Wie in Russland der Sieg über den Faschismus missbraucht wird

Warum Russlands Frauen die Basis der Nation sind - die russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja über ihr Schreiben, Putins Streben nach alter Größe und die Glorifzierung der sozialistischen Zeiten in ihrem Land
Etwas vom Wannsee ist immer dabei. Ludmila Ulitzkaja hat schon einige ihrer Erzählungen am Berliner Wannsee geschrieben, und gerade ist sie mit ihrem neuesten Buch fertig. Das Laptop steht aufgeschlagen auf dem Tisch, der Blick geht raus zwischen die alten Bäume auf den See. Hier, im Literarischen Colloquium, hat sie sich eingemietet, um in Ruhe zu schreiben.
"Ich kann hier hervorragend arbeiten. Meine Familie verlangt viel Zeit und Kraft - hier bin ich für mich. "

Auf dem Tisch ist nur das Nötigste. Ein Apfel, ein paar Kekse, eine Wasserflasche. Ludmila Ulitzkaja vermittelt den Eindruck, für unser Gespräch nur eine kurze Pause eingelegt zu haben. Dies ist ein reines Arbeitszimmer.

Kürzlich war sie in Freiburg. Dort wurde ihr neustes Stück zum ersten Mal aufgeführt. So ist das mit dem Ausland. Auch ihr erster Erzählungsband wurde 1993 in Frankreich veröffentlicht und nicht in ihrer Heimat. Das Feuilleton in Russland mag sie nicht besonders. Sie ist so schwer einzuordnen und pflegt einen leichten, modernen Ton in ihrer Literatur, den die Traditionshüter des Schwermuts irritierend finden.
Das Stück, das jetzt in Freiburg zu sehen ist, hat sie ebenfalls im Literarischen Colloquium geschrieben.

"Es ist mein intimer Dialog mit Anton Tschechow. Es ist von den drei Schwestern etwas drin, aber auch vom Kirschgarten.
Es spielt heute. Und es ist eine reine Komödie!"

Die Datsche im Kirschgarten soll verkauft werden.
Sie ist auch schon in der Urenkelgeneration nach Tschechow ziemlich heruntergewirtschaftet. Alles bröckelt und fault vor sich hin. Dafür reden die Bewohner dieses alten Hauses lieber über die alten Zeiten - ja, die alten Zeiten. Wenn gar nichts mehr geht, wird Warenje eingekocht, Konfitüre – so auch der Titel des Stücks: Warenje. Vielleicht lässt sie sich ja irgendwie verkaufen. So wie noch heute alte Mütterchen an Moskauer U-Bahn-Stationen selbst Gemachtes verkaufen, weil ihre Rente erniedrigend ist. Und dann sind da noch drei Schwestern in dieser Datscha. Fürs Arbeiten sind sie sich zu fein. Sie hängen lieber den alten Zeiten nach oder träumen von etwas, was nie kommen wird.

" Das sind Leute, die mit dem Leben nicht zu Recht kommen, nicht mehr wissen was Arbeit ist, es nicht wissen wollen, Leute, die mit dem Leben von heute nichts anfangen können. Das beobachte ich schon seit der Perestroika. Für viele ist es schwierig, neue Kraft zu finden für ein neues Leben. Es erfordert sachlicheres, härteres Denken. Man muss sich mehr fordern als früher. Vor allem kann man nicht mehr auf Kosten der Gesellschaft leben. Man muss das eigen Leben in die Hände nehmen."

In Ludmila Ultitzkajas großem Freundeskreis hat jeder zweite einen neuen Beruf. Mit der neuen Zeit nach 1990 hat sie nur zwei ihrer alten Freunde verloren, ihre Freundschaften sagt sie, sind alt und basieren auf tieferen Grundlagen als dass sie durch die Politik Schaden nehmen könnten.

"Ich behaupte nicht, dass das Leben heute einfach ist, natürlich ist es schwer. aber man kann in ihm bestehen – ohne das Gesicht zu verlieren. "

Anfang der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, das mit unerhörtem, geradezu obszönem Pomp verabschiedet wurde, gerieten viele Intellektuelle in große Schwierigkeiten.

Alle Dogmen waren schwer angeschlagen. Viele Menschen drohten unterzugehen. So mancher ertrank auch, aber etliche lernten schwimmen, und einige gingen sogar auf große Fahrt.

Damit beginnt eine der Erzählungen in dem 2003 erschienen Band "Die Lügen der Frauen". Ludmila Ulitzkaja ist damit groß geworden, vom Staat nichts zu erwarten und wenn, dann eher das Negative. Ihre beiden Großväter saßen unter Stalin im Gulag, sie selbst war lange Genetikerin an der sowjetischen Akademie der Künste, wo man sie Ende der 60er entließ, weil sie mithalf, Samisdat-Literatur zu verbreiten. Also jene Texte, die vor der Zensur verborgen blieben und keinen staatlichen Verlag finden konnten.

Das Ende der Sowjetunion empfand sie als Erleichterung. Das war auch die Zeit, als sie anfing zu schreiben. Da war sie Anfang 40. Sie sagt, die politischen Umstände seien für ihr Schreiben weniger wichtig gewesen. Viel mehr das ende der Lehrjahre seit ihrer Entlassung als Wissenschaftlerin, seit ihrer Arbeit an Theatern - als Autorin von Kinderstücken - und nicht zuletzt als Mutter von zwei erwachsenwerdenden Söhnen und: Tochter einer sterbenden Mutter, die sie lange gepflegt hat. Und doch sind es die politischen Umstände, die sie jetzt zu einer der erfolgreichsten Autorinnen Russlands werden ließen. In der Sowjetunion hätte kein Verlag sie genommen.

