Wie man die Geister weckt

Von Astrid Mayerle · 09.02.2008
In Japan gibt es mehr als 80.000 Shinto-Schreine. Wer in Großstädten wie Tokio unterwegs ist, trifft immer wieder solche Heiligtümer, an denen Manager für ein gelungenes Geschäft und Schulmädchen um eine gute Klausur bitten: Der Shintoismus hat im modernen Japan eine enorme Präsenz.
Mitten in Kyoto, in der riesigen, vielverzweigten Einkaufsgalerie Teramachi: Zwischen einer laut auf die Straßen dröhnenden Spielhalle mit sogenannten Patchinkos, Flipper- und Geldspielautomaten, und einem Stand mit Süßwaren stoße ich auf einen Shintoschrein, nebenan ein kleiner Garten mit Hühnern, einem Brunnen und gleich dahinter ein Buddhistischer Tempel.

In Japan gibt es etwa 80.000 Shinto-Schreine. Das bedeutet, wenn man einen etwa halbstündigen Spaziergang durch Kyoto, die alte Kaiserstadt, unternimmt, trifft man schon mal auf ein halbes Dutzend Heiligtümer - sogar mitten in einer Einkaufsgalerie: Der kleine Schrein, eingeklemmt zwischen der Spielhalle und dem buddhistischen Tempel, ist besonders: Ein Oktopus ist sein Schutzgott.

Rechts thront auf einem orangefarbenen Kissen eine Marmorskulptur des vielarmigen Meerestiers, links hängen unzählige kleine, bemalte Votivtafeln aus hellem Holz, auf denen eine Frau im Kimono ein ebensolches Kraken-Wesen anbetet. Der Eindruck befremdet erstmal, habe ich doch vor kurzem zerkleinerte Oktopusstücke in einem der typischen Fastfood Omeletts gegessen, die serienmäßig in halbrunden Metallformen ausgebacken werden, außerdem gibt es in der japanischen Kunst erotische Bilder von weiblichen Wesen, die von den Tentakeln des Oktopus umschlungen und verführt werden.

Einen Oktopus als Gottheit zu verehren, ist erstmal ein schwieriges Gedankenspiel für jemanden, dessen himmlische Ordnung und Gottesvorstellung nach christlichem Modell eingeübt und trainiert ist.

"Grundsätzlich ist es möglich, dass auch Tiere als Kami verehrt werden. Wir haben als Möglichkeit die Geister der Ahnen, wir haben herausragende Persönlichkeiten der Geschichte, eher menschliche Gottheiten, dann haben wir diese Naturerscheinungen und auch Tiere oder Pflanzen. Da kann es durchaus sein, dass ein Oktopus der an diesem Schrein verehrte Gott ist."

Der Asienexperte Christoph Kleine forscht über die Tradition des Shinto aber auch über neue Religionen Japans, Mischformen aus Shintoismus, Buddhismus, Konfuzianismus und volkstümlichen Elementen. Die Vorstellung, dass in der gesamten Natur Götter anwesend sind oder bestimmte Naturphänomene selbst mit den Göttern identisch sind, ist tief verwurzelt in der japanischen Kultur. Ein besonders geformter Berg kann ein Gott sein oder ein alter Baum, dessen Stamm mit einer Kette aus weißen Papierstreifen, einem sogenannten Shimenawa, markiert wird. Heilige Bäume stehen oft in den öffentlichen Parks oder unmittelbar in der Nähe eines Shintoschreins.

"Man würde davor zurückschrecken, einen heiligen Baum zu fällen. Das ist ein ernsthaftes Problem. Das sehen sie auch in Kyoto, wo es zum Teil ganz kleine Schreine gibt, die umbaut sind von Hochhäusern oder großen Patchinkohallen. Man würde es nie wagen, diese Schreine zu beseitigen, da hat man einen großen Respekt. Dasselbe gilt auch für heilige Bäume. Eine andere weit verbreitete Auffassung ist die, dass bestimmte Naturformationen als Sitz der Götter gelten. Die Götter lassen sich dort nieder als Landeplätze. Götter können an diesen Orten auf die Erde herabsteigen, können dort verehrt werden und dann entschwinden sie wieder in den Himmel."

