Wie Europa erfolgreich absteigen kann
Länder wie Indien, Brasilien und Südafrika boomen, der Westen verliert an Einfluss: Der Politikwissenschaftler Eberhard Sandschneider erklärt im Interview, wie Europa seinen Abstieg gestalten sollte - und was wir von den Chinesen lernen können.
Liane von Billerbeck: Bergsteiger wissen das: Eine Gipfelbesteigung ist erst dann erfolgreich abgeschlossen, wenn man die Aussicht genossen, ein paar Schritte seitwärts gegangen ist, um die anderen vorbeizulassen, die auch nach oben wollen, und dann erfolgreich nach unten abgestiegen ist und endlich wieder festen Boden unter den Füßen hat. Dieses Bild nutzt Eberhard Sandschneider in seinem Buch des Öfteren. Er ist Direktor des Forschungsinstituts der Gesellschaft für Auswärtige Politik, war als China-Experte schon des Öfteren bei uns, und jetzt ist er hier zu Gast, weil er über den erfolgreichen Abstieg Europas geschrieben hat. Willkommen!
Eberhard Sandschneider: Schönen guten Morgen!
von Billerbeck: Ein mildes Scheitern gilt unter Psychologen als die gesündeste Art, ein Menschenleben zu führen, aber gleich der Abstieg eines ganzen Kontinents – was soll daran verlockend sein?
Sandschneider: Die Alternative wird uns wahrscheinlich gar nicht erspart bleiben. Und wir beobachten es ja praktisch tagtäglich: Der Aufstieg Chinas, Indiens, Brasiliens, Südafrikas, das ist in unser aller Munde, das hat aber bestimmte Konsequenzen. Und die erste Konsequenz heißt, dass ist kein Grund, jetzt in Trauer zu verfallen, weil Europa geht es immer noch ausgesprochen gut. Bei allen Schwierigkeiten, die wir haben, die Menschen in Europa leben sicherer und auf einem deutlich höheren Niveau im Schnitt als in irgendeiner anderen Weltregion, da kann man vielleicht sogar die USA dazurechnen. Das zu erhalten – Frieden zu erhalten und die große Leistung Europas zu erhalten, auch wenn man relativ gesehen an Macht verliert –, das ist eine der wichtigsten Herausforderungen für Europa zu Beginn des 21. Jahrhunderts.
von Billerbeck: Derzeit sind ja noch viele deutsche Politiker, allen voran die Bundeskanzlerin, dabei, uns eins ums andere Mal zu sagen, Deutschland sei gut, aber zumindest besser als andere durch die Krise gekommen. Sie haben es eben auch noch mal erwähnt – die deutschen Stärken hätten sich bewährt. Ist das schon ein Zeichen von Abstieg, wenn die starke Wirtschaftsmacht Deutschland mitten in Europa gelegen das tut, was sie immer gemacht hat?
Sandschneider: Ja, das ist zumindest der Versuch, das zu erhalten, was wir uns in den letzten 60 Jahren erarbeitet haben. Für mich war es ein treibender Gedanke, einzuarbeiten in diese Überlegungen, wie in anderen Teilen der Welt gedacht wird, und da spielt das überhaupt keine Rolle. Politische Eliten in Asien, auch in Lateinamerika, denken völlig anders über die künftige Weltordnung. Da spielt Europa keine Rolle. Wir sind gut beraten, aus dieser Nabelschau, was wir alles können und wie toll wir sind, herauszukommen. In anderen Teilen der Welt sagen die Leute: Wir können das auch, wir machen es anders, wir brauchen Europas Rat nicht mehr. Und sie verbitten sich diesen Rat mittlerweile sogar.
von Billerbeck: Sie bringen in Ihrem Buch immer das Beispiel vom Truthahn, der immer gut gefüttert wurde, arglos war – denn er bekam ja immer seine Körner –, und dann ein paar Tage vorm Erntedankfest merkt er, dass er sich geirrt hat, er wird nämlich geschlachtet. Wie weit entfernt ist denn Europa von der Schlachtbank?
