"Wie eine griechische Tragödie"
Für Dieter Lenzen, Präsident der Uni Hamburg, gibt es im Fall Schavan nur Verlierer - nicht nur die Ministerin selbst und die Universität Düsseldorf. Auch die Wissenschaft als ganze stehe da, als ob sie ein Haufen von Betrügern sei.
Katrin Heise: Anstelle des ständig geäußerten Plagiatsvorwurfs sind Anzeichen wissenschaftlichen Fehlverhaltens getreten. Diese veranlassten gestern also den Fakultätsrat der Universität Düsseldorf, ein förmliches Verfahren einzuleiten - ergebnisoffen. Anfang Februar schon trifft der Rat sich erneut, man will sicher keine Zeit unnötig verstreichen lassen.
Wie der Streit um die Doktorarbeit der Bundesbildungsministerin den wissenschaftlichen, universitären Betrieb beeinflusst, das erörtere ich nun mit dem Präsidenten der Universität Hamburg, mit dem Erziehungswissenschaftler Professor Dieter Lenzen. Schönen guten Morgen, Herr Lenzen!
Dieter Lenzen: Guten Morgen!
Heise: Wie schätzen Sie den Beschluss des Fakultätsrates ein?
Lenzen: Ich denke, dieser Beschluss ist konsequent auf der Grundlage des bisher Geschehenen, und es wird ja betont, dass er ergebnisoffen ist, das ist auch richtig so. Und nun muss geprüft werden, ob ein Verstoß gegen die damals geltende Promotionsordnung vorliegt, die ja die Benutzung anderer als angegebene Hilfsmittel nicht erlaubt. Das ist damals durch eine eidesstattliche Versicherung eingeholt worden, wobei noch zu prüfen sein wird, ob die Universität damals überhaupt berechtigt war, diese eidesstattliche Versicherung einzuholen. Denn dazu bedarf es einer Ermächtigung des Gesetzgebers, das heißt, das nordrhein-westfälische Hochschulgesetz von damals muss das enthalten haben, sonst wäre die ganze Angelegenheit nichtig. Aber das ist eine juristische Frage.
Heise: Das hört sich überhaupt sehr juristisch an, was Sie gerade gesagt haben. Ich habe das Gefühl, es geht auch jetzt also gerade in der Wortwahl, gestern auch, nicht mehr um den Vorwurf des wissentlichen Plagiierens, sondern um wissenschaftliches Fehlverhalten. Das ist ja ein Unterschied, ist das ein Abschwächen des Vorwurfs?
Lenzen: Das ist ein großer Unterschied. Denn Fehlverhalten gibt es natürlich bei allen möglichen Arten von Examensarbeiten. Wir reden ja hier nur über Dissertationen, die veröffentlicht sind, nur dadurch kann man das ja anschauen, es gibt ja Hunderttausende von anderen Arbeiten. Fehlverhalten kann auch sein, wenn man Daten fälscht, beispielsweise, oder andere Geräte benutzt, als man angegeben hat und so weiter, und sich dadurch einen Vorteil verschafft.
Hier ging es ja um die Frage, ist ein Vorteil zu Lasten einer anderen Person, die das eigentlich geschrieben hat, der Fall gewesen wie das im Fall Guttenberg war? Also, das ist inzwischen abgeschwächt, und der Vorwurf scheint nicht mehr zu existieren.
Heise: Wie nehmen Sie die Diskussion innerhalb der Wissenschaft eigentlich wahr? Teilweise wird ja von einem Entzweien, von einem Auseinanderbrechen der wissenschaftlichen Meinung gesprochen!
Lenzen: Also, ich glaube, der ganze Vorgang ist etwas wie eine griechische Tragödie: Es gibt nur Verlierer. Das eine ist die Ministerin natürlich, das andere die Universität Düsseldorf, die durch die Veruntreuung des Gutachtens damals in eine schwierige Lage geraten ist, und die Wissenschaft als ganze, die plötzlich dasteht, als ob sie ein Haufen von Betrügern sei, wo man nie genau wisse, ob das zutrifft, was der Fall gewesen zu sein scheint. Dazu gibt es natürlich überhaupt keinen Grund.
