Wie man wird, wer man ist

11.10.2011
In seinem neuen Roman "Die Erbschaft" beschreibt Nicholas Shakespeare, wie der Protagonist durch eine Verwechslung 17 Millionen Pfund erbt. Shakespeare ist einer der erfolgreichsten britischen Autoren. Sein bekanntestes Buch "Der Obrist und die Tänzerin" wurde von John Malkovich verfilmt.
"Jemand zu sein, ist ein hartes Stück Arbeit." So lautet eine von zahlreichen Weisheiten, die der junge Andy Larkham, Lektor in einem kleinen Londoner Verlag, immer knapp bei Kasse und mäßig begabt für die Liebe, von seinem Lieblingslehrer mit auf den Lebensweg bekommen hat. Als Andy, wie immer zu spät, zur Beerdigung des Lehrers geht, verwechselt er die Kapelle und wohnt der falschen Trauerfeier bei. Die Verwechslung hat Folgen. Andy erbt 17 Millionen Pfund.

Nicholas Shakespeare hat ein Faible für historisch-politische Stoffe. Der Paukenschlag, mit dem der Autor von "Der Obrist und die Tänzerin", das auch hierzulande erfolgreich war und von John Malkovich verfilmt wurde, seinen neuen Roman beginnt, setzt gleich mehrere Lebensgeschichten in Gang. Natürlich verändert das viele Geld den jungen, unreifen Andy. Der findet auf Umwegen zu seiner neuen Aufgabe, etwas über jenen geheimnisvollen Christopher Madigan herauszufinden, dem er die schicksalhafte Erbschaft zu verdanken hat.

Die verwickelte Geschichte führt tief hinunter in Bergbauminen und die Niederungen schmutziger Geschäfte, bis nach Australien und vor allem ins Armenien der vorletzten Jahrhundertwende. Ein Erdbeben in Armenien ist es schließlich auch, das all die verschütteten Gefühle und vergessenen Geschichten wieder ans Licht bringt.

Aber warum ficht Madigans schöne Tochter Jeannine das Testament nicht an? Wer ist die armenische Frau, die in Madigans Haus lebt? Und wer ist dieser in allen Lebenslagen und Weltgegenden auftauchende, L. John Hubbard zitierende Springteufel, der immer einen anderen Namen trägt und immer eine Katastrophe auslöst? Auf der anderen Seite Andys Familie: eine Mutter, die nervt, ein Vater, der verschwindet, und eine Schwester, die ausgerechnet Andys Ex-Chef heiraten muss, was beide überraschenderweise zu glücklicheren und damit erträglicheren Menschen werden lässt. Zwischen allen Andy Larkham auf der Suche nach sich selbst.

Geschickt verwebt Nicholas Shakespeare die verschiedenen Ebenen aus schicksalhaften Lebensläufen, langlebigen Lügen und verhängnisvollen Missverständnissen. Manuskripte tauchen auf, werden vergessen oder lektoriert, erfunden oder diktiert, geschrieben und schließlich doch gelesen. Sie befördern die Suche nach dem, was sich als die Wahrheit erweisen könnte.

Wie man wird, wer man ist, und dass die anderen nicht unbedingt sind, wofür man sie hält - das ist, eingebettet in eine spannende Suche nach Aufklärung verschütteter Zusammenhänge und eine sich anbahnende Liebesromanze, Shakespeares eigentliches Thema. Er überführt es in die ureigene Frage von Literatur, die Grundfrage allen Erzählens nach dem Verstehen, nach Wahrheit und Lüge und danach, was man wissen, fühlen, beschreiben kann - und worüber man vielleicht einfach schweigen muss.

Schließlich erweisen sich die 17 Millionen Pfund als das, was Andys Freund David von Anfang an in ihnen gesehen hat: "Betrachte sie als Vorschuss auf ein Buch, das du noch nicht geschrieben hast." Andy liefert. Und erfährt am Ende, dass es einfacher zu sein scheint, 17 Millionen zu bekommen, als die Frau seiner Träume. Aber ganz unmöglich ist auch das vielleicht nicht, wenn man weiß, wer man selbst ist.

Besprochen von Hans von Trotha

Nicholas Shakespeare: "Die Erbschaft"
Aus dem Englischen von Hans M. Herzog
Rowohlt Verlag, Reinbek 2011
448 Seiten, 19,95 Euro