Sandschneider: Na ja, wollen wir nicht hoffen, das Europa schon vor der Schlachtbank steht, aber dieses kleine Beispiel des Truthahns verdeutlicht natürlich, was uns in den letzten Jahren und Jahrzehnten zum Teil im Positiven dann auch passiert ist: Wir reden jetzt von dem Arabischen Frühling, aber heute vor einem Jahr hätte niemand von uns gewagt, das vorauszusagen, was in den arabischen Ländern in diesem Jahr passiert ist. Vor 20 Jahren hätte wahrscheinlich Anfang Oktober noch niemand gewagt, vorauszusagen, dass am 9. November die Mauer fällt. Das ist etwas, was internationale Politik in wachsendem Maße kennzeichnet. Es sind gar nicht die großen, die riesigen Ereignisse, sondern manchmal sind es ganz, ganz kleine Dinge, die plötzlich eine gewaltige Dynamik entfalten und Politik vor völlig neue Voraussetzungen stellen. Ich sage Ihnen gerne: Wer kennt schon den Namen Mohamed Bouazizi? Das ist der Mann, der sich in Tunesien verbrannt hat und eine ganze Weltregion buchstäblich in Brand gesetzt hat. Mit solchen kleinen, feinen Überraschungen, die gewaltige Effekte haben, werden wir uns in Zukunft immer stärker auseinandersetzen müssen.
von Billerbeck: Sie haben den Tag auch schon erwähnt, der 3. Oktober war gestern – der Tag, als die DDR der BRD beitrat, als Tag der deutschen Einheit wurde er gefeiert. 89, 90, das war so ein Epochenbruch, also keine kleine Sache, das Ende des Kalten Krieges und die Hoffnung auf Demokratie und Frieden allerorten, weil wir mussten uns ja nicht mehr mit dem jeweils anderen Block bekämpfen. Nachher ist man immer schlauer, aber waren diese Hoffnungen darauf schon damals falsch?
Sandschneider: Sie sind aus heutiger Sicht verständlich, aber sie müssen heute anders gesehen werden, und das ist eines der Anliegen meines Buches: All die Großdebatten, die wir geführt haben vom Ende der Geschichte über den Kampf der Zivilisationen bis zur Zukunft Europas, ein wenig gegen den Strich zu bürsten und den Leser mitzunehmen auf eine Reise des neuen Nachdenkens über solche Dinge. Das ist, glaube ich, wichtiger, als wir es noch auf den ersten Blick einschätzen, den berühmten Schritt beiseite zu machen und dann mal anders auf die Dinge drauf zu schauen. Vor 20 Jahren war die Welt des Westens in Ordnung, alles waren blühende Träume. Das letzte Jahrzehnt – so hat meine Überlegung zu diesem Buch angefangen – war ein ausgesprochenes Jahrzehnt des Schreckens für den Westen. "A Decade from Hell" hat das amerikanische "Time Magazine" einmal getitelt. Uns ist alles um die Ohren geflogen, woran wir geglaubt haben. Sogar die Attraktivität der Superkombination Demokratie und Marktwirtschaft ist durch die Finanzkrise weltweit in Frage gestellt. Es waren eben die USA, in denen die Krise begann, die westliche Vormacht, das Paradebeispiel für ein kapitalistisches System – das wird uns alles ziemlich nachhängen in der Debatte um eine neue Weltordnung, die wie gesagt in anderen Teilen der Welt schon ganz anders und längst nicht mehr so europafreundlich geführt wird, wie wir glauben, dass das noch geschieht.
von Billerbeck: Den erfolgreichen Abstieg Europas empfiehlt Eberhard Sandschneider in seinem Buch, er ist bei uns zu Gast. Jetzt haben Sie die Diagnose getätigt, Dottore Sandschneider, müsste man sagen. Welche Therapie empfehlen Sie denn dem Patienten Europa?
