Wie ein Land sich in seiner Verfassung spiegelt

Christoph Möllers im Gespräch mit Susanne Führer · 20.05.2009
Das deutsche Grundgesetz habe "etwas Furchtsames", meint der Jurist Christoph Möllers von der Uni Göttingen, da es nach dem Zweiten Weltkrieg entstand. Die amerikanische Verfassung lege das Gewicht auf das Individuum, während die französische noch Spuren der Revolution trage. Großbritannien kommt laut Möllers sogar ohne Verfassungstext aus.
Susanne Führer: Um 60 Jahre Grundgesetz geht’s in dieser Woche im "Radiofeuilleton". Heute wollen wir auch die Verfassungen anderer Staaten mit in den Blick nehmen und den Beziehungen zwischen Verfassung und Nationen nachgehen. Schließlich fällt ja so eine Verfassung nicht vom Himmel, sie wird zu einem bestimmten Zeitpunkt von bestimmten Menschen geschrieben und beruht also auch auf historischen Erfahrungen. Was ist deutsch am Grundgesetz und was französisch an der "constitution"? Prof. Dr. Christoph Möllers hat den Lehrstuhl für öffentliches Recht an der Universität Göttingen inne und ist nun zu Gast im "Radiofeuilleton". Guten Tag, Herr Möllers!

Christoph Möllers: Guten Tag!

Führer: Das deutsche Grundgesetz wurde ja – man muss es so sagen – von Verlierern geschrieben, von Geschlagenen. Es wird ja immer wieder gesagt, die treibende Kraft sei dieser Gedanke gewesen: "Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!" Man kann sagen, das Grundgesetz ist also auch aus einer Angst heraus entstanden, dass Deutschland noch einmal den Weg der Barbarei einschlagen könnte. Ist es sozusagen ein Dokument auch der Angst geworden oder wendet es diese Sorge eher ins Positive, ins Visionäre?

Möllers: Na, es ist schon eine furchtsame Verfassung. Also ich denke, man kann schon sagen, dass das Grundgesetz dadurch, dass es dem politischen Prozess sehr, sehr viele Vorkehrungen vorschiebt und sehr viele Sicherungen einbaut, eigentlich schon eine Verfassung ist, die etwas Furchtsames hat. Es ist sicherlich keine visionäre Verfassung, es ging nicht darum, einen großen Wurf zu machen, es gab keine große Perspektive, sondern es ging erst mal darum, Probleme zu lösen und die Wiederholung der Geschichte zu verhindern.

Führer: Das heißt, das Deutsche am Grundgesetz wäre das Ängstliche?

Möllers: Ja, das ist natürlich sehr negativ formuliert, weil sich das Ängstliche in gewisser Weise vielleicht auch bewahrt hat, weil natürlich viele andere Länder auch diese Erfahrung gemacht haben. Nicht die großen Nationen, über die wir gleich vielleicht noch reden werden, sondern eher die anderen Nationen, die auch Kriege verloren haben oder totalitäre Erfahrungen gemacht haben. Aber natürlich, ja, es ist schon das Ängstliche, man könnte es aber positiv wenden und sagen, das sehr, sehr Verrechtliche, das Rechtliche.

Führer: Sprechen wir über die anderen großen Nationen, zum Beispiel USA und Frankreich, deren Verfassungen Ende des 18. Jahrhunderts entstanden sind. Da waren ja Sieger am Werk, also Revolutionäre, die wirklich etwas Neues wagten. Blicken wir vielleicht zuerst mal in die USA, Herr Möllers. Diese Verfassung entstand 1787. Welche Vision entwirft sie?

Möllers: Ja, sie entwirft die Vision einer Gesellschaft, in der man sozusagen sein eigenes Leben führen kann, in der man sein Glück suchen kann tatsächlich, und so steht’s ja dann auch da drin, und in der man im Grunde, als Individuum wohlgemerkt, Bedingungen bekommt, in denen man sich selbst vervollkommnen kann. Also das ist sicherlich keine Vision einer Staatsordnung wirklich, es ist auch wenig die Vision einer außenpolitischen Vision in dem Sinne, wie wir sie vielleicht heute mit den Amerikanern auch in Verbindung bringen, die die Welt irgendwie auch demokratisieren wollen. Es ist wahrscheinlich eher eine Vision eines privaten Glückes Gleicher, das allerdings einer gewissen Form von politischer Umwelt bedarf, die man dann als Demokratie gründet.

Führer: Das Erstaunliche finde ich ja, dass die US-amerikanische Verfassung eine der ältesten republikanischen ist, die heute noch in Kraft ist. Liegt es vielleicht daran, dass sie gerade das Gewicht so auf das Individuum legt?