Wenn wir sehen, selbst die Fälle alle zusammenzählen, die weniger prominent sind, dann kommen Sie vielleicht auf eine Zahl unter 100, bei im Jahr über 150.000 Examen ist das einfach zu vernachlässigen. Gleichwohl haben wir die Pflicht, dafür zu sorgen, dass in dem Augenblick, wo so etwas bekannt wird, das verfolgt wird.
Und die Wissenschaft entzweit zu sehen, das glaube ich eigentlich nicht. Wir haben es natürlich auch immer mit Interessengruppen zu tun, die hier noch einmal aufeinandertreffen und sagen, hey, wir wollen aber eine Verurteilung oder das Gegenteil davon. Das muss man abwarten, das gehört einfach dazu. Entscheidend ist jetzt, dass das Verfahren sauber fortgeführt wird und es zu einer Entscheidung kommt.
Heise: Wie aus Verlierern, nämlich dem wissenschaftlichen Betrieb, vielleicht auch Gewinner werden, das können wir gleich noch mal besprechen. Das würde mich nämlich doch sehr interessieren, ob es da nicht auch Möglichkeiten gibt! Ich würde aber gerne vorher noch mal ganz kurz bei diesem Thema bleiben: Was ist Ihrer Meinung nach von dem Vorwurf zu halten, dass so manche Wissenschaftsorganisation, die sich jetzt äußert, sich doch recht zahm verhalten würde aufgrund von Abhängigkeiten? Denn immerhin handelt es sich ja um die amtierende Wissenschaftsministerin.
Lenzen: Also, das halte ich für abwegig. Es gibt keine persönlichen Abhängigkeiten zwischen den Präsidenten der Allianzorganisationen – so heißen sie ja – und der Ministerin. Es ist so, dass die Bundesregierung – diese und auch die letzte – in das Wissenschaftssystem unglaublich viel frisches Geld hineingebracht hat, sodass wir überhaupt international vergleichbar wurden, was den Anteil am Bruttoinlandsprodukt angeht. Das ist nicht zu kritisieren.
Es ist richtig, dass ein erheblicher Teil in die außeruniversitären Einrichtungen gegangen ist, in verschiedenen Wettbewerben, aber es ist natürlich nicht so, dass eine Abhängigkeit vorliegt etwa der Art, dass, wenn ihr jetzt nichts sagt, kriegt ihr demnächst kein Geld. Das ist eine absurde Idee!
Heise: Die Doktorarbeit von Annette Schavan und die weiteren Überprüfungen sind Thema hier im Deutschlandradio Kultur mit Dieter Lenzen, dem Präsidenten der Universität Hamburg. Herr Lenzen, kommen wir mal zu den Auswirkungen auf den Wissenschafts-, auf den Universitätsbetrieb! Sie haben von Verlierern gesprochen.
Man kann das ja eben auch, und das wird ja sicherlich auch zum Anlass genommen, ja, an Stellschrauben zu drehen, Prüfungsordnungen vielleicht zu überprüfen, schon nach anderen Plagiatsvorwürfen und Doktortitelentzügen der jüngsten Vergangenheit. Welche Schlüsse wurden denn tatsächlich gezogen? Im vergangenen Jahr wurden ja neue Richtlinien des wissenschaftlichen Arbeitens erlassen.
Lenzen: Also, es ist ja so, dass die Universitäten autonom sind in der Frage, wie sie ihre Regeln definieren. Das ist auch gut so, dadurch unterscheiden sich Universitäten und Hochschulen ja auch voneinander.
Insofern kann es gar keine Rahmenregelungen geben. Man kann Empfehlungen aussprechen, die Hochschulrektorenkonferenz ist im Augenblick dabei, eine solche Empfehlung zu erarbeiten, um sie ihren Mitgliedshochschulen zu geben, dass sie danach ihre Prüfungsordnung ausrichten. Das werden sie wahrscheinlich auch in einem erheblichen Maße tun, damit auch mehr Rechtssicherheit besteht und nicht eine einzelne Universität sozusagen dann in Beschuss gerät, wie das in diesem Fall so aussieht, als ob eine Universität besonders schlecht dasteht. Das ist natürlich nicht der Fall.
Heise: Gibt es eigentlich eine Überprüfung oder ein Nachdenken über die Tätigkeit der Gutachter? Denn die sind da ja auch doch sehr unter Beschuss geraten!