Sandschneider: Also zunächst einmal stelle ich mich in diesem Buch nicht auf den Standpunkt, eine To-do-Liste zu erarbeiten, die die Bundeskanzlerin oder jeder Politiker, der es möchte, schlicht abzuarbeiten hat, weil ich recht habe, und dann wird es schon alles werden. Ich finde, man kann bestenfalls Anregungen geben, bestimmte Dinge anders zu machen, als wir sie bislang gemacht haben. Eine der Anregungen heißt: Platz machen. Das ist natürlich der Bergsteiger-Metapher entlehnt, aber schauen Sie: Wenn Frau Lagarde jetzt die Chefin des IWF wird, dann war es schon nicht so ganz einfach, sicherzustellen, dass eine Europäerin das wieder wird.
von Billerbeck: Das war knapp, ja.
Sandschneider: Das war knapp, und beim nächsten Mal wird das – ob wir es wollen oder nicht – anders laufen. Die anderen, die Aufsteiger werden dann präsentable Kandidaten haben, die werden dann auch Mehrheiten haben, die wir in wachsendem Maße international verlieren, und sie werden sich gegen uns durchsetzen, ob wir es wollen oder nicht. Da kann man sich die Frage stellen, ob Platz zu machen, kooperativ beiseite zu treten, um Friktionen zu vermeiden, nicht eine Strategie ist, die sinnvoll ist. Das schließt übrigens ein, dass wir aufhören, besserwisserisch über den ganzen Rest der Welt herzuziehen. Das allein ist eine Forderung, und die finden Sie im Buch, schwierig genug umzusetzen. Das beginnt bei der gesamten Wertethematik, setzt sich über Menschenrechte fort und endet bei den Vorschriften, die wir gerne als Good-Governance-Formulierungen in Verträge schreiben.
von Billerbeck: Dazu komme ich später noch. Erst mal die Frage: Gibt es denn Vorbilder in der Geschichte für so einen Abstieg, den Sie da voraussehen und sagen, Deutschland, Europa sollte sozusagen geplant absteigen?
Sandschneider: Also das Beispiel Großbritannien fällt mir sofort ein. Das war eine Supermacht.
von Billerbeck: Das ist aber nur ein Land. Das ist ein Land.
Sandschneider: Na ja, es ist nur ein Land, aber trotzdem. Für mich war die historische Frage ganz spannend, und die hat eigentlich nicht mit Erfolgen, sondern mit Misserfolgen zu tun. Bergsteiger wissen, dass 80 Prozent der schweren Unfälle beim Abstieg passieren. Ich habe mich gefragt: Was hat Frankreich und Großbritannien, was haben die falsch gemacht nach 1871, als Deutschland aufgestiegen ist? Das hat zu zwei verheerenden Weltkriegen geführt. Sie können aber auch die Frage stellen – und da kommt der Erfolg dann wieder ins Spiel: Was hat Großbritannien nach 1918 richtig gemacht, als die USA aufgestiegen sind? Bis heute eine funktionierende strategische Partnerschaft. Oder: Warum haben unsere Freunde in Frankreich, die wir gerne zu dem damaligen Zeitpunkt noch als Erzfeinde bezeichnet haben, bis 1951 gebraucht, um zu verstehen, dass man Deutschland besser einbindet als Deutschland auszugrenzen? Das war die Geburtsstunde der europäischen Integration mit der Gemeinschaft für Kohle und Stahl.
von Billerbeck: Sie sind ja auch China-Experte, und Sie haben eben so beiläufig gesagt, Europa müsste auch bei diesem Weg, wenn es absteigt, auf bestimmte Werte verzichten: Menschenrechte, Demokratie et cetera. Heißt das dann, wir steigen ab und werden so eine Art moderateres China?
Sandschneider: Nein, nein, nein. Wir sollten nicht auf unsere Werte verzichten. Wir sollten nur darauf verzichten, sie anderen vorzuschreiben auf Gedeih und Verderb, ohne dass wir sie selbst einhalten. Glaubwürdigkeit bei Wertepolitik einzuhalten, ist, glaube ich, eines der höchsten Güter. Und dieses Gut verletzen wir eigentlich kontinuierlich.
von Billerbeck: Sie meinen Guantanamo und Abu Ghraib beispielsweise?