"Für mich war der Fall des Kommunismus, das Ende dieser Ideologie von allergrößter Bedeutung. Viele meiner Landsleute interessiert das aber wenig. Die Leute erinnern sich lieber daran, wie viel 100 g Wurst früher gekostet haben und wie viel heute. "

Bei diesem Vergleich kann der Kapitalismus natürlich kaum bestehen. So viel hat sich geändert, aber viele, so sagt Ludmila Ulitzkaja, knüpfen gerade an die alten Traditionen ihres Landes an. Und die Politik von Vladimir Putin nutzt das aus, will man hinzufügen. Gerade beim Blick auf die Siegesfeierlichkeiten am 9. Mai, dem einzigen nichtreligiösen Feiertag, der aus Sowjetzeiten erhalten wurde. An diesem Tag spürt man das tiefe Empfinden vieler Russen, eine Weltmacht zu sein, die so viel Heldenhaftes vollbracht hat, dass die Welt ihr bis heute tiefen Respekt zu zollen hat.

"Auch die heutige Regierung versucht, eine alte imperiale Größe hochzuhalten. Aber das ist vorbei! Es ist gefährlich, dem nachzuhängen! Doch so viele lassen sich davon heute noch beeindrucken. Der erste Mensch im all ein Russe, unsere Atombombe, unsere Raumfahrt… So viele lassen sich davon noch heute beeindrucken. Doch die beste Gesellschaft ist nicht imperial - sondern die beste ist die, die die Schwachen schützt, die die Behinderten in Würde leben lässt, die die Renten rechtzeitig zahlt."

Doch Russlands Politiker – allen voran Putin – lieben die Selbstdarstellung, sagt Ludmila Ulitzkaja. Und dies trotz der gigantischen sozialen Probleme. Ludmila Ulitzkajas Gewissen geht dabei sehr weit. Ihr werde schlecht, wenn sie bei offiziellen Empfängen die Tische sich biegen sieht. Mineralwasser und Kekse würden doch völlig ausreichen. Man glaubt es ihr, wenn man sieht, wie spartanisch sie auch hier, im Literarischen Colloquium am Berliner Wannsee wohnt. Was zählt, ist ihr aufgeschlagenes Laptop und ihr Text. Mehr nicht. Dort hat sie auch die Erzählungen reingetippt, die sie in Deutschland berühmt gemacht haben: Die Lügen der Frauen.

Geschichten über Illusionen, über den Versuch, die Wirklichkeit nicht so zu nehmen, wie sie leider ist, sondern einem Traum nachzuhängen. Einem von dem man hofft, dass er Teil der Wirklichkeit wird. Ludmila Ulitzkajas Hauptperson ist Shenja, eine Wissenschaftlerin, die in den Journalismus gewechselt ist. Eine Frau, die immer Zeit für andere hat, ihre Geschichten hört, von ihnen beeindruckt ist und erst spät merkt, dass die meisten erfunden sind. Da ist etwa Ireen, die sagt, eine Kartenlegerin hätte ihr ihre gesamte Lebensgeschichte vorausgesagt und so treffe sie auch ein.

Shenja überlegte eine Weile und fragte dann: "Das heißt, du weißt immer, wie es ausgeht? Ist das nicht langweilig?"
Ireen hob ihre gelben Augenbrauen.

"Langweilig? Du hast ja keine Ahnung. O nein, keine Spur langweilig. Ach, wenn ich dir erzählen würde…"

Ireen behauptet, vier ihrer Kinder verloren zu haben. Eine mit allen Einzelheiten erzählte dramatische Geschichte, mit der sie auch Shenja beeindruckt, obwohl sie nicht stimmt.

Am Ende der Geschichte ist die Lüge dieser Frau auch ihre Stärke. Es ist ein Spiel mit der Macht der Erzählung. Man spürt als Leser fast eine diebische Freude der Autorin über die unbändige Fantasie ihrer Protagonistinnen.

"In Russland leben tolle Frauen. In den letzten hundert Jahren der russischen Geschichte haben Männer Kriege geführt; erklärte, nicht erklärte Kriege. Das Gleichgewicht zwischen den Geschlechtern ist gestört. Die Männer sterben und die Last der Probleme liegt auf den Schultern der Frauen. Das hat die Charaktere dieser Frauen geformt: sie sind die Basis der Nation. Trotzdem: bis heute finden sich kaum Frauen auf Führungsebenen. Es gilt immer noch eine fast chauvinistische Tradition."

Ihr nächstes Buch, das im August erscheint, handelt von einem schwachen Mann. Schurik. Ergebenst, ihr Schurik – so unterschreibt er immer seine Briefe und so heißt auch der Titel des Buches. Ein Mann, der nur mit Mutter und Großmutter groß geworden ist. Ein Mann, der nur um das Wohl der ihn umgebenden Frauen besorgt ist und dabei sein Gesicht verliert.

Eine traurige Geschichte, sagt Ludmila Ulitzkaja.