Wie sich Nancy Reagan wohl David Bowie vorstellt
Patrick Wengenroth inszeniert mit "Christiane F." Deutschlands berühmtesten Fixerstoff, übt Textdemut und landet bei Udo Lindenberg. Wengenroth kann sich diese Lässigkeit mittlerweile leisten - ohne nennenswerten Niveauverlust.
Es ist ein kleiner, schnell geprobter Abend in der Nebenspielstätte der Schaubühne in Berlin. Patrick Wengenroth, der sich solche trashigen Formate ausdenkt und immer auch selbst mitspielt, kann sich diese Lässigkeit mittlerweile leisten, ohne nennenswerten Niveauverlust. Das Niveau trägt Namen: Jule Böwe und Ulrich Hoppe sind das mittelalte Bühnenpaar, Lea Draeger und Franz Hartwig das junge – und ohne die Zartheit und die Coolness und den selbstverständlichen, nie aufgepfropften Ernst dieser Schauspieler könnten 90 Minuten Fixerwelt ganz schnell in Betroffenheits- und Bildungsfernsehen kippen. Alle vier sind mal die Kindsfrau Christiane, die Männer teilen sich Detlef, den Freund. Hier wird also keine wahre Geschichte einer Celebrity erzählt, sondern etwas, das jeden treffen könnte. Wir sind Heroin: War das nicht Teil des Schocks, als das Buch erschien vor mehr als dreißig Jahren?
Die Bühne ist leer, nur in der Mitte gibt es einen gefliesten Schaukasten, wie früher am Bahnhof Zoo. Da sitzt Wengenroth und singt – gut und auch fast ernsthaft - Drogen-Songs von Udo Lindenberg, die natürlich Anti-Drogen-Songs sind. Einmal liest der etwas beleibte und bärtige Wengenroth in absurden Glitzertights eine Abschrift jener Maischberger-Show vor vier Jahren, als die Erwachsene Frau F. zu Gast war. Er macht sich über die anmaßende, weil auch noch wiederholte Frage der Talkerin lustig, warum ausgerechnet sie überlebt habe. Über die Süchtige selbst sich zu erheben, die in diesem Clip einige Junkie-Klassiker des Laber-Repertoires zum Besten gibt, das traut sich Wengenroth dann doch nicht.
Der Theatermacher und begnadete Performer und wie wir jetzt wissen: auch gute Sänger Wengenroth, dieser stets etwas aufgebrachte, moralische, ja sittliche Wengenroth, der seit Jahren unter täuschenden Formattiteln wie Planet Porno wüste Popcollagen und ätzende Diskurskommentare auf die Bühnen bringt, dieser meistens lustige, dahinter zutiefst ernsthafte Regisseur mit einer oft zu sprunghaften Hibbelästhetik geht hier vor dem Stoff in die Knie wie noch nie. Kein wildes Zitieren, kein Zappen durch Medien und Formen, keine Vorführung des gesellschaftlichen Spiegels, den Wengenroth sonst noch im kleinsten Splitter entdeckt. Der Gestus des empörten Zeigens weicht hier über weite Strecken jenem des Staunens. Und Staunen heißt zwangsläufig Nacherzählen.
Vielleicht liegt dieser für einmal erstaunlich brave Gestus in Wengenroths später Geburt begründet. Wer 1976 geboren ist, interessiert die Rekonstruktion dieser Welt offenbar mehr als der Staub, der sich seither auf den Stoff gelegt hat. Vielleicht geht aber auch eine Kraft von diesem Buch aus, für die sich der feinfühlige Berserker offen zeigt. "Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" knallt bis heute: Mehr als drei Millionen Mal wurde das Buch verkauft, das die Journalisten Kai Hermann und Horst Rieck 1978 nach Gesprächsprotokollen mit der damals 16-jährigen Christiane Felscherinow geschrieben haben. Auch Erwachsene kamen zu Wort – die Mutter, der Jugendarbeiter, der Polizist. Alle berichteten in der ersten Person. Eine große Oral History über Heroin, Prostitution, Großstadt. Über die Verrohung der Sitten, und auch ein wenig darüber, was passiert, wenn Mütter arbeiten, statt sich um ihre Kinder zu kümmern. Manchmal wird einem ganz anders, wenn man das heute liest. Vor allem aber ist der Beton schuld. Siebzigerjahre, ferne Zeit: die Gesellschaft, die Sau. Heute herrscht meistens das Gegenteil – jeder sein eigener Loser. Sucht wird heute oft psychologisch mit der frühkindlichen Entwicklung erklärt. Umwelt oder Gene oder Erziehung: Es stecken, am Rand, auch noch ganz andere große Fragen in diesem Fixerstoff.