Lenzen: Das ist grundsätzlich richtig. Man muss allerdings sehen, bei solchen Literaturarbeiten, also anders als zum Beispiel bei einer medizinischen Laborarbeit, ist es völlig ausgeschlossen, dass ein Gutachter hergeht und Hunderte, wenn nicht Tausende von Zitaten überprüft. Dazu ist einfach keine Zeit! Ein normaler Geisteswissenschaftler wird im Jahr zwischen zehn und 20 Examensarbeiten zu bewerten haben.
Sie sehen ja jetzt schon an der Länge dieses Verfahrens, wie lange es braucht, die ganzen Zitate nachzusehen, sich die Quellen zu besorgen, Hilfskräfte loszuschicken, die in Bibliotheken gehen, Fernleihen in Gang zu bringen, um zu gucken, was steht da wirklich! Völlig ausgeschlossen! Das Wichtige ist – und ich glaube, darauf müssen wir Wert legen –, dass in der Ausbildung schon der jungen Studenten, wenn sie anfangen, in die Universität zu kommen, klargemacht wird, dass das kein Kavaliersdelikt ist, wie man richtig zitiert, wie man recherchiert, und dass das Internet keine seriöse Quelle ist, sondern immer zweifelhaft bleibt, weil man nicht weiß, wer’s reingeschrieben hat und so weiter.
Heise: Wobei ich davon ausgehe, eigentlich, dass das ja schon seit Jahrzehnten der Fall ist, dass man am Anfang seines Studiums genau das lernt!
Lenzen: Das ist unterschiedlich. Wenn Sie sich die Situation in den 70er-Jahren anschauen bezüglich der Erziehungswissenschaft beispielsweise: Das Fach ist 1970 begründet worden, war also sehr jung, war damals noch eher geisteswissenschaftlich orientiert, aber zunehmend auch erfahrungswissenschaftlich. Es gab, anders als zum Beispiel in der Germanistik, keine entfalteten Hinweise darauf, wie solche Literatur zu schreiben ist. Das war in der Germanistik, Anglistik und so weiter selbstverständlich.
Ich habe ja selber Anfang der 80er-Jahre eine große Enzyklopädie herausgegeben, wo wir diese Regeln erst erfunden haben, damit sie in dieser Enzyklopädie eingehalten wurden und exakt zitiert werden konnte. Da ist sicher ein Unterschied zu anderen Disziplinen zu sehen, aber das ändert natürlich nichts daran, dass in dem Augenblick, wo man irgendetwas abgeschrieben hat, man natürlich wissen musste, dass das nicht geht. Das scheint aber jetzt ja nicht mehr der Vorwurf zu sein.
Heise: Der Erziehungswissenschaftler Heinz-Elmar Tenorth äußerte sich hier im Programm oder äußerte die Vermutung, der Doktorvater Schavans habe die Doktorandin Schavan damals mit dieser umfangreichen Literaturarbeit, von der Sie auch schon gesagt haben, dass die eine besonders schwierige ja eigentlich ist mit dieser Literaturarbeit, eher überfordert als genügend gestützt.
Damit sind wir jetzt mal bei der Aufgabe der Doktorväter: Wie intensiv ist denn die normale Zusammenarbeit, die Unterstützung, wie intensiv kann die sein? Und hat sich das verändert in der letzten Zeit?
Lenzen: Also, es hat sich sehr verändert in den letzten 40 Jahren. Ich sage das an meinem eigenen Beispiel: Mein Doktorvater, auf die Frage, ob er mich beraten könne bei der Dissertation, gab eine ganz trockene Antwort: Wenn Sie eine Beratung brauchen, sind Sie nicht geeignet! So, da war Anfang der 70er-Jahre. Das hat sich völlig geändert, wir haben inzwischen an den meisten großen Universitäten zumindest sogenannte Graduiertenschulen. Das heißt, ein Doktorand geht selbst noch mal in einen Studiengang hinein, das ist nicht erledigt mit dem Examen davor, und wird dort von einer Gruppe von drei Personen, die auch am Ende als Gutachter auftreten können, betreut. Er oder sie muss alle drei Monate kommen, berichten über den Fortschritt der Arbeiten, darlegen, mit welchen Mitteln gearbeitet wird. Das ist eine enge Zusammenarbeit, nicht Kontrolle, sondern Zusammenarbeit, die dadurch induziert ist. Die ist natürlich sehr aufwändig.
