Wie im Nebel

21.01.2009
In ihrem neuen Roman, dessen Titel aus einem Lamartine-Epos stammt, beschreibt uns die Französin Marie NDiaye die beklemmende Welt eines Lehrerehepaars, das plötzlich geschnitten, beschimpft und angegriffen wird und den Grund dafür nie erfährt.
Marie NDiaye, geboren 1967 in Pithiviers, hält sich nicht lange bei der Vorrede auf, sie geht hier gleich in medias res, wir wissen sofort, was Sache ist. Hier wird nichts, hier ist etwas; sie beschreibt den Stand der Dinge, von dem sie aus- und zurückgeht.

Es ist eine beklemmende Welt, die sie dann beschreibt. Sie macht das sehr genau und schmerzhaft, oft genug deprimierend. Der erste Satz heißt: "Angefangen hat es mit dem Eindruck, dass man mich manchmal schief ansieht."

Das scheint eine schlichte Mobbing-Geschichte zu werden. Nadia und ihr Mann mit dem hübschen Namen Ange (Engel), Grundschullehrer beide, werden plötzlich geschnitten, schief angeguckt und beschimpft, nicht nur das, Ange wird sogar lebensgefährlich verletzt, eines Tages kommt er mit einem tiefen Loch im Bauch nach Hause.

Die Wunde entzündet sich und schwärt, bald wird der Fäulnisgeruch im Schlafzimmer unerträglich. Verzweifelt verfallen sie ins Grübeln, was wohl der Grund für das Verhalten ihrer Umgebung sein mag, selbst ihre kleinen Schüler gehen ihnen verlegen aus dem Weg, dabei liebt das Ehepaar seine Arbeit über alles. Aber ist ihre Leidenschaft für die Schule vielleicht zu groß, ist sie womöglich "hochmütig"?

Zu allem Überfluss muss sich Nadia auch noch mit einem Nachbarn herumschlagen, der sich ihnen aufdrängt, ungemein wohlschmeckende, aber fette Sachen für sie kocht (Nadia wird immer dicker), und sich schließlich als berühmter Schriftsteller herausstellt, bei dessen Erwähnung die Frauen glänzende Augen kriegen.

Nadia kannte ihn nicht. Sie haben keinen Fernseher und keine Zeitung, und wenn sie Radio hören, dann Jazz- oder Klassiksendungen. Leute, die sich derart abkapseln, sind nicht gern gelitten, schnell wirft man ihnen Hochnäsigkeit und Anmaßung vor.

Aber kein Rauch ohne Feuer, sagt man, Marie NDiaye liefert uns eigentlich weniger die Analyse einer Gesellschaft, sondern eher die Analyse einer Seele. Nadia (etwa eine Art Anagramm zu NDiaye?), die Ich-Erzählerin, leidet natürlich unter den geheimnisvollen Vorwürfen ("Sie wissen doch, dass Leute wie Sie nicht gerade wohl angesehen sind …"), sie hat regelrechte Paranoia-Anwandlungen, aber ihre Verachtung für alle Kleinbürger wächst, genau wie ihr Geiz.

"Mein Herz in der Enge schlägt in meiner Brust", so heißt es in Lamartines Versepos "Jocelyn". Für andere, so hat man schon festgestellt, schlägt es bei Nadia aber nicht, nur für sie selbst. Sie ist erst eine bemitleidenswerte, dann eher abschreckende, am Schluss vor allem rätselhafte Heldin.

Das soll so sein, Marie NDiaye entzieht uns den festen Boden, man weiß nicht, ob die Fleischfetzen, die eines Tages an Nadias Mantel hängen, womöglich Stücke aus Anges Bauch sind, man weiß nicht, ob die Stadt Bordeaux, in der dieses Vexierrätsel spielt, tatsächlich eine handelnde Rolle übernimmt, man weiß nicht, was wahr und was fantasiert ist.

Wir, die gepackten und irritierten Leser, fühlen uns wie in diesem Nebel, der Bordeaux und Nadia einhüllt, wie in dieser "weißen Finsternis". Aber wir tasten uns immer weiter.

Rezensiert von Peter Urban-Halle

Marie NDiaye: Mein Herz in der Enge,
Roman, Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer,
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2008,
285 Seiten, 22,80 Euro