"Wie eine Zwiebel"

Roman Hocke im Gespräch mit Dieter Kassel · 09.08.2010
Vor 50 Jahren erschien der Roman "Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer". Noch heute kann man in der Geschichte immer wieder Neues entdecken, sagt Roman Hocke, langjähriger Freund und Lektor des "Jim-Knopf"-Erfinders Michael Ende.
"Eine Insel mit zwei Bergen und dem tiefen weiten Meer, mit viel Tunnels und Geleisen und dem Eisenbahnverkehr. Nun, wie mag die Insel heißen? Rings herum ist schöner Strand. Jeder sollte einmal reisen in das schöne Lummerland …"

Dieter Kassel: Das Lied der Augsburger Puppenkiste zur legendären Marionetteninszenierung von "Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer". Es gibt zwei aus dem Fernsehen bekannte Versionen der Augsburger Puppenkiste, es gibt zwei Musicals, es gibt mehrere Hörspiele und diverse andere Versionen, aber all das geht natürlich zurück auf das Buch, auf den Roman "Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer". Und dieses Buch erschien zum allerersten Mal vor exakt 50 Jahren, am 9. August 1960. Wir wollen über Jim Knopf, über seine vielen Weggefährten und natürlich über seinen Erfinder Michael Ende jetzt mit Roman Hocke sprechen. Er war später dann Endes Lektor, insgesamt 17 Jahre lang, und er war bis zum Tod von Michael Ende 1995 sein Freund. Er lebt in Italien und da begrüße ich ihn jetzt am Telefon. Schönen guten Tag, Herr Hocke!

Roman Hocke: Einen schönen guten Tag!

Kassel: Wann sind Sie denn Jim Knopf und Frau Waas und König Alfons dem Viertel-vor-Zwölften und all den anderen das erste Mal begegnet?

Hocke: Na ja, ich bin ihm begegnet, wie sehr viele andere Menschen auch in meinem Alter, als Kind und das war sozusagen im Alter von sieben Jahren, acht Jahren hab ich das entdeckt und habe es gelesen und gehörte zu meinen auch wichtigen Büchern damals.

Kassel: Sie hatten eine Chance, die ich ehrlich gesagt nie hatte, Sie haben noch nicht die Bilder im Kopf gehabt glaube ich von der Augsburger Puppenkiste. Wie haben Sie sich diese Welt denn damals wirklich vorgestellt, in die Sie da eingetaucht sind?

Hocke: Na ja, also ich meine, das ist ja so angelegt, dass es ein richtiges Spiel der Fantasie ist, und man taucht in diese Welt ein und das ist eine ganz andere Welt und nimmt Anteil mit den Figuren und fiebert mit. Und man merkt, da ist etwas mehr als nur eine Handlung. Und das ist glaube ich das, was man als Kind ich in Erinnerung habe, dass es so eine sinnvolle Welt war, die einen Sinn vermittelt hat.

Kassel: Sie haben ja, um Vorträge zu halten über das Buch, über Michael Ende, um Fragen zu beantworten, bestimmt als Erwachsener immer mal wieder reingeguckt, das Buch wieder gelesen. Haben Sie da Dinge dann entdeckt, die Ihnen mit sieben, acht Jahren noch völlig unbekannt geblieben waren?

Hocke: Absolut, absolut. Ich denke, das ist auch eines dieser großen Geheimnisse des Jim Knopf, dass man es je nach Alter einfach auch neue Sachen drin sieht, sozusagen neue Schichten erkennt, so was fast wie eine Zwiebel, die man immer wieder neue Schalen sozusagen enthüllt und zu Neuem vorstößt. Und ich glaube, das ist auch das Tolle, wenn Eltern ihren Kindern das vorlesen, dann erleben die Kinder das auf eine Weise und die Eltern aber auf eine ganz andere Weise. Beide haben sie sozusagen ihr eigenes Erlebnis und das alles sozusagen von einer einzigen Geschichte vermittelt.

Kassel: Haben Sie denn später auch diese vielen vermeintlichen – Michael Ende hat ja nie, heute gerade gibt es was Neues in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", da ist ein Brief aufgetaucht, den er im Jahr 1982 einer jungen Leserin geschickt hat, wo er auch sagt, er möchte dieses Buch genau so wenig interpretieren wie andere. Aber haben Sie irgendwas von den Interpretationen, die andere jetzt hineinlesen in "Jim Knopf" da selber entdeckt? Stichwort zum Einen: ein Buch gegen den Nationalsozialismus, aber angeblich, wie manche sagen, auch ein antidarwinistisches Buch?