Zwei Mädchen mit Kniestrümpfen, kurzen flatternden Röcken und Jeansjacken betreten, während sie sich lebhaft unterhalten, ein Shinto-Heiligtum in Fukuoka, der größten Stadt auf der südlichsten Hauptinsel Kyushu. Im Gegensatz zu Kyoto und Tokio, wo die typisch korallenfarbene Architektur oft in die Umgebung eingepfercht wirkt, ist hier viel Platz um den Schrein und seinen benachbarten Kiosk, der kleine Anhänger, Glückszettel und Horoskope verkauft. Jede Geste der beiden jungen Frauen geschieht in völliger Synchronität:

Beide werfen gleichzeitig eine Münze auf den Opfertisch, ziehen gleichzeitig am Seil der großen Glocke und klatschen zwei Mal in die Hände. Dann verweilen sie einige Zeit vor dem Schrein, bis sie plaudernd weitergehen.

"Das Läuten der Glocke wird so gedeutet, dass man dadurch die Götter auf sich aufmerksam macht und das Klatschen der Hände wird so interpretiert, dass man damit die Götter wachruft. Aber traditionell ist es eher eine Respektbezeugung. Man hat früher gegenüber hochgestellten Persönlichkeiten in die Hände geklatscht als Geste des Respekts und das tut man gegenüber den Gottheiten heute."

Warum klatschen? Schlafen die Götter, wechseln sie den Ort, wo sind sie?

"Man muss sich unter den Kami, den Shinto-Göttern, Gottheiten vorstellen, die nicht diesen omnipräsenten Charakter haben wie der monotheistische Gott im Christentum oder im Islam. Das heißt, diese Götter haben Schwächen, man muss sie eher für sich einnehmen und auf sich aufmerksam machen."

Die Götter haben häufig positive und negative Eigenschaften zugleich, man könnte auch von zwei Seelen sprechen. Diesen beiden Seiten einer Gottheit widmen sich die Gläubigen oft an räumlich getrennten Nischen oder verschiedenen Bereichen eines Heiligtums. Das heißt, sie verehren auf der einen Seite die positiven Charaktereigenschaften und versuchen auf der anderen Seite die negativen zu besänftigen. Wie kommt ein Gott überhaupt zu einem negativen Charakter?

"Es gibt verschiedene historische Beispiele, dass ein ungerecht behandelter Prinz, der hätte Thronfolger werden sollen, verbannt worden ist und von seinem Erbe entbunden worden ist. Der rächt sich nach dem Tod, bringt Naturkatastrophen und Seuchen über die Menschen. Daraufhin tun sich die Menschen zusammen, bauen einen Schrein, erklären den Prinzen postum zum Kaiser, zum Kami, machen ihn zu einer Gottheit und besänftigen ihn, damit er eine gutmeinende Gottheit wird. Kami sind in der Regel freundlich gesonnen, wenn man ihnen Respekt entgegenbringt."

Respektbekundungen gibt es einen Menge zu beobachten: Zwei Businessmänner kommen mit Aktenkoffern und waschen erstmals ausgiebig ihre Hände. Sie gießen sich mit kleinen Bambusschöpfkellen in einem Brunnen Wasser über die Hände, reiben die Handflächen aneinander und schütteln am Ende die Wassertropfen ab. Allerdings: Kurze Zeit später zücken sie ihre Zigaretten und Handys, rauchen und telefonieren unmittelbar vor dem Schrein. Respektlos findet das offensichtlich niemand der anderen Besucher, es ist außerdem ganz normal, dass Kinder innerhalb der Anlage herumtollen, ja manchmal gibt es sogar einen Spielplatz.

"Im Shinto denkt man weniger moralisch, auch wenn man die allgemeinen traditionellen Normen akzeptiert, die über den Konfuzianismus nach Japan gekommen sind, aber es gibt eine Vorstellung, die stark eine Verbindung sieht zwischen ritueller Verunreinigung und Sünde. Ein bestimmtes Fehlverhalten, genauso wie ein Tabubruch führt zu einer Verunreinigung. Man kann in einem Reinigungsritual diese Verunreinigung wieder von sich nehmen lassen, das heißt, man ist nicht auf ewig verdammt oder hat eine Erbsünde auf sich geladen. Es gibt ein paar Dinge, die sehr stark mit Tabus belegt sind. Alles, was mit dem Tod zu tun hat. Wenn ich einem Toten begegne, ein Sterbefall in der Familie, bin ich für einen bestimmten Zeitraum rituell verunreinigt und sollte nicht den Göttern gegenübertreten. Dasselbe gilt für Krankheit, Menstruationsblut."

