Wie kommt es zum Bösen?
Zu den Gewissheiten der alten Bundesrepublik gehörte die Überzeugung, dass die Gewalt in Politik wie Gesellschaft im Rückgang begriffen sei und eine gute Politik dazu beitragen könne, dass dieser Rückgang sich noch beschleunige. Norbert Elias’ Buch über den "Prozess der Zivilisation" hatte dazu die kultursoziologische Theorie beigesteuert.
So konnte man liberal sein und brauchte sich dennoch nicht dem Vorwurf aussetzen, man vernachlässige die innere wie äußere Sicherheit oder gebe der Gewalt gar nach.
All dies stellt Wieviorka in seinem Buch über die Gewalt in Frage. Verfasst deutlich von den jüngsten Gewaltausbrüchen in den französischen Vorstädten, hat er diese doch antizipiert, und er sagt voraus, dass sich solche auf den ersten Blick "sinnlosen" Gewaltexzesse in Zukunft nicht bloß wiederholen, sondern auch steigern werden. Vor allem beschränkt er die Prognose von der anwachsenden Gewalt nicht auf die innergesellschaftlichen Verhältnisse, sondern sagt auch einen Anstieg der Gewalt in der internationalen Politik voraus. Doch im Unterschied zu vielen Sensationsautoren, die katastrophale Zuspitzungen prophezeien, geht Wieviorka von einem vorerst keineswegs dramatischen, aber kontinuierlichen Anstieg der Gewalt aus.
Seit Georg Simmels kleinem Text über den Streit haben sich Sozialwissenschaftler immer wieder Gedanken über die Produktivität von Konflikten gemacht: Konflikte, so die Beobachtung, können eine Gesellschaft integrieren, mehr jedenfalls als Bekundungen von Einigkeit und Gemeinsamkeit. Gesellschaften ohne Konflikte haben ein viel höheres Risiko des Zerfalls als solche mit Konflikten. Was die westlichen Gesellschaften in den letzten Jahrzehnten kennzeichnet, ist das Verschwinden der Konflikte, die diesen Gesellschaften Struktur verliehen haben: in ihrem Innern der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit beziehungsweise deren jeweiligen Interessenvertretungen, und nach außen der Ost-West-Konflikt, der die internationalen Beziehungen nicht nur beherrscht, sondern auch geordnet hat.
Durch diese Konflikte, so die Grundthese Wieviorkas, ist die Gewalt eingehegt und domestiziert worden. Mit dem Ende dieser Konflikte und der durch sie verbürgten politischen wie gesellschaftlichen Orientierung mehren sich die Konstellationen, in denen Einzelne wie gesellschaftliche und politische Akteure zu den Mitteln der Gewalt greifen, um sich Gehör und Sichtbarkeit zu verschaffen. Aber oft ist es auch gar nicht diese Kalkül-Rationalität, sondern es sind Bedrohungsgefühle und Orientierungsverluste, die exzessive Gewalt hervorrufen. Die mit dem Niedergang der großen Industrie verbundene Erosion der Arbeiterbewegung ist ein Faktor, der die Gewalt der Vorstädte freisetzt.
"Während dieser ganzen Zeit, als es starke Arbeitergemeinschaften mit einem regen sozialen Leben gab, als aus der Arbeiterbewegung und ihren Kämpfen Formen des politischen Lebens, ein Beziehungsgeflecht, Debatten über Ideen und die Gesellschaft hervorgingen, war Gewalt – zumindest in ihren schwersten Formen, die bewusst den Tod von Menschen in Kauf nahmen – kein Ausdruck gesellschaftlichen Handelns. Zwar konnten die Streiks lange und hart, die Spannungen in den Unternehmen stark und die verbalen Auseinandersetzungen aggressiv sein; aber tödliche Gewalt war kein Mittel der damaligen Akteure, selbst wenn sie mit einer brutalen Repression konfrontiert waren."
Wieviorka kann so erklären, warum die terroristischen Gewaltaktionen der Anarchisten mit dem Erstarken der Arbeiterbewegung nachließen und schließlich ganz verschwanden und warum in den 1970er und 80er Jahren mit dem Niedergang der Arbeiterbewegung in nahezu allen westeuropäischen Gesellschaften für einige Zeit das politische Klima wieder durch terroristische Gruppierungen bestimmt wurde.