Sandschneider: Ich meine Guantanamo und Abu Ghraib, ich meine aber auch die Frage, die Sie sofort in Menschenrechtsdiskussionen mit Chinesen mittlerweile süffisant auf den Tisch bekommen: Wieso Libyen und nicht Syrien? Und was ist eigentlich hinter diesen ganzen politischen Anstrengungen von Frankreich und Großbritannien, wieder einmal einen Krieg zu führen, den man gerne in die Kiste packen kann, der Westen gegen die islamische Welt? Also da sind manche Verwerfungen zu beobachten, wo die Glaubwürdigkeit des Westens leidet. Selbstverständlich sollten wir unsere Werte nicht aufgeben, aber die Attraktivität dieser Werte wird dadurch gefährdet, dass wir sie unglaubwürdig durch die Welt tragen. Und das tun wir in viel zu großem Maße.
von Billerbeck: Von wem können wir denn lernen bei diesem Abstieg? Aus welcher Weltregion können wir lernen?
Sandschneider: Ich glaube, man kann eine Menge von China lernen. Nicht inhaltlich ...
von Billerbeck: ... sagt der China-Experte!
Sandschneider: Sagt der China-Experte. Nicht inhaltlich, sondern handwerklich. China ist seit 30 Jahren unterwegs mit einer Politik, die hochpragmatisch ist, die darauf ausgerichtet ist, Probleme zu lösen und nicht große Ideologien einzuhalten. Alles, was mal ideologisch war ...
von Billerbeck: Den Preis dafür zahlen aber in China viele Menschen, also ...
Sandschneider: Ja, der Preis ist das, was wir beobachten. Aber unter dem Strich heißt es: In China geht es jedem Chinesen am Ende des Jahres ökonomisch zumindest besser als am Anfang. Den Reichen sehr viel besser, den Ärmsten zehn Prozent doch immerhin noch mit einem Zuwachs von etwas mehr als 30 Prozent. Die Menschenrechtsfrage steht auf einem anderen Blatt, aber ökonomisch ist das eine Erfolgsgeschichte, die dadurch funktioniert, dass man ganz pragmatisch Schritt für Schritt vorangeht und sagt: Funktioniert es? Funktioniert es nicht? Wenn es nicht funktioniert, wird es anders gemacht. Das ist etwas, was man gerade in der jetzigen Euro-Diskussion, glaube ich, auch in Europa sehr gut nachvollziehen könnte, wenn man denn bereit wäre, es zu tun, und es den Menschen zu erklären. Da tun sich gewählte Politiker naturgemäß schwer.
von Billerbeck: Der Untertitel Ihres Buches heißt "Heute Macht abgeben, um morgen zu gewinnen". Wie können wir denn sicher sein, dass wir wieder aufsteigen, wenn wir abgestiegen sind?
Sandschneider: Sicher sein kann da niemand, weil die zeitlichen Dimensionen sind gewaltig. Um das noch einmal am Beispiel Chinas zu verdeutlichen: China war ein halbes Jahrhundert, bevor Christopher Kolumbus einen Fehler gemacht hat und Amerika entdeckt hat, obwohl er glaubte, in Indien zu sein, längst da, wo technologische Führungsmächte sind, hatte eine gewaltige Hochseeflotte und Ähnliches mehr und war technologisch in jeder Beziehung führend. Das ist 600 Jahre her. So lange war China im Abstieg. Und jetzt steigt China wieder auf – die letzten 300 Jahre. Das mag uns Europäern unglaublich komisch vorkommen, aber in Asien sagen führende Köpfe: Das war eine Entgleisung der Weltgeschichte. So sieht man uns in Europa aus asiatischer Perspektive. So, und abzusteigen heißt natürlich nicht, in Sack und Asche zu gehen. Europa ist nach wie vor eine unglaubliche Erfolgsgeschichte, und es gibt keine Veranlassung, da den Kopf in den Sand zu stecken, wohl aber wird Europa lernen müssen, dass wir nicht mehr die Weltpolitik so diktieren, wie wir es in den letzten 60 Jahren zum Teil auch im Konflikt des Ost-West-Konfliktes getan haben.
von Billerbeck: Das sagt Eberhard Sandschneider, Direktor des Forschungsinstitut der deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Sein Buch "Der erfolgreiche Abstieg Europas" wird heute Abend im FAZ-Gebäude 18 Uhr vorgestellt im Gespräch mit dem SPD-Europapolitiker Martin Schulz. Danke für das Gespräch!