Dabei spielt die Verbindung der Götter mit dem Totenreich bereits im Schöpfungsmythos, des sogenannten Kojiki, und des etwas später entstandenen Nihonshoki eine wichtige Rolle. Diese beiden Chroniken wurden Anfang des achten Jahrhunderts verfasst: Sie erzählen von der Entstehung des Himmels und der Erde, die auf die Vereinigung des Urgötterpaares Izanami und Izanagi zurückgeht. Beide Götter trafen sich:

"Auf der Schwebenden Brücke des Himmels, stießen den Juwelen-Speer nach unten und rührten damit herum; und als sie die Salzflut gerührt hatten, bis sie sich zäh verdickte, und den Speer dann hinaufzogen, häufte sich von der Speerspitze herabträufelnde Salzflut an und wurde eine Insel."

Überliefert die ältere Quelle, das Kojiki. Auf dieser Insel zeugten die Urgotteltern ein Kind. Das erste war eine Missgeburt, später zeugten sie weitere Inseln und weitere Götter. Bei der Geburt des Feuergottes starb die Urgöttin Izanami. Ihr Mann Izanagi folgte ihr - ähnlich wie Orpheus seiner Eurydike - in die Unterwelt, um die geliebte Frau zurückzuholen.

Nach heftigen Auseinandersetzungen mit seiner Frau kehrte er schließlich allein aus der Unterwelt zurück. Müde und schmutzig von den Strapazen wusch er sich, wobei aus der Reinigung des linken Auges die Sonnengöttin Amaterasu entstand. Erst Amaterasus Enkel begründete die Dynastie des ersten Tenno.

"Der Hof wollte eine Geschichte des japanischen Reiches haben und zwar eine Geschichte, die klar stellt, dass der sich gerade etablierende Hof des Kaisers in eine Genealogie eingebunden wird, die bei den Göttern anfängt. Man wollte mit dieser Geschichtsschreibung beweisen, dass das japanische Kaiserhaus von den Göttern abstammt und für alle Ewigkeiten den Auftrag hat, die Erde zu beherrschen. Dazu musste man die eigene Genealogie möglichst weit zurückverfolgen und verknüpfte daher die auf regionaler und auf Clan-Ebene verbreiteten Mythen zu einer Historiografie im engeren Sinne, die um 600 vor Christus anfängt, so weit Gestalt anzunehmen, dass da der erste menschliche Kaiser in Erscheinung tritt. Das ist eine Chronik, die mit der Schöpfung beginnt und beim damals regierenden Kaiser aufhört und die damit suggeriert, dass wir eine Kontinuität von Beginn der Schöpfung haben über die verschiedenen Götter bis zum derzeitigen Kaiser."

Man hat den religiösen Mythos nicht festgehalten, um der Religion eine Grundlage zu geben, sondern man hat diverse Vorstellungen in eine Ordnung gebracht, um dadurch die Geschichte des Kaiserhauses als fiktive Chronologie zu rekonstruieren und zu legitimieren.

Allerdings fand all dies auf dem Trümmerhaufen vorhandener Erzählungen und mythischer Fragmente statt - wie etwa der Ethnologe Claude Levi-Strauss mit dem Begriff der "bricolage", der Bastelei, das mythische Denken, die religiösen Systeme der Ureinwohner am Amazonas erklärte:

Die Eigenart des mythischen Denkens besteht, wie die der Bastelei auf praktischem Gebiet, darin, strukturierte Gesamtheiten zu erarbeiten durch Verwendung der Überreste von Ereignissen: "odds and ends" würde das Englische sagen, Abfälle und Bruchstücke, fossile Zeugen der Geschichte eines Individuums oder einer Gesellschaft.

Hinzu kommt, dass der Shintoismus nur ein Aspekt der japanischen Kultur beziehungsweise ihrer religiösen Fragmente ist.

