Wie erpressbar ist der Westen?

Von Wilhelm von Sternburg |
Das Bild besitzt hohe Symbolkraft: Einen Tag nach der Rückkehr der fünf bulgarischen Krankenschwestern und eines Arztes aus der jahrelangen libyschen Haft stellen sich Frankreichs Staatspräsident Sarkozy und Libyens Herrscher Gaddafi den Kameras der internationalen Presse. Der Europäer ist da mit verkniffenem Pokerface zu sehen, während der Nordafrikaner nicht einmal den Versuch macht, seinen Triumph zu verbergen.
Libyen hat von den Europäern für seine kriminelle Geiselnahme internationale Anerkennung und sehr viel Geld erhalten. Schlimm genug, aber in der Sache wohl eine unumgängliche Entscheidung, um Menschenleben zu retten. Nur einen Tag nach dem späten Happy End für die Geretteten aber reiste der französische Präsident nach Tripolis, um vor aller Welt sichtbar mit einem Politgangster Geschäfte zu machen. So etwas belegen Politiker gerne mit dem Begriff Staaträson.

So hemmungslos wie Sarkozy jedoch haben europäische Politiker in unseren Tagen selten die Maske fallen lassen. Und das Signal, das der Franzose mit seiner wohl kalkulierten Reise ausstrahlte, ist doppelt fatal. Es gab ja nicht nur Geiseln in Libyen. Irak, Afghanistan, Jemen – kaum ein Tag inzwischen, an dem nicht eine neue Geiselnahme europäischer oder amerikanischer Staatsbürger gemeldet wird. Hintergrund dieser Entführungen ist eine Mischung aus politischer und krimineller Erpressung. In Afghanistan oder im Irak sind solche Kidnapper-Aktionen für die Provinz- und Stammesführer längst zu einem lukrativen Geschäft geworden.

Die westliche Staatenwelt ist hier auf besondere Weise herausgefordert. Ihr Menschenbild, ihre Staatsverfassungen räumen dem Leben der Bürger einen hohen Stellenwert ein. So wie im Mikrokosmos der westlichen Gesellschaften die Tötung eines Menschen – selbst dann, wenn er durch verbrecherisches Handeln seine Mitmenschen gefährdet – nur in eng umschriebenen Grenzen zulässig ist, so gilt dies auch im Makrokosmos der internationalen Politik.

Der westliche Humanismus, in Jahrhunderten mühsam gewachsen und immer wieder umkämpft, ist gegenüber menschenverachtenden Geisel- und Mordaktionen, wie wir sie in diesen Tagen erleben, in einer extrem schwierigen Position. Eine tragische Situation: Hier die unverzichtbaren Werte einer demokratischen Gesellschaft, in der Würde und Leben des Einzelnen höchste Priorität besitzen, dort Söldnergruppen und religiöse Fanatiker in Regionen, in denen das Individuum keine Rolle spielt, und in denen die Staatsgewalt im allgemeinen Chaos längst zum Papiertiger geworden ist.

Die westliche Welt wird seine Werte in diesem schrecklichen Krieg nicht verraten dürfen. Der Kampf um das bedrohte Leben der Entführten muss immer mit Blick auf Rettung geführt werden. Das Hohngelächter der Erpresser darf uns dabei nicht irritieren. Aber dies kann und darf nicht bedeuten, dass wir würdelos und ebenso habgierig wie die Geiselnehmer reagieren.

Genau dies aber hat Sarkozy mit seiner Reise nach Tripolis getan. Um die Gewinnbilanzen der französischen Atomindustrie – an deren Geschäften das deutsche Weltunternehmen Siemens beteiligt ist – aufzupolieren und sich einen kräftigen Anteil an Libyens Ölpotential zu sichern, hat Frankreichs Staatspräsident den Handschlag mit einem Politgangster getan. So wie Washington, als es einst die Armee von Saddam Hussein gegen Iran aufrüstete oder die Taliban in Afghanistan gegen die Sowjets mit Geld und Gewehren positionierte. Aus einstigen Verbündeten wurde da rasch die Achse des Bösen.

Wir pochen mit Recht auf unsere westlichen Werte und blicken voller Abscheu auf die täglichen Entführungen, Hinrichtungen und Kinder und Frauen in den Tod reißenden Autobomben der Selbstmordattentäter. Und doch haben wir diese in so vielen Sonntagsreden beschworenen Werte immer wieder selbst verraten. Sarkozy hat das am Anfang seiner Amtszeit in Tripolis besonders eindrucksvoll demonstriert. Allerdings steht er da nicht allein.

Selbst die Lieferung von Atomanlagen an diktatorische und gewalttätige Regime oder gewaltige militärische Lieferungen an Staaten, deren Politik auf Gewalt und Unterdrückung ihres eigenen Volkes und ihrer Nachbarn beruht, schrecken den Westen nicht. Erst kommt das Geschäft, dann die Moral. Dafür sterben junge Amerikaner und Europäer im Irak oder am Hindukusch.

Mit Freiheit, Sicherheit oder Demokratie hat das wenig zu tun. Im Gegenteil: Moralisch werden wir auf diesem Weg die Menschen in der islamischen Welt, denen wir unsere Werte anpreisen, kaum davon überzeugen, dass wir anders sind als die Erpresser und Entführer, mit denen wir um das Leben ihrer Opfer ringen.

Wilhelm von Sternburg, geb. 1939 in Stolp (Pommern), war Fernseh-Chefredakteur des Hessischen Rundfunks in Frankfurt/Main. Er lebt jetzt überwiegend in Irland. Sternburg schrieb u.a. Biographien über Konrad Adenauer, Arnold Zweig, Lion Feuchtwanger und Erich Maria Remarque. Zuletzt erschienen von ihm die Bücher „Deutsche Republiken. Scheitern und Triumph der Demokratie“ und „Als Metternich die Zeit anhalten wollte. Unser langer Weg in die Moderne“.