Vielleicht sind es auch die allergrößten Fragen. Wie dem Elend zum Trotz ist das Buch auch eine zarte Coming-of-Age-Geschichte, eine Erzählung über die Träume eines Mädchens, das noch im Höllenfieber des Entzugs von einer Welt ohne Neid fantasiert. Es ist ein Theaterstoff, klar. Komisch, dass man das nicht früher gemerkt hat. Wengenroth und sein Team haben aber auch dann genau hingehört, wenn Christiane mal nicht vom Drücken oder Anschaffen spricht und ganz normale Dinge einer Heranwachsenden erzählt. Wer die Spießer sind, wer die Coolen, was Freundschaft bedeutet, was Nähe. Es sind grundlegende Fragen des Zusammenlebens.
Fast rührend: Wie nahe der Abend an den Film rückt, 1981 vom jüngst verstorbenen Bernd Eichinger produziert. Die Frauen tragen bis auf die Ringelsocken in den Pumps exakt die Kluft, wie sie Natja Brunkhorst im Film trug. Es gibt Szenen, wo selbst die Blicke dem Film nachempfunden sind. Und doch, der Theaterabend zeigt keine Spritzen, keine Toiletten, keine Einstiche. Er verzichtet sogar auf David Bowie, die Popikone in Buch wie Film. In den fortschreitenden Siebzigern war Bowie neben Iggy Pop und Lou Reed das eindringlichste Bild für Heroin als Lifestyle, was man sich heute, wo jeder Popstar primär etwas über Leistung erzählt, nicht mehr vorstellen kann. Auf Udo Lindenberg, auf deutschen Anti-Drogen-Rock aus dem Geiste Nancy Reagans zu setzen, statt auf den hypercoolen David Bowie, ist die künstlerische Freiheit, die sich der Abend nimmt. Das ist böse und sublim. Aber zu gut gesungen und von Matze Kloppe auch gespielt, um bloß albern zu sein.
Die Bühne ist leer, nur in der Mitte gibt es einen gefliesten Schaukasten, wie früher am Bahnhof Zoo. Da sitzt Wengenroth und singt – gut und auch fast ernsthaft - Drogen-Songs von Udo Lindenberg, die natürlich Anti-Drogen-Songs sind. Einmal liest der etwas beleibte und bärtige Wengenroth in absurden Glitzertights eine Abschrift jener Maischberger-Show vor vier Jahren, als die Erwachsene Frau F. zu Gast war. Er macht sich über die anmaßende, weil auch noch wiederholte Frage der Talkerin lustig, warum ausgerechnet sie überlebt habe. Über die Süchtige selbst sich zu erheben, die in diesem Clip einige Junkie-Klassiker des Laber-Repertoires zum Besten gibt, das traut sich Wengenroth dann doch nicht.