Sandschneider: Bitte sehr!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Eberhard Sandschneider: Schönen guten Morgen!
von Billerbeck: Ein mildes Scheitern gilt unter Psychologen als die gesündeste Art, ein Menschenleben zu führen, aber gleich der Abstieg eines ganzen Kontinents – was soll daran verlockend sein?
Sandschneider: Die Alternative wird uns wahrscheinlich gar nicht erspart bleiben. Und wir beobachten es ja praktisch tagtäglich: Der Aufstieg Chinas, Indiens, Brasiliens, Südafrikas, das ist in unser aller Munde, das hat aber bestimmte Konsequenzen. Und die erste Konsequenz heißt, dass ist kein Grund, jetzt in Trauer zu verfallen, weil Europa geht es immer noch ausgesprochen gut. Bei allen Schwierigkeiten, die wir haben, die Menschen in Europa leben sicherer und auf einem deutlich höheren Niveau im Schnitt als in irgendeiner anderen Weltregion, da kann man vielleicht sogar die USA dazurechnen. Das zu erhalten – Frieden zu erhalten und die große Leistung Europas zu erhalten, auch wenn man relativ gesehen an Macht verliert –, das ist eine der wichtigsten Herausforderungen für Europa zu Beginn des 21. Jahrhunderts.
von Billerbeck: Derzeit sind ja noch viele deutsche Politiker, allen voran die Bundeskanzlerin, dabei, uns eins ums andere Mal zu sagen, Deutschland sei gut, aber zumindest besser als andere durch die Krise gekommen. Sie haben es eben auch noch mal erwähnt – die deutschen Stärken hätten sich bewährt. Ist das schon ein Zeichen von Abstieg, wenn die starke Wirtschaftsmacht Deutschland mitten in Europa gelegen das tut, was sie immer gemacht hat?
Sandschneider: Ja, das ist zumindest der Versuch, das zu erhalten, was wir uns in den letzten 60 Jahren erarbeitet haben. Für mich war es ein treibender Gedanke, einzuarbeiten in diese Überlegungen, wie in anderen Teilen der Welt gedacht wird, und da spielt das überhaupt keine Rolle. Politische Eliten in Asien, auch in Lateinamerika, denken völlig anders über die künftige Weltordnung. Da spielt Europa keine Rolle. Wir sind gut beraten, aus dieser Nabelschau, was wir alles können und wie toll wir sind, herauszukommen. In anderen Teilen der Welt sagen die Leute: Wir können das auch, wir machen es anders, wir brauchen Europas Rat nicht mehr. Und sie verbitten sich diesen Rat mittlerweile sogar.
von Billerbeck: Sie bringen in Ihrem Buch immer das Beispiel vom Truthahn, der immer gut gefüttert wurde, arglos war – denn er bekam ja immer seine Körner –, und dann ein paar Tage vorm Erntedankfest merkt er, dass er sich geirrt hat, er wird nämlich geschlachtet. Wie weit entfernt ist denn Europa von der Schlachtbank?