Bisher war das deswegen auch nicht der Fall, weil in den meisten Bundesländern diese Arbeit nicht gewertet wird als Lehrtätigkeit. Das Land Hamburg ist, glaube ich, jetzt das erste, was die Doktorandenstudien auch selbst mit auf die Kapazität anrechnet, sodass die Lehrveranstaltung, die ein Professor einem Doktoranden zukommen lässt, auch tatsächlich zu seinen Dienstaufgaben zählt, was bis dato nicht der Fall war. Also wundert man sich natürlich nicht, wenn es dann vernachlässigt wurde.
Heise: Das heißt, jetzt auf die konkrete Zeit, also gerade diese Vorwürfe angewandt: Hat sich da denn was, Sie sagen, in den 40 Jahren verändert, ja, eigentlich zum Guten, und in den letzten Monaten, im vergangenen Jahr, hat man da jetzt noch mal ein bisschen angezogen?
Lenzen: Das ist empirisch nicht beobachtbar, ob das so ist oder nicht. Es gibt viele Gespräche darüber, ich glaube, dass die Aufmerksamkeit gewachsen ist auch jedes einzelnen Hochschullehrers, zu sagen, ich muss aufpassen, dass nachher nicht am Ende ein solcher Vorwurf auf mich niederprasselt. Die Verfahren sind korrigiert worden teilweise, aber auch das nimmt natürlich Zeit in Anspruch.
Wenn Sie eine Prüfungsordnung ändern wollen, können Sie das ja nicht diktatorisch machen, sondern da sind Gremien zu befragen, damit müssen Sie ein Jahr bis anderthalb rechnen, bis eine solche Veränderung dann auch rechtswirksam ist, weil sie auch genehmigt werden muss. Das ist im Gange, deswegen liegt uns auch als Hochschulrektorenkonferenz daran, dass wir Empfehlungen dafür geben, dass das nicht jeder selbst erfinden muss, weil das ja auch juristisch einwandfrei sein muss.
Heise: Doktorarbeiten an deutschen Universitäten! Ich danke ganz herzlich dem Erziehungswissenschaftler Dieter Lenzen zu diesem Thema, wissenschaftliche Auswirkungen oder universitäre Auswirkungen der Affäre um die Arbeit von Annette Schavan. Herr Lenzen, ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag!
Lenzen: Ihnen auch, auf Wiederhören!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Wie der Streit um die Doktorarbeit der Bundesbildungsministerin den wissenschaftlichen, universitären Betrieb beeinflusst, das erörtere ich nun mit dem Präsidenten der Universität Hamburg, mit dem Erziehungswissenschaftler Professor Dieter Lenzen. Schönen guten Morgen, Herr Lenzen!
Dieter Lenzen: Guten Morgen!
Heise: Wie schätzen Sie den Beschluss des Fakultätsrates ein?
Lenzen: Ich denke, dieser Beschluss ist konsequent auf der Grundlage des bisher Geschehenen, und es wird ja betont, dass er ergebnisoffen ist, das ist auch richtig so. Und nun muss geprüft werden, ob ein Verstoß gegen die damals geltende Promotionsordnung vorliegt, die ja die Benutzung anderer als angegebene Hilfsmittel nicht erlaubt. Das ist damals durch eine eidesstattliche Versicherung eingeholt worden, wobei noch zu prüfen sein wird, ob die Universität damals überhaupt berechtigt war, diese eidesstattliche Versicherung einzuholen. Denn dazu bedarf es einer Ermächtigung des Gesetzgebers, das heißt, das nordrhein-westfälische Hochschulgesetz von damals muss das enthalten haben, sonst wäre die ganze Angelegenheit nichtig. Aber das ist eine juristische Frage.
Heise: Das hört sich überhaupt sehr juristisch an, was Sie gerade gesagt haben. Ich habe das Gefühl, es geht auch jetzt also gerade in der Wortwahl, gestern auch, nicht mehr um den Vorwurf des wissentlichen Plagiierens, sondern um wissenschaftliches Fehlverhalten. Das ist ja ein Unterschied, ist das ein Abschwächen des Vorwurfs?