"Über die gesamte Geschichte hinweg hatte der Buddhismus sehr viel mehr Einfluss in Japan. Shinto ist ja eine Neuerfindung des 19. Jahrhunderts, vorher hat es eine unabhängige Shintoreligion nicht gegeben. Die gesamten Moralvorstellungen waren im Wesentlichen durch den Buddhismus und den Konfuzianismus geprägt und das gilt weitgehend bis heute. Wir können davon ausgehen, dass Japaner unsere Moralvorstellungen teilen. Es gibt ziemlich klare moralische Grundsätze wie Aufrichtigkeit, Zuverlässigkeit, Loyalität, Menschlichkeit. Das sind die konfuzianischen Grundtugenden."

Konfuzianismus, Daoismus und Buddhismus waren auch mit dem Shintoismus konkurrierende Weltanschauungen. Sie konnten den Gläubigen Versatzstücke anbieten, die der Shinto nicht kannte. Daher übernahmen die Shinto-Anhänger - vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts - einige Rituale, etwa die Hochzeit.

Auf Miyajima, einer kleinen, Hiroshima vorgelagerten Insel besuche ich den Ise-Schrein. Vor gut einhundert Jahren wäre das noch nicht möglich gewesen, Frauen dürfen die Insel erst seit dem 20. Jahrhundert betreten. Das hängt damit zusammen, dass die Insel als heiliger Bezirk gilt. Die Eintrittskarte zum Schrein verrät die Vorgeschichte:

Der Itsukushima Schrein wurde 593 errichtet und 1168 völlig neu aufgebaut, und zwar in der Größe wie Sie ihn heute vorfinden. Stege mit über 280 Metern Länge verbinden über 20 Gebäude. Der Schrein wurde 1996 von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt. Miyajima wird seit der Antike als heilige Insel verehrt. Daher hat man den Schrein ins Meer gebaut und damit Ebbe und Flut ausgesetzt. Der Kontrast des blauen Meers, der grünen Hügel und des zinnoberrot lackierten Schreins ist atemberaubend schön.

Viele Schulklassen sind hier, die Jugendlichen plaudern und zeichnen mit Buntstiften die Architektur. Besucher werfen Münzen als Opfergabe in eine große, rechteckige, mit einem Eisengitter bedeckte Kiste, obwohl gerade eine Hochzeit stattfindet. Die Touristen fotografieren und filmen hemmungslos, alles was sie vors Objektiv kriegen, am liebsten natürlich die Brautleute und die Hochzeitsgesellschaft, die sich an zwei langen Tischen gegenübersitzt, aber auch den Priester, die Musiker und die selbstvergessen zeichnenden Schüler und Studenten.

Zwei Schreinjungfrauen mit langen, hellen Kimonos und eng im Nacken gebundenen Zöpfen, die starr, wie zwei Bleistifte herabbaumeln, begleiten die Braut. Sie trägt einen weißen Mantel, der im Rücken sich weit auswölbt - das Kissen des Kimonogürtels, auch Obi genannt, versteckt sich darunter.

Auf dem Kopf der Braut sitzt eine hoch aufragende Schleierhaube, die jede rasche, spontane Bewegung unmöglich macht. Der Legende nach verbergen sich unter der Haube die Hörner der Eifersucht, die die Ehefrau während des Rituals ablegen sollten: Bloßer Aberglaube, meinen manche Japaner. Der Japanologe Florian Coulmas hält auch nicht viel von derlei volkstümlichen Interpretationen, doch er spricht gerne über die Hochzeitszeremonie:

"Man trinkt drei Mal drei Schluck Sake aus dafür bereit gehaltenen kleinen Bechern und Trinkschalen. Was sehr wichtig ist: Dies ist keine Angelegenheit zwischen zwei Leuten, sondern zwischen zwei Parteien. Auf der einen Seite sitzt die Familie der Frau und auf der anderen Seite die Familie des Mannes und sonstige Leute, die noch dazugeladen sind. Die werden bei der Gelegenheit zusammengeführt und nehmen daran teil. Das ist ebenso wichtig wie das Einverständnis der unmittelbar Betroffenen. Beim Austausch des Sake wird heutzutage so etwas wie ein Ehegelöbnis abgegeben, gute Vorsätze beider Seiten, dass man sich gegenseitig achten will."