Sandschneider: Na ja, wollen wir nicht hoffen, das Europa schon vor der Schlachtbank steht, aber dieses kleine Beispiel des Truthahns verdeutlicht natürlich, was uns in den letzten Jahren und Jahrzehnten zum Teil im Positiven dann auch passiert ist: Wir reden jetzt von dem Arabischen Frühling, aber heute vor einem Jahr hätte niemand von uns gewagt, das vorauszusagen, was in den arabischen Ländern in diesem Jahr passiert ist. Vor 20 Jahren hätte wahrscheinlich Anfang Oktober noch niemand gewagt, vorauszusagen, dass am 9. November die Mauer fällt. Das ist etwas, was internationale Politik in wachsendem Maße kennzeichnet. Es sind gar nicht die großen, die riesigen Ereignisse, sondern manchmal sind es ganz, ganz kleine Dinge, die plötzlich eine gewaltige Dynamik entfalten und Politik vor völlig neue Voraussetzungen stellen. Ich sage Ihnen gerne: Wer kennt schon den Namen Mohamed Bouazizi? Das ist der Mann, der sich in Tunesien verbrannt hat und eine ganze Weltregion buchstäblich in Brand gesetzt hat. Mit solchen kleinen, feinen Überraschungen, die gewaltige Effekte haben, werden wir uns in Zukunft immer stärker auseinandersetzen müssen.
von Billerbeck: Sie haben den Tag auch schon erwähnt, der 3. Oktober war gestern – der Tag, als die DDR der BRD beitrat, als Tag der deutschen Einheit wurde er gefeiert. 89, 90, das war so ein Epochenbruch, also keine kleine Sache, das Ende des Kalten Krieges und die Hoffnung auf Demokratie und Frieden allerorten, weil wir mussten uns ja nicht mehr mit dem jeweils anderen Block bekämpfen. Nachher ist man immer schlauer, aber waren diese Hoffnungen darauf schon damals falsch?
Sandschneider: Sie sind aus heutiger Sicht verständlich, aber sie müssen heute anders gesehen werden, und das ist eines der Anliegen meines Buches: All die Großdebatten, die wir geführt haben vom Ende der Geschichte über den Kampf der Zivilisationen bis zur Zukunft Europas, ein wenig gegen den Strich zu bürsten und den Leser mitzunehmen auf eine Reise des neuen Nachdenkens über solche Dinge. Das ist, glaube ich, wichtiger, als wir es noch auf den ersten Blick einschätzen, den berühmten Schritt beiseite zu machen und dann mal anders auf die Dinge drauf zu schauen. Vor 20 Jahren war die Welt des Westens in Ordnung, alles waren blühende Träume. Das letzte Jahrzehnt – so hat meine Überlegung zu diesem Buch angefangen – war ein ausgesprochenes Jahrzehnt des Schreckens für den Westen. "A Decade from Hell" hat das amerikanische "Time Magazine" einmal getitelt. Uns ist alles um die Ohren geflogen, woran wir geglaubt haben. Sogar die Attraktivität der Superkombination Demokratie und Marktwirtschaft ist durch die Finanzkrise weltweit in Frage gestellt. Es waren eben die USA, in denen die Krise begann, die westliche Vormacht, das Paradebeispiel für ein kapitalistisches System – das wird uns alles ziemlich nachhängen in der Debatte um eine neue Weltordnung, die wie gesagt in anderen Teilen der Welt schon ganz anders und längst nicht mehr so europafreundlich geführt wird, wie wir glauben, dass das noch geschieht.
von Billerbeck: Den erfolgreichen Abstieg Europas empfiehlt Eberhard Sandschneider in seinem Buch, er ist bei uns zu Gast. Jetzt haben Sie die Diagnose getätigt, Dottore Sandschneider, müsste man sagen. Welche Therapie empfehlen Sie denn dem Patienten Europa?
Sandschneider: Also zunächst einmal stelle ich mich in diesem Buch nicht auf den Standpunkt, eine To-do-Liste zu erarbeiten, die die Bundeskanzlerin oder jeder Politiker, der es möchte, schlicht abzuarbeiten hat, weil ich recht habe, und dann wird es schon alles werden. Ich finde, man kann bestenfalls Anregungen geben, bestimmte Dinge anders zu machen, als wir sie bislang gemacht haben. Eine der Anregungen heißt: Platz machen. Das ist natürlich der Bergsteiger-Metapher entlehnt, aber schauen Sie: Wenn Frau Lagarde jetzt die Chefin des IWF wird, dann war es schon nicht so ganz einfach, sicherzustellen, dass eine Europäerin das wieder wird.
von Billerbeck: Das war knapp, ja.