Lenzen: Das ist ein großer Unterschied. Denn Fehlverhalten gibt es natürlich bei allen möglichen Arten von Examensarbeiten. Wir reden ja hier nur über Dissertationen, die veröffentlicht sind, nur dadurch kann man das ja anschauen, es gibt ja Hunderttausende von anderen Arbeiten. Fehlverhalten kann auch sein, wenn man Daten fälscht, beispielsweise, oder andere Geräte benutzt, als man angegeben hat und so weiter, und sich dadurch einen Vorteil verschafft.
Hier ging es ja um die Frage, ist ein Vorteil zu Lasten einer anderen Person, die das eigentlich geschrieben hat, der Fall gewesen wie das im Fall Guttenberg war? Also, das ist inzwischen abgeschwächt, und der Vorwurf scheint nicht mehr zu existieren.
Heise: Wie nehmen Sie die Diskussion innerhalb der Wissenschaft eigentlich wahr? Teilweise wird ja von einem Entzweien, von einem Auseinanderbrechen der wissenschaftlichen Meinung gesprochen!
Lenzen: Also, ich glaube, der ganze Vorgang ist etwas wie eine griechische Tragödie: Es gibt nur Verlierer. Das eine ist die Ministerin natürlich, das andere die Universität Düsseldorf, die durch die Veruntreuung des Gutachtens damals in eine schwierige Lage geraten ist, und die Wissenschaft als ganze, die plötzlich dasteht, als ob sie ein Haufen von Betrügern sei, wo man nie genau wisse, ob das zutrifft, was der Fall gewesen zu sein scheint. Dazu gibt es natürlich überhaupt keinen Grund.
Wenn wir sehen, selbst die Fälle alle zusammenzählen, die weniger prominent sind, dann kommen Sie vielleicht auf eine Zahl unter 100, bei im Jahr über 150.000 Examen ist das einfach zu vernachlässigen. Gleichwohl haben wir die Pflicht, dafür zu sorgen, dass in dem Augenblick, wo so etwas bekannt wird, das verfolgt wird.
Und die Wissenschaft entzweit zu sehen, das glaube ich eigentlich nicht. Wir haben es natürlich auch immer mit Interessengruppen zu tun, die hier noch einmal aufeinandertreffen und sagen, hey, wir wollen aber eine Verurteilung oder das Gegenteil davon. Das muss man abwarten, das gehört einfach dazu. Entscheidend ist jetzt, dass das Verfahren sauber fortgeführt wird und es zu einer Entscheidung kommt.
Heise: Wie aus Verlierern, nämlich dem wissenschaftlichen Betrieb, vielleicht auch Gewinner werden, das können wir gleich noch mal besprechen. Das würde mich nämlich doch sehr interessieren, ob es da nicht auch Möglichkeiten gibt! Ich würde aber gerne vorher noch mal ganz kurz bei diesem Thema bleiben: Was ist Ihrer Meinung nach von dem Vorwurf zu halten, dass so manche Wissenschaftsorganisation, die sich jetzt äußert, sich doch recht zahm verhalten würde aufgrund von Abhängigkeiten? Denn immerhin handelt es sich ja um die amtierende Wissenschaftsministerin.
Lenzen: Also, das halte ich für abwegig. Es gibt keine persönlichen Abhängigkeiten zwischen den Präsidenten der Allianzorganisationen – so heißen sie ja – und der Ministerin. Es ist so, dass die Bundesregierung – diese und auch die letzte – in das Wissenschaftssystem unglaublich viel frisches Geld hineingebracht hat, sodass wir überhaupt international vergleichbar wurden, was den Anteil am Bruttoinlandsprodukt angeht. Das ist nicht zu kritisieren.
Es ist richtig, dass ein erheblicher Teil in die außeruniversitären Einrichtungen gegangen ist, in verschiedenen Wettbewerben, aber es ist natürlich nicht so, dass eine Abhängigkeit vorliegt etwa der Art, dass, wenn ihr jetzt nichts sagt, kriegt ihr demnächst kein Geld. Das ist eine absurde Idee!
Heise: Die Doktorarbeit von Annette Schavan und die weiteren Überprüfungen sind Thema hier im Deutschlandradio Kultur mit Dieter Lenzen, dem Präsidenten der Universität Hamburg. Herr Lenzen, kommen wir mal zu den Auswirkungen auf den Wissenschafts-, auf den Universitätsbetrieb! Sie haben von Verlierern gesprochen.
