selbstorganisation.

Sie tritt nicht nur bei Lebewesen auf: Atome und Moleküle bilden spontan Kristalle, die sich zu einer Muschelschale vereinen. Sandkörner in einer dem Wind ausgesetzten Düne formen filigrane Strukturen. Sterne in einer großen Galaxie ordnen sich zu Spiralarmen an und Zellen vernetzen sich, um ein Herz, eine Leber oder ein Gesicht zu werden: Selbstorganisation ist überall.

Len Fisher, Physiker an der Universität Bristol, Kolumnist der britischen Tageszeitung "Guardian" und Autor einiger populärwissenschaftlicher Bücher, stellt zum Schluss einige mathematische Zusammenhänge vor, die bei der Steuerung von komplexen Prozessen eine Rolle spielen. Da sind die Beispiele nicht mehr so zwingend und der sonst im Plauderton gehaltene Text verliert sich etwas in Gemeinplätzen. Das letzte Viertel des Buches besteht aus Anmerkungen zu den vorangegangen Kapiteln. Will man beim Lesen alle Informationen nutzen, muss man ständig hin und her blättern.

Trotz dieser kleinen Schwächen ist "Schwarmintelligenz" eine unterhaltsame Lektüre, in der sich bestens schmökern lässt und die mit vielen kuriosen Geschichten zu überraschen weiß – und der Erkenntnis, dass auch wir Menschen echte Schwarmtiere sind.

Besprochen von Dirk Lorenzen

Len Fisher: Schwarmintelligenz: Wie einfache Regeln Großes möglich machen
Eichborn Verlag, Frankfurt/Main 2010
272 Seiten, 19,95 Euro