Übrigens zeigt sich die gesamte Hochzeitsgesellschaft von den vielen Touristen völlig unbeeindruckt. Die Brautleute und ihre Verwandten sind ganz und gar auf das Ritual konzentriert. Auf Miyjima zu heiraten ist ein Statusprivileg – und dass eine Menge Touristen die Zeremonie begleiten, gehört dazu. Man ist nicht nur darauf gefasst, es ist ein Teil der Ehre für die Hochzeitsgesellschaft. Nachdem die Brautleute die Sakebecher abgesetzt haben, erklingt Musik, zwei Flötenspieler und eine Chamisenmusikerin:

"”Es gibt eine Reihe von traditionellen Instrumenten, eine Bambusflöte, eine dreiseitige Laute, eine sechzehnseitige, die Koto. Die Musik, die zum Teil aus China übernommen, zum Teil autochthon entwickelt wurde, mutet den westlichen Hörern etwas fremdartig an, weil sie nicht chromatisch, nicht melodisch ist. Die Kompositionen sind für diese Instrumente geschrieben und überliefert. Heute gibt es auch Musiker, die diese Instrumente benutzen und damit westliche Musik, Klassik oder Pop spielen.""

Die gesamte Schrein-Anlage auf Miyajima ist eine der größten in Japan. Lange Stege, die über das Wasser führen, zum Teil überdacht, zum Teil offen. Vom Schrein aus einige hundert Meter entfernt ist ein rotes Tor mit dem typischen weich geschwungenen Dach ins Meer gebaut. Dieses Tor gilt zusammen mit dem Fuji als eines der populärsten Wahrzeichens Japans.

"Es hat vor Einführung des Buddhismus keine wirkliche Architektur für den Shinto gegeben, geschweige den Bildnisse der Kami. Durch den Einfluss des Buddhismus hat man angefangen, feste Unterkünfte für die Götter zu bauen, Schreine. Man hat auch angefangen, die Kami in anthropomorpher Form darzustellen und Statuen zu schnitzen. Auch einige Rituale sind dem Buddhismus abgeschaut. Die konfuzianischen Einflüsse betreffen vor allem die Etikette, die moralischen Normen. Aus dem Daoismus sind diverse Gottheiten in den Shintoismus eingedrungen. Auch die Mythologie ist stark geprägt von chinesischen Glaubensvorstellungen. Schon der Schöpfungsmythos hat sehr viele daoistische und konfuzianische Einflüsse. Manche gehen so weit zu sagen, dass der frühe Gebrauch des Begriffs Shinto in den alten Quellen aus dem 18. Jahrhundert auf nichts anderes verweist als auf den Daoismus, also dass man mit Shinto in Japan den Daoismus bezeichnete und nicht eine einheimische Religion."

Demnach wäre, was in den japanischen Schulbüchern gelehrt wird, ziemlicher Unsinn, nämlich die These, es habe eine Urreligion gegeben, den Shinto. Tatsächlich umfasst dieser Begriff höchst verschiedene Vorstellungen und kann nur als Konstrukt einer langen Genese erfasst werden. Christoph Kleine:

"Im Grunde gibt es zwei sehr radikale Positionen bezüglich des historischen Auftauchens des Shinto: Die eine Theorie, die in den Schulbüchern verbreitete, besagt, Shinto sei die Urreligion der Japaner, habe schon in Urzeiten vor der Einführung des Buddhismus im sechsten Jahrhundert existiert und dann sei der Buddhismus als Konkurrenz dazugetreten. Heute ist man da sehr viel vorsichtiger und die radikale Gegenposition wäre die zu sagen, Shinto hat es nie gegeben bis ins 19. Jahrhundert hinein, als sich die sogenannte Nativisten und Nationalisten hingesetzt haben und aus der Überlieferung heraus eine Religion konstruiert haben, eine so genannte ’invented tradition’, also eine erfundene Tradition, die auf älteren Vorstellungen basiert und die traditionelle Kulte aufgegriffen hat. Diese Kulte haben aber nie in einem systematischen Zusammenhang in Verbindung gestanden, es gab keine religiöse Institution, keine religiösen Schriften, die es gerechtfertigt hätten, von einer Religion des Shintoismus zu sprechen."