Hocke: Man muss wissen, dass Michael Ende sozusagen nicht ein Autor war, der einen festen Plan sich im Kopf erst einmal vorgestellt hat - möglichst detailliert und wusste, aha, das ist jetzt … diese Botschaft kann ich jetzt mit dieser Handlung am besten transportieren, und sich dann genau eine ausgeklügelte Geschichte gemacht hat. Sondern er war jemand, der sehr intuitiv, sehr assoziativ arbeitete, sehr viel auch sein Unbewusstes auch zuließ. Und man weiß – auch bei der "Unendlichen Geschichte", aber auch beim "Jim Knopf" –, dass er eigentlich sich hingesetzt hat und begonnen hat zu schreiben, ohne genau zu wissen, wohin ihn die Geschichte führt. Das Schreiben war für ihn immer ein Abenteuer. Er sagte immer, da geht es ihm um Leben und Tod, weil er nie weiß, ob er wirklich zu einem Ende dann kommt, zu einem befriedigenden. Und den "Jim Knopf" hat er auch so geschrieben, ein Satz folgte dem anderen, ein Einfall kam nach dem anderen Einfall. Und Hauptsache, es war stimmig, er achtete nur darauf, dass alles stimmig war.

Michael Ende hat auch nie eine Szene gekürzt, wie das sonst üblich ist, sondern sagte, es hat schon einen Sinn, wenn ich jetzt in diese Szene mit einfällt, deswegen beschreibe ich sie, auch wenn ich dadurch in eine Sackgasse komme. Und manchmal hat er eben zwei, drei Monate nachgedacht, bevor er überhaupt die Lösung fand, einen neuen Einfall fand, der sich stimmig aus diesem ersten hervorleitet. Was ich damit sagen will, ist, dass da während dieses Schreibprozesses sehr viel von seinen Erfahrungen, von seinen Erlebnissen, von seinen Gedanken eingeflossen ist, ist selbstverständlich. Er hat es nicht bewusst gemacht, er hat es nicht kalkuliert gemacht, sondern er hat es also sehr … unbewusst ist das hineingeflossen.

Dass er sich sehr mit Darwin auseinandergesetzt hat, das kann man sehr genau belegen. Dass er unter dem Nationalsozialismus sehr gelitten hat, das wissen wir auch aus der Biografie, auch aus der Biografie seiner Eltern. Sein Vater war ja ein surrealistischer Maler, ein fantastischer Maler, ein visionärer Maler, der auch Berufsverbot hatte und keine Farben kaufen konnte damals. Also, ich denke, man muss wissen, wie Michael Ende gearbeitet hat, um sich vorzustellen, dass eben sehr viel eben sozusagen zwischen den Zeilen eingewoben worden ist. Und natürlich auch: Er hat immer alles, was ihn persönlich betraf, wieder rausgestrichen aus seinen Manuskripten, denn er wollte nicht, dass irgendetwas aus seinem Leben in die Geschichte einfließt, dass er selber sozusagen in diese Geschichte einfließt. Er hat alles dann rausgenommen, was zu viel mit ihm selbst zu tun hatte, damit die Geschichte wirklich eine Geschichte ist, mit der sich jeder identifizieren, die losgelöst ist von seinem eigenen Leben.

Kassel: Es gibt nun einige Schriftsteller, die sagen, wenn ich anfange, ein Buch zu schreiben, dann weiß ich noch nicht, wie es enden wird. Aber war es tatsächlich bei Michael Ende so, dass der manchmal an seiner Schreibmaschine saß und zugeben musste, wenn ich anfange, diese eine Seite zu schreiben, weiß ich noch nicht, wie sie unten endet?

Hocke: Ja, also das schönste Beispiel ist ja der Einstieg in den "Jim Knopf" selber: Wenn das Paket in Lummerland ankommt und es wird geöffnet und darin befindet sich wieder ein Paket, dann wird es wieder geöffnet, es befindet sich noch mal ein Paket drin und so weiter. Und Michael Ende sagte immer, warum habe ich das gemacht: Weil ich noch nicht wusste, was in diesem Paket drin war! Und deswegen hat er sich das sozusagen von Zeile zu Zeile da aufgeschoben, bis ihm der richtige Einfall sich erst einstellte.

Kassel: Sagt Roman Hocke, lange Zeit der Weggefährte und auch eine ganze Weile Lektor von Michael Ende. Wir reden mit ihm heute in Deutschlandradio Kultur, weil heute vor genau 50 Jahren zum ersten Mal das Buch "Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer" erschienen ist. Das war ja damals nicht leicht, Herr Hocke: Mehr als ein Dutzend Verlage wollten das Manuskript nicht haben und dann wurde Michael Ende aber durch den Erfolg dieses Buches und des zweiten Teils "Jim Knopf und die Wilde 13" zu einem wahnsinnig erfolgreichen Kinderbuchautor. Aber eben auch nur das. Man hat ihn dann in die Schublade mit den Kinderbüchern gesteckt und man hat ihm gerade in den 70er-Jahren Anleitung zur Weltflucht vorgeworfen. Wie sehr hat ihn das wirklich verletzt?