In ähnlicher Weise dürfte der Ost-West-Konflikt gewirkt zu haben: Identitäre Gewalt, wie man sie in den jugoslawischen Zerfallskriegen oder den furchtbaren Massakern in Ruanda und im Kongo gesehen hat, aber auch die Verbindung von Religion und Politik, die nicht nur die jüngeren Formen des Terrorismus prägt, haben damals so gut wie keine Rolle gespielt. Erst das Ende des Ost-West-Konflikts und der damit verbundene Schwund politischer Konturen hat zur Rückkehr einer Gewalt geführt, die Wieviorka gelegentlich mit dem Begriff "barbarisch" charakterisiert.
Es ist vor allem der Kontrollverlust des Staates, der zu der neuen Gewalt der Desorientierung und Verzweiflung geführt hat, zumal dort, wo diese Gewalt mit dem Versprechen auftritt, sie könne wieder Klarheit und Perspektiven schaffen. Der Staat, von Max Weber als Monopolist der legitimen physischen Gewaltsamkeit herausgestellt, hat zwischen einem immer mehr Kompetenzen an sich ziehenden Markt und einer wachsenden Individualisierung der Menschen den ausschließlichen Zugriff auf die Gewalt verloren. Infra- und metapolitische Gewaltformen, wie Wieviorka dies nennt, haben sich ausgebreitet und werden das weiter tun.
"Die Bedeutungen, die in der Vergangenheit die Gewalt auf der politischen Ebene verorteten, entfernen sich, auch wenn sie in Kontakt mit ihr bleiben, heute immer weiter von dieser Ebene, zum einen nach unten, indem sie sich privatisieren und demzufolge zur öffentlichen Sphäre in Distanz treten – dies ist die infrapolitische Gewalt –, zum andern nach oben, indem sie der jeweiligen Aktion religiöse Dimensionen verleihen, die das Politische einem übergeordneten Prinzip, dem Guten und Heiligen, unterordnen – dies ist die metapolitische Gewalt."
Anlage und Stoßrichtung der Überlegungen Wieviorkas haben zur Folge, dass sich viele Passagen zunächst lesen wie eine melancholische Erinnerung an die guten Zeiten des Staates, als dieser noch alles unter Kontrolle hatte. Aber eine solche Staatsnostalgie ist Wieviorka fremd, und so beschreibt er schließlich auch, wie der Staat auf dem Höhepunkt seiner Machtentfaltung mit der Gewalt umgegangen ist. Vor allem die nazistische Vernichtungspolitik gegenüber den Juden Mittel- und Osteuropas kommt hier zur Sprache – auch im Hinblick darauf, wie die Beteiligten der Mordkommandos und Wachmannschaften moralisch und seelisch verfasst gewesen sein müssen, um zu tun, was sie getan haben. Gegen die These von der Gehorsamskultur, wie sie von Hannah Arendt in ihrem Eichmannbuch und von Stanley Milgram im Anschluss an seine berühmten Experimente entwickelt worden ist, vertritt Wieviorka die Auffassung, dass diese Gewalt nicht ohne die Einmischung von Hass und Sadismus möglich gewesen sei.
Freilich, was Wieviorka in dieser Hinsicht vorträgt, ist eher konventionell beziehungsweise fasst zusammen, was schon viele Male geschrieben und erörtert worden ist. Ganz anders ist dies in den Passagen über die in den 1970er Jahren angebrochene "Ära der Opfer": Wieviorka spricht von einer "anthropologischen Wende", die hier stattgefunden habe, weil von nun an sich die Opfer nicht länger aus Scham und Schande dem Blick der Öffentlichkeit entzogen und verbargen, sondern selbstbewusst die Öffentlichkeit suchten, um in ihr sein Selbstbewusstsein wiederherzustellen und Entschädigung für zugefügtes Leid einzuklagen.