Die Tradition der Schriftlosigkeit wirkt bis heute nach. Es gibt keine Dogmen, genauso wenig wie eine Kirchengeschichte. Außerdem kennt der Shintoismus im Lauf seiner Geschichte keine Missionierungen, keine Zwangsbekehrungen. Umgekehrt wurde er allerdings vom Staat vereinnahmt, als Grundlage eines konstruierten nationalen Selbstbewusstseins. Christoph Kleine, Asienexperte und Religionswissenschaftler:

"Dann gab im 19. Jahrhundert den Versuch, sich vom Buddhismus abzugrenzen und in dem Gefühl, man müsse jetzt eine neue japanische Identität entwickeln, versuchte man irgend etwas in der japanischen Kultur zu finden, was ursprünglich sei, was vor der Entwicklung des Kontinents gestanden habe und auf dieser Grundlage ist dann das entstanden, was wir heute als Shinto bezeichnen, was nicht bedeutet, dass es irgend etwas gab, also Quellen, aus denen sich der Shinto hätte speisen können."

Ein klar strukturiertes Programm stand hinter der Vereinnahmung des Shintoismus für das nationale Selbstbewusstsein: Die Meji-Restauration 1868 änderte grundsätzlich das Verhältnis von Shintoismus und Staat. Jetzt wurde eine Rangfolge unter den Schreinen festgelegt - eine hierarchische: Der Ise-Schrein auf Honshu, einer der vier Hauptinseln Japans, wurde zum höchsten Heiligtum erklärt und unmittelbar dem Kaiserhaus zugeordnet. Noch heute pilgern etwa sechs Millionen Menschen jährlich zu diesem Heiligtum.

Mit der staatlichen Hierarchisierung der Schreine erhielt der Shintoismus eine politische und staatstragende Funktion. Das nationale Bekehrungsprogramm war rigoros: buddhistische Tempel und Pagoden hat man dem Erdboden gleich gemacht, Buddhastatuen eingeschmolzen und als Altmetall gehandelt. Eine Behörde, das Amt für Schreinwesen, hatte die Oberaufsicht über dieses fragwürdige Reinigungsprogramm. Dennoch gilt:

"Was wir heute als Shinto kennen, ist zu so großen Teilen von der Festlandkultur, von dem Konfuzianismus, Daoismus und Buddhismus geprägt, dass man nicht davon sprechen kann, Shinto sei die ursprüngliche Religion der Japaner."

Dass der Shintoismus heute eine ganz besonders synkretistische, das heißt, sich aus vielen verschiedenen Glaubensrichtungen speisende Religion ist, hat auch damit zu tun, dass die neue Verfassung nach dem zweiten Weltkrieg das Kontrastprogramm zur Meiji-Restauration etablierte: Die Verfassung von 1947 legte fest, dass Staat und Religion strikt zu trennen seien und dass sich die Regierungsgewalt des Kaisers unmittelbar vom Volk herleite.

"Für jedermann ist die Freiheit des religiösen Bekenntnisses gewährleistet. Keine religiöse Gemeinschaft darf vom Staat mit Sonderrechten ausgestattet werden oder politische Macht ausüben. Niemand darf gezwungen werden, an religiösen Handlungen, Festen, Feiern oder Veranstaltungen teilzunehmen. Der Staat und seine Organe haben sich der religiösen Erziehung und jeder anderen Art religiöser Betätigung zu enthalten."

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die amerikanische Regierung dieser Entwicklung Vorschub geleistet und eine vom religiösen Leben unabhängige Regierungslegitimität gefordert. Dass dieser Gedanke heute nicht ganz aufgeht, weil es immer wieder Annäherungen zwischen Kirche und Staat gibt, beschreibt Ernst Lokowandt in seinem Buch "Der Shinto. Eine Einführung":

Der Tenno ist auch weiterhin oberster Priester des Shinto. Auf dem Palastgelände gibt es unverändert die "Drei Schreine des Kaiserhofs", in denen je der Spiegel, also die Sonnengöttin, die kaiserlichen Ahnen sowie alle Götter verehrt werden. Jeden Morgen bezeigt ein Kämmerer stellvertretend für den Kaiser den Schreinen seine Verehrung. Dort finden auch jährlich circa 20 Shinto-Zeremonien unter Teilnahme des Tenno statt, von denen er die wichtigsten selbst durchführt. Zumindest an einem von diesen, dem Erntedankfest, nehmen auch die Spitzen des Staates teil: der Ministerpräsident, die Präsidenten des Unter- und Oberhauses und der Präsident des obersten Gerichtshofs.