Sandschneider: Das war knapp, und beim nächsten Mal wird das – ob wir es wollen oder nicht – anders laufen. Die anderen, die Aufsteiger werden dann präsentable Kandidaten haben, die werden dann auch Mehrheiten haben, die wir in wachsendem Maße international verlieren, und sie werden sich gegen uns durchsetzen, ob wir es wollen oder nicht. Da kann man sich die Frage stellen, ob Platz zu machen, kooperativ beiseite zu treten, um Friktionen zu vermeiden, nicht eine Strategie ist, die sinnvoll ist. Das schließt übrigens ein, dass wir aufhören, besserwisserisch über den ganzen Rest der Welt herzuziehen. Das allein ist eine Forderung, und die finden Sie im Buch, schwierig genug umzusetzen. Das beginnt bei der gesamten Wertethematik, setzt sich über Menschenrechte fort und endet bei den Vorschriften, die wir gerne als Good-Governance-Formulierungen in Verträge schreiben.
von Billerbeck: Dazu komme ich später noch. Erst mal die Frage: Gibt es denn Vorbilder in der Geschichte für so einen Abstieg, den Sie da voraussehen und sagen, Deutschland, Europa sollte sozusagen geplant absteigen?
Sandschneider: Also das Beispiel Großbritannien fällt mir sofort ein. Das war eine Supermacht.
von Billerbeck: Das ist aber nur ein Land. Das ist ein Land.
Sandschneider: Na ja, es ist nur ein Land, aber trotzdem. Für mich war die historische Frage ganz spannend, und die hat eigentlich nicht mit Erfolgen, sondern mit Misserfolgen zu tun. Bergsteiger wissen, dass 80 Prozent der schweren Unfälle beim Abstieg passieren. Ich habe mich gefragt: Was hat Frankreich und Großbritannien, was haben die falsch gemacht nach 1871, als Deutschland aufgestiegen ist? Das hat zu zwei verheerenden Weltkriegen geführt. Sie können aber auch die Frage stellen – und da kommt der Erfolg dann wieder ins Spiel: Was hat Großbritannien nach 1918 richtig gemacht, als die USA aufgestiegen sind? Bis heute eine funktionierende strategische Partnerschaft. Oder: Warum haben unsere Freunde in Frankreich, die wir gerne zu dem damaligen Zeitpunkt noch als Erzfeinde bezeichnet haben, bis 1951 gebraucht, um zu verstehen, dass man Deutschland besser einbindet als Deutschland auszugrenzen? Das war die Geburtsstunde der europäischen Integration mit der Gemeinschaft für Kohle und Stahl.
von Billerbeck: Sie sind ja auch China-Experte, und Sie haben eben so beiläufig gesagt, Europa müsste auch bei diesem Weg, wenn es absteigt, auf bestimmte Werte verzichten: Menschenrechte, Demokratie et cetera. Heißt das dann, wir steigen ab und werden so eine Art moderateres China?
Sandschneider: Nein, nein, nein. Wir sollten nicht auf unsere Werte verzichten. Wir sollten nur darauf verzichten, sie anderen vorzuschreiben auf Gedeih und Verderb, ohne dass wir sie selbst einhalten. Glaubwürdigkeit bei Wertepolitik einzuhalten, ist, glaube ich, eines der höchsten Güter. Und dieses Gut verletzen wir eigentlich kontinuierlich.
von Billerbeck: Sie meinen Guantanamo und Abu Ghraib beispielsweise?