Der Theatermacher und begnadete Performer und wie wir jetzt wissen: auch gute Sänger Wengenroth, dieser stets etwas aufgebrachte, moralische, ja sittliche Wengenroth, der seit Jahren unter täuschenden Formattiteln wie Planet Porno wüste Popcollagen und ätzende Diskurskommentare auf die Bühnen bringt, dieser meistens lustige, dahinter zutiefst ernsthafte Regisseur mit einer oft zu sprunghaften Hibbelästhetik geht hier vor dem Stoff in die Knie wie noch nie. Kein wildes Zitieren, kein Zappen durch Medien und Formen, keine Vorführung des gesellschaftlichen Spiegels, den Wengenroth sonst noch im kleinsten Splitter entdeckt. Der Gestus des empörten Zeigens weicht hier über weite Strecken jenem des Staunens. Und Staunen heißt zwangsläufig Nacherzählen.
Vielleicht liegt dieser für einmal erstaunlich brave Gestus in Wengenroths später Geburt begründet. Wer 1976 geboren ist, interessiert die Rekonstruktion dieser Welt offenbar mehr als der Staub, der sich seither auf den Stoff gelegt hat. Vielleicht geht aber auch eine Kraft von diesem Buch aus, für die sich der feinfühlige Berserker offen zeigt. "Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" knallt bis heute: Mehr als drei Millionen Mal wurde das Buch verkauft, das die Journalisten Kai Hermann und Horst Rieck 1978 nach Gesprächsprotokollen mit der damals 16-jährigen Christiane Felscherinow geschrieben haben. Auch Erwachsene kamen zu Wort – die Mutter, der Jugendarbeiter, der Polizist. Alle berichteten in der ersten Person. Eine große Oral History über Heroin, Prostitution, Großstadt. Über die Verrohung der Sitten, und auch ein wenig darüber, was passiert, wenn Mütter arbeiten, statt sich um ihre Kinder zu kümmern. Manchmal wird einem ganz anders, wenn man das heute liest. Vor allem aber ist der Beton schuld. Siebzigerjahre, ferne Zeit: die Gesellschaft, die Sau. Heute herrscht meistens das Gegenteil – jeder sein eigener Loser. Sucht wird heute oft psychologisch mit der frühkindlichen Entwicklung erklärt. Umwelt oder Gene oder Erziehung: Es stecken, am Rand, auch noch ganz andere große Fragen in diesem Fixerstoff.
Vielleicht sind es auch die allergrößten Fragen. Wie dem Elend zum Trotz ist das Buch auch eine zarte Coming-of-Age-Geschichte, eine Erzählung über die Träume eines Mädchens, das noch im Höllenfieber des Entzugs von einer Welt ohne Neid fantasiert. Es ist ein Theaterstoff, klar. Komisch, dass man das nicht früher gemerkt hat. Wengenroth und sein Team haben aber auch dann genau hingehört, wenn Christiane mal nicht vom Drücken oder Anschaffen spricht und ganz normale Dinge einer Heranwachsenden erzählt. Wer die Spießer sind, wer die Coolen, was Freundschaft bedeutet, was Nähe. Es sind grundlegende Fragen des Zusammenlebens.
Fast rührend: Wie nahe der Abend an den Film rückt, 1981 vom jüngst verstorbenen Bernd Eichinger produziert. Die Frauen tragen bis auf die Ringelsocken in den Pumps exakt die Kluft, wie sie Natja Brunkhorst im Film trug. Es gibt Szenen, wo selbst die Blicke dem Film nachempfunden sind. Und doch, der Theaterabend zeigt keine Spritzen, keine Toiletten, keine Einstiche. Er verzichtet sogar auf David Bowie, die Popikone in Buch wie Film. In den fortschreitenden Siebzigern war Bowie neben Iggy Pop und Lou Reed das eindringlichste Bild für Heroin als Lifestyle, was man sich heute, wo jeder Popstar primär etwas über Leistung erzählt, nicht mehr vorstellen kann. Auf Udo Lindenberg, auf deutschen Anti-Drogen-Rock aus dem Geiste Nancy Reagans zu setzen, statt auf den hypercoolen David Bowie, ist die künstlerische Freiheit, die sich der Abend nimmt. Das ist böse und sublim. Aber zu gut gesungen und von Matze Kloppe auch gespielt, um bloß albern zu sein.