Man kann das ja eben auch, und das wird ja sicherlich auch zum Anlass genommen, ja, an Stellschrauben zu drehen, Prüfungsordnungen vielleicht zu überprüfen, schon nach anderen Plagiatsvorwürfen und Doktortitelentzügen der jüngsten Vergangenheit. Welche Schlüsse wurden denn tatsächlich gezogen? Im vergangenen Jahr wurden ja neue Richtlinien des wissenschaftlichen Arbeitens erlassen.
Lenzen: Also, es ist ja so, dass die Universitäten autonom sind in der Frage, wie sie ihre Regeln definieren. Das ist auch gut so, dadurch unterscheiden sich Universitäten und Hochschulen ja auch voneinander.
Insofern kann es gar keine Rahmenregelungen geben. Man kann Empfehlungen aussprechen, die Hochschulrektorenkonferenz ist im Augenblick dabei, eine solche Empfehlung zu erarbeiten, um sie ihren Mitgliedshochschulen zu geben, dass sie danach ihre Prüfungsordnung ausrichten. Das werden sie wahrscheinlich auch in einem erheblichen Maße tun, damit auch mehr Rechtssicherheit besteht und nicht eine einzelne Universität sozusagen dann in Beschuss gerät, wie das in diesem Fall so aussieht, als ob eine Universität besonders schlecht dasteht. Das ist natürlich nicht der Fall.
Heise: Gibt es eigentlich eine Überprüfung oder ein Nachdenken über die Tätigkeit der Gutachter? Denn die sind da ja auch doch sehr unter Beschuss geraten!
Lenzen: Das ist grundsätzlich richtig. Man muss allerdings sehen, bei solchen Literaturarbeiten, also anders als zum Beispiel bei einer medizinischen Laborarbeit, ist es völlig ausgeschlossen, dass ein Gutachter hergeht und Hunderte, wenn nicht Tausende von Zitaten überprüft. Dazu ist einfach keine Zeit! Ein normaler Geisteswissenschaftler wird im Jahr zwischen zehn und 20 Examensarbeiten zu bewerten haben.
Sie sehen ja jetzt schon an der Länge dieses Verfahrens, wie lange es braucht, die ganzen Zitate nachzusehen, sich die Quellen zu besorgen, Hilfskräfte loszuschicken, die in Bibliotheken gehen, Fernleihen in Gang zu bringen, um zu gucken, was steht da wirklich! Völlig ausgeschlossen! Das Wichtige ist – und ich glaube, darauf müssen wir Wert legen –, dass in der Ausbildung schon der jungen Studenten, wenn sie anfangen, in die Universität zu kommen, klargemacht wird, dass das kein Kavaliersdelikt ist, wie man richtig zitiert, wie man recherchiert, und dass das Internet keine seriöse Quelle ist, sondern immer zweifelhaft bleibt, weil man nicht weiß, wer’s reingeschrieben hat und so weiter.
Heise: Wobei ich davon ausgehe, eigentlich, dass das ja schon seit Jahrzehnten der Fall ist, dass man am Anfang seines Studiums genau das lernt!
Lenzen: Das ist unterschiedlich. Wenn Sie sich die Situation in den 70er-Jahren anschauen bezüglich der Erziehungswissenschaft beispielsweise: Das Fach ist 1970 begründet worden, war also sehr jung, war damals noch eher geisteswissenschaftlich orientiert, aber zunehmend auch erfahrungswissenschaftlich. Es gab, anders als zum Beispiel in der Germanistik, keine entfalteten Hinweise darauf, wie solche Literatur zu schreiben ist. Das war in der Germanistik, Anglistik und so weiter selbstverständlich.
Ich habe ja selber Anfang der 80er-Jahre eine große Enzyklopädie herausgegeben, wo wir diese Regeln erst erfunden haben, damit sie in dieser Enzyklopädie eingehalten wurden und exakt zitiert werden konnte. Da ist sicher ein Unterschied zu anderen Disziplinen zu sehen, aber das ändert natürlich nichts daran, dass in dem Augenblick, wo man irgendetwas abgeschrieben hat, man natürlich wissen musste, dass das nicht geht. Das scheint aber jetzt ja nicht mehr der Vorwurf zu sein.