Bis dahin, schreibt Wieviorka, hatte das Opfer nur Bedeutung vom Standpunkt der Gemeinschaft aus, die es eingefordert hatte bzw. für die es erbracht worden war. Die Gemeinschaft präsentierte sich politisch als Staat, der als Opferbewirtschafter auftrat, der nicht nur, wie in Kriegen, Opfer einforderte, sondern sich danach auch um deren Andenken kümmerte und die Angehörigen versorgte. Indem das "Drama der Opfer" zum öffentlichen Thema wurde, war der Alleinverfügungsanspruch des Staates gebrochen. Die Desakralisierung des Staates und der Aufstieg der Opferbewegung gingen Hand in Hand.
Aber Wieviorka begreift dies nicht als einen einsinnigen moralischen Fortschritt, der umstandslos verbucht werden kann, sondern weist auf die Ambivalenzen des neuen Opferkults hin. Dabei geht es ihm weniger darum, dass zuletzt immer neue kollektive Opfer auf den Bühnen der Öffentlichkeit erschienen und um Anerkennung stritten, sondern er hebt auf die politische Falle ab, die mit der Selbstinszenierung als Opfer verbunden ist und, die in einer sich ausbreitenden Neigung besteht, nicht länger die Verantwortlichkeit für die eigene Existenz tragen zu wollen. Vor allem an den afrikanischen Staaten, aber auch denen der arabischen Welt sind die verhängnisvollen Effekte eines opferzentrierten Selbstbewusstseins zu studieren: Es bildet sich nämlich gerade kein Selbstbewusstsein heraus, sondern was entsteht ist eine fortgesetzte Suche nach immer neuen Schuldigen für die eigene Misere.
Das also zeichnet Wieviorkas Überlegungen aus: Dass er keine einfachen Entwicklungslinien entwirft und diese schon gar nicht moralisch auszeichnet. Gibt es einen Begriff, der seine Analyse der Gewalt gezeichnet, so ist es der der Ambivalenz: Gewalt kann zu Sinngewinn führen, ebenso aber auch zu Sinnverlust. Was je der Fall ist, ist von der Situation abhängig. Wieviorka hält sich fern von der Feier der Gewalt als Mittel der Selbstbefreiung, auf die sich Jean-Paul Sartre einst eingelassen hatte, aber er setzt auch nicht darauf, dass Gewaltabstinenz die Lösung aller Probleme wäre. Ein kluges und anregendes, um nicht zu sagen: ein aufregendes Buch.
Michel Wieviorka: Die Gewalt
Aus dem Französischen von Michael Bayer
Hamburger Edition, Hamburg 2006, 229 Seiten
All dies stellt Wieviorka in seinem Buch über die Gewalt in Frage. Verfasst deutlich von den jüngsten Gewaltausbrüchen in den französischen Vorstädten, hat er diese doch antizipiert, und er sagt voraus, dass sich solche auf den ersten Blick "sinnlosen" Gewaltexzesse in Zukunft nicht bloß wiederholen, sondern auch steigern werden. Vor allem beschränkt er die Prognose von der anwachsenden Gewalt nicht auf die innergesellschaftlichen Verhältnisse, sondern sagt auch einen Anstieg der Gewalt in der internationalen Politik voraus. Doch im Unterschied zu vielen Sensationsautoren, die katastrophale Zuspitzungen prophezeien, geht Wieviorka von einem vorerst keineswegs dramatischen, aber kontinuierlichen Anstieg der Gewalt aus.
Seit Georg Simmels kleinem Text über den Streit haben sich Sozialwissenschaftler immer wieder Gedanken über die Produktivität von Konflikten gemacht: Konflikte, so die Beobachtung, können eine Gesellschaft integrieren, mehr jedenfalls als Bekundungen von Einigkeit und Gemeinsamkeit. Gesellschaften ohne Konflikte haben ein viel höheres Risiko des Zerfalls als solche mit Konflikten. Was die westlichen Gesellschaften in den letzten Jahrzehnten kennzeichnet, ist das Verschwinden der Konflikte, die diesen Gesellschaften Struktur verliehen haben: in ihrem Innern der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit beziehungsweise deren jeweiligen Interessenvertretungen, und nach außen der Ost-West-Konflikt, der die internationalen Beziehungen nicht nur beherrscht, sondern auch geordnet hat.