Die Annäherungen von Regierung und Kirche erreichten in den achtziger Jahren beim 40. Jahrestag des Kriegsendes einen neuen Höhepunkt: Verschiedene Ministerpräsidenten besuchten den Yasukuni-Schrein in Tokio in ihrer politischen Funktion, was sie damit unterstrichen, dass die Opferspende aus der Staatskasse kam. Die chinesische und südkoreanische Regierung war empört. Man muss wissen:

Der Yasukuni-Schrein wurde für die Opfer der kaiserlichen Seite der Wirren der Meiji-Restauration errichtet. In ihm werden die Menschen göttlich verehrt, die sich für Kaiser und Staat geopfert haben; inzwischen sind das ganz überwiegend Opfer der japanischen Seite der Kriege, die Japan seit der Keiji-Restauration geführt hat.

Unter den verehrten Militärs und Soldaten, von denen man annimmt, dass ihre Seelen als Kami, also als Gottheiten, weiterleben, sind auch eine Menge Kriegsverbrecher. Nicht nur die westliche Welt sowie China und Korea kritisieren die Verehrung des Kriegerdenkmals, auch in Japan gibt es viele Intellektuelle, die die Schreinbesuche der Staatsmänner ablehnen. Der Shintoismus hat also eine offizielle und eine private Seite.

"Der Shinto hat sicher auf junge Leute eine ungemeine Anziehungskraft, weil diese Religion sehr praktisch ist und sehr alltagskompatibel, das heißt, die jungen Leute, die Sie an den Schreinen sehen, werden in der Regel ein Horoskop oder ein Orakel ziehen und Wünsche auf kleine Votivtäfelchen schreiben, sie werden sich mit den Wünschen an die Götter wenden. Das Ganze verpflichtet sie zu überhaupt nichts. Sie müssen kein Bekenntnis ablegen, sie müssen nicht einmal richtig glauben, an das, was da passiert."

Wer das Spiel im Sinne des Anthropologen Johan Huizinga als konstituierendes Element von Kultur und damit auch von Religion begreift, wird keine Schwierigkeiten damit haben, dass die Japaner nicht alles so ernst nehmen, was am Schrein passiert oder dass sie die Glücksbotschaft auf dem Zettelchen, das sie eben an eine der gespannten Schnüre geknotet haben, bereits auf dem Nachhauseweg vergessen haben.

"Natürlich glauben sie das, sonst würden sie es nicht machen. Aber sie haben in Japan das Phänomen, dass Sie Leute, die gerade eben an einem Schrein ein Ritual vollzogen haben, fragen können, ob sie religiös sind oder gläubige Shintoisten und das würden sie abstreiten und sagen, um Gottes willen, ich halte von Religion überhaupt nichts. Aber es kann ja nicht schaden, mal ein Täfelchen aufzuhängen, damit man die Aufnahmeprüfung schafft und Ähnliches. Was man sich von einem Schreinbesuch erwartet, ist eine ganz diesseitige Segnung, ein ganz diesseitiger Nutzen, dass man sich verspricht, ganz alltägliche Probleme lösen zu können, also Probleme mit der Universität, mit der Familie, ein häufiges Motiv ist Sicherheit der Familie, im Straßenverkehr, Erfolg im Beruf, im Studium. Das sind so typische Wünsche, die im Schrein an die Götter herangetragen werden. Das Ganze verbindet sich dann auch mit touristischen Attraktionen, das heißt, Pilgern und touristische Attraktionen sind kaum auseinanderzuhalten in Japan. Das war schon immer so. Insofern denke ich, dass dem Shinto eine gute Zukunft beschieden ist."

Der Shito ist diesseitig, alltagskompatibel, optimistisch und undogmatisch - das passt zu einer modernen, flexiblen Welt, in der sich jeder täglich neu erfindet, den Job wechselt, die Aktienkurse sich so schnell ändern wie die technischen Errungenschaften. Eine Welt, in der man sein Glück an eine Kette hängt: In der profanen Variante ist es eine Halskette mit einem würfelförmigem iPod als Anhänger, wie sie eine Tokioterin in der Luxusmeile der Omotesandohills trägt, in der spirituellen Variante, die kleinen Glückszettelchen, die an eine Schnur oder in die Zweige eines Baums gebunden im Wind flattern.