Heise: Der Erziehungswissenschaftler Heinz-Elmar Tenorth äußerte sich hier im Programm oder äußerte die Vermutung, der Doktorvater Schavans habe die Doktorandin Schavan damals mit dieser umfangreichen Literaturarbeit, von der Sie auch schon gesagt haben, dass die eine besonders schwierige ja eigentlich ist mit dieser Literaturarbeit, eher überfordert als genügend gestützt.
Damit sind wir jetzt mal bei der Aufgabe der Doktorväter: Wie intensiv ist denn die normale Zusammenarbeit, die Unterstützung, wie intensiv kann die sein? Und hat sich das verändert in der letzten Zeit?
Lenzen: Also, es hat sich sehr verändert in den letzten 40 Jahren. Ich sage das an meinem eigenen Beispiel: Mein Doktorvater, auf die Frage, ob er mich beraten könne bei der Dissertation, gab eine ganz trockene Antwort: Wenn Sie eine Beratung brauchen, sind Sie nicht geeignet! So, da war Anfang der 70er-Jahre. Das hat sich völlig geändert, wir haben inzwischen an den meisten großen Universitäten zumindest sogenannte Graduiertenschulen. Das heißt, ein Doktorand geht selbst noch mal in einen Studiengang hinein, das ist nicht erledigt mit dem Examen davor, und wird dort von einer Gruppe von drei Personen, die auch am Ende als Gutachter auftreten können, betreut. Er oder sie muss alle drei Monate kommen, berichten über den Fortschritt der Arbeiten, darlegen, mit welchen Mitteln gearbeitet wird. Das ist eine enge Zusammenarbeit, nicht Kontrolle, sondern Zusammenarbeit, die dadurch induziert ist. Die ist natürlich sehr aufwändig.
Bisher war das deswegen auch nicht der Fall, weil in den meisten Bundesländern diese Arbeit nicht gewertet wird als Lehrtätigkeit. Das Land Hamburg ist, glaube ich, jetzt das erste, was die Doktorandenstudien auch selbst mit auf die Kapazität anrechnet, sodass die Lehrveranstaltung, die ein Professor einem Doktoranden zukommen lässt, auch tatsächlich zu seinen Dienstaufgaben zählt, was bis dato nicht der Fall war. Also wundert man sich natürlich nicht, wenn es dann vernachlässigt wurde.
Heise: Das heißt, jetzt auf die konkrete Zeit, also gerade diese Vorwürfe angewandt: Hat sich da denn was, Sie sagen, in den 40 Jahren verändert, ja, eigentlich zum Guten, und in den letzten Monaten, im vergangenen Jahr, hat man da jetzt noch mal ein bisschen angezogen?
Lenzen: Das ist empirisch nicht beobachtbar, ob das so ist oder nicht. Es gibt viele Gespräche darüber, ich glaube, dass die Aufmerksamkeit gewachsen ist auch jedes einzelnen Hochschullehrers, zu sagen, ich muss aufpassen, dass nachher nicht am Ende ein solcher Vorwurf auf mich niederprasselt. Die Verfahren sind korrigiert worden teilweise, aber auch das nimmt natürlich Zeit in Anspruch.
Wenn Sie eine Prüfungsordnung ändern wollen, können Sie das ja nicht diktatorisch machen, sondern da sind Gremien zu befragen, damit müssen Sie ein Jahr bis anderthalb rechnen, bis eine solche Veränderung dann auch rechtswirksam ist, weil sie auch genehmigt werden muss. Das ist im Gange, deswegen liegt uns auch als Hochschulrektorenkonferenz daran, dass wir Empfehlungen dafür geben, dass das nicht jeder selbst erfinden muss, weil das ja auch juristisch einwandfrei sein muss.
Heise: Doktorarbeiten an deutschen Universitäten! Ich danke ganz herzlich dem Erziehungswissenschaftler Dieter Lenzen zu diesem Thema, wissenschaftliche Auswirkungen oder universitäre Auswirkungen der Affäre um die Arbeit von Annette Schavan. Herr Lenzen, ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag!
Lenzen: Ihnen auch, auf Wiederhören!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.