Hocke: Das hat ihn sehr verletzt. Das war so schlimm, dass er überall, wo er hinkam, selbst im privaten Freundeskreis man ihm vorwarf, dass er die falsche Art von Büchern schrieb, die eben die Kinder nicht dazu brachte, sie politisch zu erziehen, um die Probleme zu erkennen dieser Welt und sie dann zu verändern – damals, müssen Sie sich vorstellen, war es eine total durchpolitisierte Gesellschaft auch –, sondern eben Fluchtliteratur. Und das hat ihn natürlich sehr betroffen, denn das ist es ja gerade nicht.

Auch wenn er Fantasiegeschichten schreibt, Michael Ende, so hat es immer einen Bezug auf einer anderen Ebene, einen sehr konkreten Bezug zu unserer Wirklichkeit. "Jim Knopf" ist zum Beispiel eine wunderschöne Utopie über ein Miteinander über alle Kulturunterschiede, Rassenunterschiede, religiöse Unterschiede hinweg und das wurde damals so nicht gesehen, sondern man warf ihm vor, das sei Weltfremdheit, weil es irgendwie weit in der Fantasie alles spiele. Es hat ihn so sehr getroffen, dass er gar nicht mehr sich künstlerisch weiterentwickeln konnte, weil er überall nur sich rechtfertigen musste für den "Jim Knopf".

Deswegen beschloss er dann an einem bestimmten Punkt, nach Italien eben zu ziehen, weil, wie er sagte, in Deutschland hatte er keine Luft mehr zum Atmen. Er war enttäuscht, dass man seine Bücher immer eigentlich missverstanden hatte. Auch die "Unendliche Geschichte" wurde dann als Fantasy-Buch, als Fantasy-Geschichte besprochen, dabei war es ja die große Antwort auf den Eskapismusvorwurf, den man ihm zum "Jim Knopf" gemacht hatte. Denn da zeigt er ja sehr deutlich, was passiert, wenn ein Junge eine fantastische Geschichte liest, buchstäblich da hineingerät und fast sich dort verliert, aber am Schluss eben mit neuem Bewusstsein zurückkommt und in der Lage ist, die Verhältnisse seiner realen Welt neu zu gestalten.

Aber Michael Ende schrieb eben, das muss man immer sehen, er hatte nicht ein klares umrissenes Zielpublikum, für das er schrieb, sondern er schrieb eigentlich für das, so nannte er das auch, für das Kind im Menschen. Und so hat er sich, diesem Kind in sich selbst hat er auch den "Jim Knopf" erzählt zum Beispiel. Und das ist eben das, was alle, die sich dieses Kind in einem selber noch bewahrt haben – einige Menschen verlieren das ja leider, aber viele können sich das bewahren –, ich glaube, das ist genau der "Jim Knopf", warum man auch als Erwachsener seine Freude hat, weil es eben alles das wieder in Erinnerung ruft, was eben dieses Kind im Menschen bestimmt, nämlich die Freude an der Verwunderung, die Freude am Staunen, die Freude an den Überraschungen und die Freude auch, ja an einer sinnvollen Welt.

Kassel: Ich glaube, Sie sind – das höre ich jetzt so ein bisschen heraus – jemand, dem das gelungen ist, sich das Kind im Erwachsenen zu bewahren. Deshalb bin ich besonders gespannt auf Ihre Antwort auf die naheliegende Frage: Was ist denn Ihre Lieblingsfigur aus den beiden "Jim Knopf"-Büchern? Von mir aus dürfen Sie zwei nennen: Eine aus der Zeit, als Sie es mit sieben das erste Mal gelesen haben, und eine von heute!

Hocke: Also, als Kind war natürlich für mich der Jim Knopf die Identifikationsfigur und ich habe mit ihm gebangt und gezittert und ich habe mich gefreut, wenn es etwas gut ging. Heute zum Beispiel finde ich eine der sehr gelungenen, sehr schönen Gestalten, die für mich auch in meinem Leben immer mehr von Bedeutung ist, ist natürlich der Riese Tur Tur, der Scheinriese.

Kassel: Ist Ihnen klar, dass Sie damit jetzt was mit Guido Westerwelle gemeinsam haben? Der hat das nämlich auch gesagt. Es ist erstaunlich, wie viele Politiker heute als Erwachsene den Scheinriesen Tur Tur als Lieblingsfigur nutzen! Das wollen wir gar nicht weiter interpretieren, zumindest nicht am heutigen Geburtstag von "Jim Knopf"! Ich danke Ihnen! Roman Hocke war das, langjähriger Lektor und Freund von Michael Ende, heute ist er übrigens Literaturagent und Vorsitzender des künstlerischen Beirats der Phantastischen Gesellschaft. Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!

Hocke: Herzlichen Dank Ihnen!

Links bei dradio.de:

"Ihm ging es um die Rettung der Fantasie" - Wieland Freund zum 80. Geburtstag des Schriftstellers Michael Ende

"Am Anfang stand eigentlich eine ganz harmlose Auffälligkeit" - "FAZ"-Redakteurin Voss über den Zusammenhang von Michael Endes Kinderbuch "Jim Knopf" und Charles Darwin