Möllers: Na ja, es ist immer so ein bisschen die Frage. Es liegt sicherlich auch daran, dass die USA zu dem Zeitpunkt, in dem sie gegründet wurde, erst einmal politisch wenig bedroht war, also im Grunde doch eine Art von Insellage hatten und deswegen bestimmte Umbrüche, die fast alle anderen, jedenfalls alle europäischen Staaten erlebt haben, nicht vollziehen musste. Und es liegt vielleicht auch daran, dass man das Ereignis der Revolution sehr, sehr heiligt in Amerika und deswegen eigentlich die Verfassung kaum ändern kann und sich die Frage nach einer neuen Verfassung eigentlich nicht stellt. Man muss natürlich auf der anderen Seite sehen, die Verfassung ist heute in der Art und Weise, wie sie ausgelegt wird, einfach eine ganz andere, als sie vor 200 Jahren war. Die Verfassung hat auch immerhin einen veritablen Bürgerkrieg überstanden, an dem das Land fast auseinandergebrochen wäre. Also auch wenn der Text sehr haltbar ist, sind die Veränderungen natürlich beträchtlich.

Führer: Kommen wir mal zu einer anderen revolutionären Verfassung, nämlich der französischen von 1791. Das war ja das direkte Produkt eigentlich der Revolution von 1789. Die heute gültige französische Verfassung stammt aus dem Jahr 1958, also die Verfassung der sogenannten 5. Republik. Kann man sagen, Herr Möllers, dass da noch revolutionäres Erbe enthalten ist?

Möllers: Ja, ich denke jedenfalls in der französischen politischen Kultur und in der Art und Weise, wie man mit Recht und mit Verfassungsrecht umgeht, ist natürlich ein revolutionäres Erbe enthalten. Man muss auch sagen, das Misstrauen, das die Franzosen eigentlich aus der Revolution mitgenommen haben gegenüber gerichtlicher Überprüfung, demokratischer Hoheitsakte, also eigentlich gerade der entgegengesetzte Reflex dessen, was wir im Grundgesetz haben, eigentlich auch immer noch spürbar ist. Grundrechte sind in Frankreich eigentlich immer noch eher im Ausnahmefall gegen den Gesetzgeber in Geltung zu bringen. Und das ist schon Teil der revolutionären republikanischen Tradition.

Führer: Wobei ich ja interessant finde, dass die beiden, USA wie Frankreich, ja so ein Präsidialsystem haben, also eigentlich so ein stark monarchistisches Erbe.

Möllers: Na ja, ein Präsident ist ja kein Monarch. Ein Präsident ist ja erst mal nur so eine unitäre Exekutive, die aber gewählt wird. Und ich würde auch denken, die Präsidenten sind schon sehr unterschiedlich angelegt. Also der französische Präsident dürfte viel, viel mächtiger sein als der amerikanische Präsident, weil der französische Präsident eigentlich ja eine viel größere Kontrolle über den Gesetzgeber, über das Parlament hat, während in Amerika der Kongress natürlich schon ein sehr, sehr selbstständiges Organ ist, also kaum eine Ordnung, in der das Parlament so stark wäre wie in Amerika. Und auf der anderen Seite muss man sagen, dass natürlich die Revolution, also es immer zu einer, irgendwie auch zur revolutionären Tradition im 19. Jahrhundert dazugehört hat vielleicht, einen starken Präsidenten zu haben. Es ist eine ambivalente Sache. Napoleon ist auch eine ambivalente Figur gewesen, weil er natürlich auch Teil der Revolution ist. Also es ist nicht ganz eindeutig, wie man den Präsidenten zuordnen will.

Führer: Der Jurist Professor Christoph Möllers von der Universität Göttingen im Gespräch im Deutschlandradio Kultur in unserer Reihe "60 Jahre Grundgesetz". Herr Möllers, eine große westliche Demokratie, die müssen wir unbedingt noch erwähnen, das ist eine der stabilsten überhaupt, nämlich Großbritannien, ein Staat, der ganz ohne Verfassung auskommt. Da fragt man sich doch als gute Deutsche, warum ist dort nicht längst das Chaos ausgebrochen?