Durch diese Konflikte, so die Grundthese Wieviorkas, ist die Gewalt eingehegt und domestiziert worden. Mit dem Ende dieser Konflikte und der durch sie verbürgten politischen wie gesellschaftlichen Orientierung mehren sich die Konstellationen, in denen Einzelne wie gesellschaftliche und politische Akteure zu den Mitteln der Gewalt greifen, um sich Gehör und Sichtbarkeit zu verschaffen. Aber oft ist es auch gar nicht diese Kalkül-Rationalität, sondern es sind Bedrohungsgefühle und Orientierungsverluste, die exzessive Gewalt hervorrufen. Die mit dem Niedergang der großen Industrie verbundene Erosion der Arbeiterbewegung ist ein Faktor, der die Gewalt der Vorstädte freisetzt.
"Während dieser ganzen Zeit, als es starke Arbeitergemeinschaften mit einem regen sozialen Leben gab, als aus der Arbeiterbewegung und ihren Kämpfen Formen des politischen Lebens, ein Beziehungsgeflecht, Debatten über Ideen und die Gesellschaft hervorgingen, war Gewalt – zumindest in ihren schwersten Formen, die bewusst den Tod von Menschen in Kauf nahmen – kein Ausdruck gesellschaftlichen Handelns. Zwar konnten die Streiks lange und hart, die Spannungen in den Unternehmen stark und die verbalen Auseinandersetzungen aggressiv sein; aber tödliche Gewalt war kein Mittel der damaligen Akteure, selbst wenn sie mit einer brutalen Repression konfrontiert waren."
Wieviorka kann so erklären, warum die terroristischen Gewaltaktionen der Anarchisten mit dem Erstarken der Arbeiterbewegung nachließen und schließlich ganz verschwanden und warum in den 1970er und 80er Jahren mit dem Niedergang der Arbeiterbewegung in nahezu allen westeuropäischen Gesellschaften für einige Zeit das politische Klima wieder durch terroristische Gruppierungen bestimmt wurde.
In ähnlicher Weise dürfte der Ost-West-Konflikt gewirkt zu haben: Identitäre Gewalt, wie man sie in den jugoslawischen Zerfallskriegen oder den furchtbaren Massakern in Ruanda und im Kongo gesehen hat, aber auch die Verbindung von Religion und Politik, die nicht nur die jüngeren Formen des Terrorismus prägt, haben damals so gut wie keine Rolle gespielt. Erst das Ende des Ost-West-Konflikts und der damit verbundene Schwund politischer Konturen hat zur Rückkehr einer Gewalt geführt, die Wieviorka gelegentlich mit dem Begriff "barbarisch" charakterisiert.
Es ist vor allem der Kontrollverlust des Staates, der zu der neuen Gewalt der Desorientierung und Verzweiflung geführt hat, zumal dort, wo diese Gewalt mit dem Versprechen auftritt, sie könne wieder Klarheit und Perspektiven schaffen. Der Staat, von Max Weber als Monopolist der legitimen physischen Gewaltsamkeit herausgestellt, hat zwischen einem immer mehr Kompetenzen an sich ziehenden Markt und einer wachsenden Individualisierung der Menschen den ausschließlichen Zugriff auf die Gewalt verloren. Infra- und metapolitische Gewaltformen, wie Wieviorka dies nennt, haben sich ausgebreitet und werden das weiter tun.
"Die Bedeutungen, die in der Vergangenheit die Gewalt auf der politischen Ebene verorteten, entfernen sich, auch wenn sie in Kontakt mit ihr bleiben, heute immer weiter von dieser Ebene, zum einen nach unten, indem sie sich privatisieren und demzufolge zur öffentlichen Sphäre in Distanz treten – dies ist die infrapolitische Gewalt –, zum andern nach oben, indem sie der jeweiligen Aktion religiöse Dimensionen verleihen, die das Politische einem übergeordneten Prinzip, dem Guten und Heiligen, unterordnen – dies ist die metapolitische Gewalt."