Sandschneider: Ich meine Guantanamo und Abu Ghraib, ich meine aber auch die Frage, die Sie sofort in Menschenrechtsdiskussionen mit Chinesen mittlerweile süffisant auf den Tisch bekommen: Wieso Libyen und nicht Syrien? Und was ist eigentlich hinter diesen ganzen politischen Anstrengungen von Frankreich und Großbritannien, wieder einmal einen Krieg zu führen, den man gerne in die Kiste packen kann, der Westen gegen die islamische Welt? Also da sind manche Verwerfungen zu beobachten, wo die Glaubwürdigkeit des Westens leidet. Selbstverständlich sollten wir unsere Werte nicht aufgeben, aber die Attraktivität dieser Werte wird dadurch gefährdet, dass wir sie unglaubwürdig durch die Welt tragen. Und das tun wir in viel zu großem Maße.
von Billerbeck: Von wem können wir denn lernen bei diesem Abstieg? Aus welcher Weltregion können wir lernen?
Sandschneider: Ich glaube, man kann eine Menge von China lernen. Nicht inhaltlich ...
von Billerbeck: ... sagt der China-Experte!
Sandschneider: Sagt der China-Experte. Nicht inhaltlich, sondern handwerklich. China ist seit 30 Jahren unterwegs mit einer Politik, die hochpragmatisch ist, die darauf ausgerichtet ist, Probleme zu lösen und nicht große Ideologien einzuhalten. Alles, was mal ideologisch war ...
von Billerbeck: Den Preis dafür zahlen aber in China viele Menschen, also ...
Sandschneider: Ja, der Preis ist das, was wir beobachten. Aber unter dem Strich heißt es: In China geht es jedem Chinesen am Ende des Jahres ökonomisch zumindest besser als am Anfang. Den Reichen sehr viel besser, den Ärmsten zehn Prozent doch immerhin noch mit einem Zuwachs von etwas mehr als 30 Prozent. Die Menschenrechtsfrage steht auf einem anderen Blatt, aber ökonomisch ist das eine Erfolgsgeschichte, die dadurch funktioniert, dass man ganz pragmatisch Schritt für Schritt vorangeht und sagt: Funktioniert es? Funktioniert es nicht? Wenn es nicht funktioniert, wird es anders gemacht. Das ist etwas, was man gerade in der jetzigen Euro-Diskussion, glaube ich, auch in Europa sehr gut nachvollziehen könnte, wenn man denn bereit wäre, es zu tun, und es den Menschen zu erklären. Da tun sich gewählte Politiker naturgemäß schwer.
von Billerbeck: Der Untertitel Ihres Buches heißt "Heute Macht abgeben, um morgen zu gewinnen". Wie können wir denn sicher sein, dass wir wieder aufsteigen, wenn wir abgestiegen sind?
Sandschneider: Sicher sein kann da niemand, weil die zeitlichen Dimensionen sind gewaltig. Um das noch einmal am Beispiel Chinas zu verdeutlichen: China war ein halbes Jahrhundert, bevor Christopher Kolumbus einen Fehler gemacht hat und Amerika entdeckt hat, obwohl er glaubte, in Indien zu sein, längst da, wo technologische Führungsmächte sind, hatte eine gewaltige Hochseeflotte und Ähnliches mehr und war technologisch in jeder Beziehung führend. Das ist 600 Jahre her. So lange war China im Abstieg. Und jetzt steigt China wieder auf – die letzten 300 Jahre. Das mag uns Europäern unglaublich komisch vorkommen, aber in Asien sagen führende Köpfe: Das war eine Entgleisung der Weltgeschichte. So sieht man uns in Europa aus asiatischer Perspektive. So, und abzusteigen heißt natürlich nicht, in Sack und Asche zu gehen. Europa ist nach wie vor eine unglaubliche Erfolgsgeschichte, und es gibt keine Veranlassung, da den Kopf in den Sand zu stecken, wohl aber wird Europa lernen müssen, dass wir nicht mehr die Weltpolitik so diktieren, wie wir es in den letzten 60 Jahren zum Teil auch im Konflikt des Ost-West-Konfliktes getan haben.
von Billerbeck: Das sagt Eberhard Sandschneider, Direktor des Forschungsinstitut der deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Sein Buch "Der erfolgreiche Abstieg Europas" wird heute Abend im FAZ-Gebäude 18 Uhr vorgestellt im Gespräch mit dem SPD-Europapolitiker Martin Schulz. Danke für das Gespräch!
Sandschneider: Bitte sehr!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.