Wie die Wortschöpfungen der Nazis weiterleben

Von Hannelore Becker · 01.03.2008
Anhand von rund 40 Wörtern haben die Germanisten Georg Stötzel und Thorsten Eitz untersucht, wie sprachlich immer wieder Bezug auf das NS-System genommen wird. Außerdem zeigen sie, dass der Gebrauch von NS-Vokabeln hauptsächlich benutzt wird, um aktuelle Probleme zu benennen, obwohl sie - wie das Wort "Holocaust" -eigentlich singuläre historische Ereignisse bezeichnen sollen.
Prof. Georg Stötzel: "Adenauer hat häufig von 'diesen Dingen' gesprochen, sehr verhüllend. Danach sprach man von 'Auschwitz', das war die allgemeine Chiffre."

Wenn überhaupt. Denn bis weit in die 1960er Jahre hat Prof. Georg Stötzel in Zeitungen, Zeitschriften und in politischen Reden kaum eine sprachliche Auseinandersetzung über den Völkermord an den europäischen Juden während der Nazi-Zeit gefunden. Vielmehr gab es, so betont der Düsseldorfer Sprachwissenschaftler, ein "kollektives Bedürfnis nach Schonung und Diskretion". Sprachlich genauso wie inhaltlich.

Erst 1979 änderte sich das schlagartig. Mit der US-Fernseh-Serie "Holocaust" bekam das vordem "Unsagbare" einen Begriff. Der im gleichen Jahr von der "Gesellschaft der deutsche Sprache" sogar zum "Wort des Jahres" gekürt wurde.

Prof. Georg Stötzel: "Und man kann an 'Holocaust' sehr deutlich sehen, wie bestimmte Institutionen in dem Gestus, dramatisch warnen zu wollen, gerade diesen NS-Wortschatz, der Ereignisse bezeichnen soll, die doch einzigartig sind, gerade diese zum Vergleich heranziehen."

So kreierte die Umweltbewegung bereits 1979 den Slogan "Gorleben ist Holocaust".

"Oder vielen wird noch im Gedächtnis sein, dass Kardinal Meißner die Pille zum Beispiel mit Zyklon B verglichen hat."

Von "Anschluss" und "Ausmerzen" über "Entartete Kunst", "Mischehe", und "Nachkriegszeit", bis hin zu "Wehrmacht" und "Widerstand": An rund 40 Vokabeln, die öffentlich zum sogenannten Nazi-Wortschatz wurden, haben Georg Stötzel und sein Kollege Dr. Thorsten Eitz deren "Wortkarrieren" untersucht, um zu zeigen, wie seit 1945 sprachlich Bezug auf die NS-Zeit genommen wird. Und wie Denkmodelle der NS-Ideologie reproduziert werden. Zum Beispiel die brisante Vokabel "Wiedergutmachung".

"Hitler hat sich aufgeregt über 'Wiedergutmachung'. Dass nämlich viele Deutsche die Reparationen - 'Wiedergutmachung' war ja ein Synonym für 'Reparation', die im Versailler Vertrag festgelegt waren - 'Wiedergutmachung' nannten. Er sagte, dass würde ja bedeuten, dass wir ein Schuldeingeständnis damit zum Ausdruck brächten."

Nach 1945 wurde "Wiedergutmachung" dann zum umstrittenen Oberbegriff für "Entschädigungen".

"Und es gibt einen berühmten Beleg, 1980, von Lea Fleischmann in dem Buch 'Dies ist nicht mein Land', dass sie sagt: Was hat man denn wieder gut gemacht? Hat man meine Mutter wieder gut gemacht? Hat man meine Familie wieder gut gemacht, die vergast worden war? Sie hatte die Sprache also 'beim Wort genommen' - und dazu beigetragen, dass in politischen Reden und in der Presse zunehmend von 'materieller Wiedergutmachung' zu hören und zu lesen ist."

Ein anderes prominentes Wort ist "Reichskristallnacht", das bis 1988 völlig problemlos verwendet wurde. Ganz ohne Anführungsstriche oder anderen Distanzmarkern. Erst mit der Rede des Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger wurde "Reichskristallnacht" zum Problem - und abgelöst durch Begriffe wie "Juden-Pogrom" oder "Reichspogromnacht". Dabei ist der Begriff "Reichskristallnacht" nicht von den Nazis geschaffen worden, erklärt Thorsten Eitz. Vielmehr fand er Belege,

"dass ein Berliner Kabarettist, der Werner Finck, das geprägt hat, und für die Verwendung und Prägung des Ausdrucks von den Nazis auch in den Knast gesteckt worden ist."

Ähnlich überraschend sind auch Recherche-Ergebnisse zum Begriff "Selektion", einer - vermeintlich - zentralen Vokabel der "Auslese" (wie die Nazis sagten) in den Konzentrationslagern.

Dr. Thorsten Eitz: "Und 'Selektion' scheint tatsächlich ein Ausdruck der Lagersprache zu sein. Also wohlmöglich der Häftlinge sogar selber. Und das ist nach '45 aber sofort die Bezeichnung, die sich etabliert für eben diese 'Aussonderung', wie die Nazis das auch nannten, an der Rampe."

"Aussonderung" oder "Sonderbehandlung": Bezeichnungen, die nach 1945 indes völlig problemlos verwendet wurden. Weil sie, so Thorsten Eitz, als Spezialvokabeln von der NS-Verwaltung ausschließlich intern benutzt wurden.

"Das heißt, es konnte sich gar kein Bewusstsein herausbilden, dass sie belastet sind. Und deshalb hat man sie hinterher als normale weiter verwendet."

"Wörterbuch der Vergangenheitsbewältigung" nennen Thorsten Eitz und Georg Stötzel ihr knapp 800-seitiges Lexikon. An Hand besonders langlebiger "belasteter" Begriffe wie Hitlers "Machtübernahme", "Machtergreifung" und "Machterschleichung" oder auch "Kollektivschuld" und "Mitschuld" analysieren sie penibel die Einstellung der Deutschen zur NS-Vergangenheit.

Prof. Georg Stötzel: "Alle Vokabeln haben etwas zu tun mit Schuldaspekten der Deutschen. Beziehungsweise mit der Verdrängung der Schuld durch Instrumentalisierung besonders der am meisten belasteten Vokabeln."

Wie etwa mit "atomarer Holocaust", "Auschwitz-Keule" oder "Gestapo-Methoden".
Mit der Instrumentalisierung der Vergangenheit, erklärt Georg Stötzel, werde allenfalls die Gegenwart "bewältigt". Und die Vergangenheit weiterhin "verdrängt".

Angaben zum Buch:
Thorsten Eitz, Georg Stötzel: Wörterbuch der Vergangenheitsbewältigung. Die NS-Vergangenheit im öffentlichen Sprachgebrauch.
Hildesheim, 2007
786 Seiten. Euro 29,80
ab März: Euro 32,00
Olms-Verlag, ISBN 978-3-487-13377-5