Wie man zu einem Gourmand wird

04.09.2007
In einem Restaurant Unbekanntes kosten, um auf Köstliches zu stoßen, dies empfiehlt A.J. Liebling jenen, die zu Genießern exzellenter Küche aufsteigen wollen. Der Amerikaner lebte als Korrespondent des "New Yorker" während des Zweiten Weltkriegs unter anderem in Paris. Sein Buch macht mit französischen Meisterköchen des letzten Jahrhunderts bekannt.
In jenen Zeiten sprach in Frankreich niemand ernsthaft von Gourmets, nur von Gourmands – denn der Feinschmecker, das war nach dieser seriösen Betrachtungsweise jemand, der die reichen Genüsse in Gestalt der vielen Gänge einer ordentlichen Mahlzeit auch in sich aufzunehmen verstand, ohne zu kapitulieren – nicht jemand, der auf der Documenta einen Flug nach Barcelona gewinnt, um dort einige flüchtige Aromen zu verkosten.

Lieblings Theorie, wie man zu einem Gourmand wird, ist so einleuchtend wie einfach: Man darf nicht über sehr knappe finanzielle Mittel verfügen, um sich zu einem echten Gourmand auszubilden, das versteht sich von selbst. Wer immer die billigsten Gerichte von der Karte wählen muss, wird nie die extravaganteren Genüsse kennenlernen. A.J. Liebling aber belehrt uns darüber, warum man auch nicht zu reich sein darf, um sich zum Genießer auszubilden: Wer über unbegrenzte Mittel verfügt, wird immer nur jene exquisiten Gerichte wählen, von deren Köstlichkeit er einmal gehört und sich dann selbst überzeugt hat: Austern und Entrecôte. Er wird nie abwägen, ob es besser sei, das billigere Gericht mit dem besseren Wein zu wählen oder die Alternative mit dem einfacheren Wein und dem teueren Fleisch – also nie eines jener Risiken eingehen, Unbekanntes zu kosten, um auf unerhört Köstliches zu stoßen.

Liebling wird Zeuge des beginnenden Untergangs einer großen Esskultur und er entwickelt eine kleine Soziologie dieses Verfalls zur Begründung, warum Ende der zwanziger Jahre allmählich ein Spitzenrestaurant nach dem anderen schließt, und die Qualität der französischen Küche bis hinunter zu den billigen Restaurants leidet. Die Belle Epoque ist mit dem Ersten Weltkrieg untergegangen und mit ihr die Zeit der ausschweifend lebenden, aber im Genuss kultivierten großen Kurtisanen. Mit der fortschreitenden Amerikanisierung setzen sich Sportlichkeit und Schlanksein als Ideale durch, Pagenkopf-Frisuren und schmale Taillen als modische Prämissen der Frauen.

Ärzte, die bis dahin Medizin verordneten, die das weitere Schlemmen ohne Gallenkolik ermöglichen sollte, entwickeln neue Vorstellungen von Gesundheit, Idealgewicht, entsprechenden Diäten, Kuren und Sanatoriumsaufenthalten. Diese Behandlung setzt natürlich zuerst bei den Oberschichten ein – der Klientel der teuren Restaurants.

Stichwort Motorisierung: Zentren der guten Küche in der Provinz waren die gediegenen bürgerlichen Hotels gegenüber den Bahnhöfen, wo habituell die Handlungsreisenden abstiegen. Wenn sie ihr Tagwerk in einer Kleinstadt verrichtet hatten, übernachteten sie eben im Lion d’Or oder im Hotel du Commerce. Nun aber fuhren sie in kleinen Citroens oder Arondes über die Landstraßen, kehrten abends nach Hause zurück und hatten tagsüber kaum Zeit für ein ausführliches Essen.

Stichwort Verbot der Kinderarbeit: Ähnlich wie die guten Clowns oder wirklich durchsetzungsfähigen Boxer fingen früher Spitzenköche vor der Pubertät an, in Restaurants ihr Handwerk zu lernen. In der Folge der Schließung berühmter Tempel der Dégustation wurden auch die weniger teuren Restaurants schlechter, weil die Vorbilder und Maßstäbe fehlten.

Das Buch macht uns bekannt mit exemplarischen Meisterköchen der zwanziger und dreißiger Jahre. Da ist etwa Maillabuau, der Charakterdarsteller: Es ist sehr teuer bei ihm, man isst sehr gut, aber sein Restaurant in der Rue Sainte-Anne ist äußerst schäbig eingerichtet - mit dem Argument, alles Geld der Klientel fließe bei ihm in die Küche, nicht in die Einrichtung.

Mit M. Bouillon durchstreift er während des Zweiten Weltkrieges "Les halles". Köche sind, bedingt durch die sie umgebende Hitze, temperamentvolle, reizbare Menschen.

Was für ein frecher und witziger Autor Liebling war, erfährt der Leser bereits in den ersten Sätzen des Buches. Hier bedauert er, dass Marcel Proust seine Erinnerung durch nichts Üppigeres beflügelte als den berühmten luftigen Keks, die Madeleine: "Angesichts dessen, was Proust unter dem Einfluß eines so sanften Reizes schrieb, ist es ein Verlust für die Menschheit, dass er keinen kräftigeren Appetit hatte. Nach einem Dutzend Gardiner’s-Island-Austern, einem Teller Muschelsuppe, ein paar frisch gefangenen Jakobsmuscheln, drei sautierten weichschaligen Krabben, einigen soeben gepflückten Kolben Mais, einem dünn geschnittenen Schwertfischsteak von generöser Breite, zwei Hummern und einer Long-Island-Ente hätte er womöglich ein Meisterwerk verfaßt."

Rezensiert von Wiebke Hüster

A.J. Liebling, Zwischen den Gängen. Ein Pariser Menu 1930-1960
Übersetzt von Joachim Kalka
Berenberg 2007, 176 S., 21,50 Euro