Anlage und Stoßrichtung der Überlegungen Wieviorkas haben zur Folge, dass sich viele Passagen zunächst lesen wie eine melancholische Erinnerung an die guten Zeiten des Staates, als dieser noch alles unter Kontrolle hatte. Aber eine solche Staatsnostalgie ist Wieviorka fremd, und so beschreibt er schließlich auch, wie der Staat auf dem Höhepunkt seiner Machtentfaltung mit der Gewalt umgegangen ist. Vor allem die nazistische Vernichtungspolitik gegenüber den Juden Mittel- und Osteuropas kommt hier zur Sprache – auch im Hinblick darauf, wie die Beteiligten der Mordkommandos und Wachmannschaften moralisch und seelisch verfasst gewesen sein müssen, um zu tun, was sie getan haben. Gegen die These von der Gehorsamskultur, wie sie von Hannah Arendt in ihrem Eichmannbuch und von Stanley Milgram im Anschluss an seine berühmten Experimente entwickelt worden ist, vertritt Wieviorka die Auffassung, dass diese Gewalt nicht ohne die Einmischung von Hass und Sadismus möglich gewesen sei.
Freilich, was Wieviorka in dieser Hinsicht vorträgt, ist eher konventionell beziehungsweise fasst zusammen, was schon viele Male geschrieben und erörtert worden ist. Ganz anders ist dies in den Passagen über die in den 1970er Jahren angebrochene "Ära der Opfer": Wieviorka spricht von einer "anthropologischen Wende", die hier stattgefunden habe, weil von nun an sich die Opfer nicht länger aus Scham und Schande dem Blick der Öffentlichkeit entzogen und verbargen, sondern selbstbewusst die Öffentlichkeit suchten, um in ihr sein Selbstbewusstsein wiederherzustellen und Entschädigung für zugefügtes Leid einzuklagen.
Bis dahin, schreibt Wieviorka, hatte das Opfer nur Bedeutung vom Standpunkt der Gemeinschaft aus, die es eingefordert hatte bzw. für die es erbracht worden war. Die Gemeinschaft präsentierte sich politisch als Staat, der als Opferbewirtschafter auftrat, der nicht nur, wie in Kriegen, Opfer einforderte, sondern sich danach auch um deren Andenken kümmerte und die Angehörigen versorgte. Indem das "Drama der Opfer" zum öffentlichen Thema wurde, war der Alleinverfügungsanspruch des Staates gebrochen. Die Desakralisierung des Staates und der Aufstieg der Opferbewegung gingen Hand in Hand.
Aber Wieviorka begreift dies nicht als einen einsinnigen moralischen Fortschritt, der umstandslos verbucht werden kann, sondern weist auf die Ambivalenzen des neuen Opferkults hin. Dabei geht es ihm weniger darum, dass zuletzt immer neue kollektive Opfer auf den Bühnen der Öffentlichkeit erschienen und um Anerkennung stritten, sondern er hebt auf die politische Falle ab, die mit der Selbstinszenierung als Opfer verbunden ist und, die in einer sich ausbreitenden Neigung besteht, nicht länger die Verantwortlichkeit für die eigene Existenz tragen zu wollen. Vor allem an den afrikanischen Staaten, aber auch denen der arabischen Welt sind die verhängnisvollen Effekte eines opferzentrierten Selbstbewusstseins zu studieren: Es bildet sich nämlich gerade kein Selbstbewusstsein heraus, sondern was entsteht ist eine fortgesetzte Suche nach immer neuen Schuldigen für die eigene Misere.
Das also zeichnet Wieviorkas Überlegungen aus: Dass er keine einfachen Entwicklungslinien entwirft und diese schon gar nicht moralisch auszeichnet. Gibt es einen Begriff, der seine Analyse der Gewalt gezeichnet, so ist es der der Ambivalenz: Gewalt kann zu Sinngewinn führen, ebenso aber auch zu Sinnverlust. Was je der Fall ist, ist von der Situation abhängig. Wieviorka hält sich fern von der Feier der Gewalt als Mittel der Selbstbefreiung, auf die sich Jean-Paul Sartre einst eingelassen hatte, aber er setzt auch nicht darauf, dass Gewaltabstinenz die Lösung aller Probleme wäre. Ein kluges und anregendes, um nicht zu sagen: ein aufregendes Buch.
Michel Wieviorka: Die Gewalt
Aus dem Französischen von Michael Bayer
Hamburger Edition, Hamburg 2006, 229 Seiten