Möllers: Ja, also eine Verfassung haben sie natürlich in gewisser Weise, sie haben sie nur nicht aufgeschrieben. Also wenn man unter Verfassung einfach nur die institutionellen Arrangements versteht, die Recht und Politik miteinander verbinden, gibt’s in England natürlich eine Verfassung, oder in Großbritannien, nur gibt’s keine Verfassungsurkunde. Aber was man machen muss, um Regierungschefs zu wählen oder sonst irgendwas zu erledigen, das weiß man natürlich auch in England. England ist interessant, weil es natürlich heute als parlamentarische Demokratie dasteht, aber die Entstehung eigentlich eine ist, die ohne demokratische Revolution ausgekommen ist. Und die Demokratisierung ist im Grunde die Einbeziehung von immer mehr Wählerschichten in ein eigentlich gar nicht demokratisches, sondern so ein bisschen konstitutionelles, liberales System gewesen. Das ist erstaunlich, dass es so funktioniert hat. Hat auch vielleicht etwas damit zu tun, dass es eine Insel ist, aber ist als solches jetzt nicht als Abwesenheit von Verfassung zu betrachten oder zu bezeichnen.

Führer: Das müssten Sie vielleicht noch mal ein bisschen erläutern: Es hat keine Verfassung, aber doch eine?

Möllers: Na, es hat keinen Text! Man würde ja wahrscheinlich sagen, eine Verfassung ist eine institutionelle Lösung eines Problems, nämlich wie sich eigentlich Politik und Recht zueinander verhalten. Was sozusagen das Regelwerk ist, an das sich auch der politische Prozess halten muss, und wie wird Recht durch den politischen Prozess auch produziert? Und dazu gibt’s ja Regeln. Es gibt sozusagen Regeln, wie Gesetze gemacht werden, es gibt die Regeln, wie eine Regierung gewählt und gestürzt wird, all das klappt ja in England oder in Großbritannien genauso wie es in anderen Ländern klappt. Es ist nur durch die Tradition und durch das Aufbewahren von alten Praktiken anders gelöst als bei uns in einer einheitlichen Urkunde, wo das sozusagen vergesetzlicht wurde.

Führer: Es ist sozusagen eine britische Skurrilität?

Möllers: Es ist eine Skurrilität, aber es ist natürlich eine auch irgendwie elegante Lösung. Ich denke, lange Zeit war England ja ein Vorbild für europäische Politik, also das ganze 18. Jahrhundert durch sicherlich auf jeden Fall noch. Und heute haben die Engländer andererseits sicherlich auch einen Nachteil damit, weil sie im Grunde gerade im Prozess der Internationalisierung wenig auf den Tisch legen können. Sie haben halt keine Grundrechte, sie mussten sich im Grunde jetzt so ein bisschen zwangskonstitutionalisieren durch die europäische Integration, aber ihnen fehlt natürlich heute etwas, was andere haben, wenn es darum geht, verfassungsrechtliche Strukturen auch auf übernationale Ebenen zu bringen.

Führer: Jetzt haben wir über die Verfassung etwas vielleicht willkürlich ausgewählt, aber doch von vier großen westlichen Demokratien gesprochen. Aber Herr Möllers, wir wissen ja alle, dass die Bedeutung der einzelnen nationalen Staaten dramatisch abnimmt, weil im politischen und vor allen Dingen im wirtschaftlichen Bereich ja die Verflechtungen so stark zunehmen. Heißt das nicht auch in der Folge, dass die Verfassungen einzelner Staaten bald obsolet geworden sein werden, also dass wir die sozusagen quasi bald als rührende Texte ansehen werden aus uralten Zeiten, so wie man heute so eine Benimmfibel aus dem 19. Jahrhundert liest und sagt: Ach, ist ja putzig!

Möllers: Nein, also das glaube ich auf keinen Fall, und zwar aus zwei Gründen nicht. Zum Ersten, weil wir uns wahrscheinlich irgendwie mehr und mehr, jedenfalls in Europa, föderal eingliedern lassen werden, aber dann auch die Frage, wo eigentlich die entscheidende Ebene ist, gar nicht mehr so eindeutig beantworten können. Das bedeutet, auch Landesverfassungen, wie wir sie ja in unserem Bundesstaat auch haben, haben natürlich eine immense Bedeutung für unser politisches Leben. So hat es das Grundgesetz und so wird es dann eine europäische Verfassungsstruktur auch haben. Aber zum Zweiten spricht schon viel dafür, dass gerade Nationalstaaten immer noch die mächtigsten Akteure bleiben werden in diesem Mehrebenenspiel. Es ist jedenfalls nicht wirklich abzusehen, dass der Nationalstaat in seiner zentralen Bedeutung, Politikprozesse zu sammeln, einfach so ersetzt wird durch die europäische Integration. Von anderen Kontinenten gar nicht zu reden, wo es so was wie die EU ja gar nicht gibt.