Wie die Welt nach Schnepfental kam

Von Blanka Weber |
Wenn ein Fremder in einem Dorf auftaucht, dann spricht sich das schnell herum. Also auch in Schnepfental. Woher der Fremde kommt, das erkennen die Dörfler schnell am Dialekt des Auswärtigen.
Also auch in Schnepfental. Wobei die Schnepfentaler derzeit weniger mit Dialekten deutscher Stämme zu tun haben, als mit den Sprachen der Welt. Arabisch, Japanisch, Chinesisch – das kommt den Schnepfentalern nicht mehr Spanisch vor, denn auch letztere Sprache ist dort, also im Weltdorf, zu vernehmen. Sprachwirrwarr mit Bratwurst-Tradition, Dorfkirmes und zwei Bäckerläden.

Die Welt ist ein Dorf. Also ist sie klein, liegt ein paar Kilometer von der A 4 entfernt und heißt Schnepfenthal. Das Weltdorf liegt etwas abseits vom Weltgeschehen, wer es ansteuert, der hat einen Grund dafür. Wenig verwunderlich, dass ihn die Anfahrt durch einen Ort mit dem schönen Namen Wahlwinkel führt.

Wer sich der Dorfwelt von Schnepfentahl nähert, begegnet in einer leicht hügeligen Landschaft saftigen Wiesen, gefleckten Rindern und wenigen Menschen. Hat er das Weltdorf erreicht, so hat er es schnell mit Sprachkundigen zu tun.

Die älteste Sprache am Ort ist die schnepfentaler Variante des südthüringer Dialektes, die exotischste ist Arabisch, die am häufigsten belegte Fremdsprache ist Spanisch. Aber die Amtssprache im Schnepfenthaler Sprachwirrwarr ist Hochdeutsch. Und das kam so.
Was in Babel missglückte, soll hier gelingen. Der Turmbau zu Schnepfenthal liegt auf einer Anhöhe, wird von Bäumen und Wiesen umsäumt, war ein herrschaftliches Anwesen, ist ein Spezialgymnasium für Sprachen mit einer klassizistischen Fassade.

Für Arabisch-Unkundige, die Lektion „Wetter“ ist gerade dran. Zwei Stunden wird heute also über das Allerweltsthema Wetter in der Achten gesprochen. Der Lehrer ist 34 Jahre alt und kommt aus Ägypten, der Schüler ist 13 Jahre und malt gerade schwungvoll die Wörter in sein Heft.

Valentin. „In dem Dialog, den wir jetzt geübt haben, geht’s um einen jungen Mann, der in die arabischen Länder kommt und sich dort mit dem Wetter erst zurecht finden muss.“

Das Schnepfentahler Wetter ist ein anderes als das in Ägypten, die hiesige Tradition eine andere als die alte Kultur in Kairo.

Nesched: „Auch die Leute hier die kennen schon: das ist der Lehrer von Salzmann, macht Arabisch.“

Schahir Nesched aus Ägypten ist ein anderer als Herr Lie, der Chinesisch unterrichtet. Und Schnepfenthal liegt nicht in Kairo.

Nesched: „Das ist natürlich schwierig auch am Anfang. Weil die Umgebung hat überhaupt gar nichts mit der arabischen Kultur zu tun auch nicht wie in den großen Städten, wo man viele Leute findet die arabische Herkunft oder so das sieht man selten.“

In der Thüringer Provinz, also in Schnepfenthal, ist es kurz vor Mittag, es duftet der frische Kuchen und das Stück kostet 80 Cent. Dorfpreise im Weltdorf. Aber gute Qualität wie die Brötchen. Nicht aus irgendeiner Back-Mischung, sondern:

Bäckerin: „Wir haben nur Ostbrötchen – das ist schon immer das Rezept.“

Also richtige Brötchen, keine aufgeblasenen Luftgeschosse. Hier gibt es Kirmes und Maibaumsetzen, Volksmusik und Feuerwehr. Und gelegentlich wird Tradition auch honoriert.

Seita: „Guten Tag. Ich möchte gerne 1 Stück Zupfkuchen zum Mitnehmen.“

Mariko Seita ist Lehrerin an der Salzmannschule. Die gebürtige Japanerin pendelt jeden Tag von Erfurt nach Schnepfenthal.

Dialog: „80 Cent bitte”…. „und 2 Brötchen“ ---„Kleine lange oder große Doppelte?“... „1,50 bitte ...“

Früher war alles anders, erklärt die Verkäuferin beim Schneiden der Eierschecke. „Früher“ war 2001 – da war das Gymnasium noch ein „normales“ Gymnasium für alle und keine Spezialschule für europäische und außereuropäische Fremdsprachen:

Bäckerin: „Ich kenne eine ganze Reihe Kinder, die damals auf das Gymnasium gingen, die sehr traurig waren, dass sie jetzt weg mussten, weil das Salzmann Gymnasium war ja was besonderes und sie wären ja gerne dort weiter zur Schule gegangen und deswegen war das nicht unbedingt so gewollt. Aber nun kann man sich damit arrangieren. Es ist nun so und da ist es halt so. … ist ne Welt für sich ...“

Die „andere Welt“ liegt 300 Meter vom Bäckerladen entfernt. In der Bäckerei schreiben sie von links nach rechts, da oben von rechts nach links.

Valentin: „Die Salzmannschule war früher ja auch schon so etwas Exotisches mit neuen Erziehungsmethoden, keine Prügelstrafe, alles so was; und jetzt auch noch die Sprache dazu, Arabisch, da wird man immer mal belächelt ... da kannst du ja mal Bomben bauen oder so. Das versteh ich nicht so richtig. Das sind so die Klischees. Und das dann in einem Thüringer Dorf, das ist lustig.“

Arabisch, Japanisch oder Chinesisch – eine dieser 3 Sprachen lernen die Kinder hier ab der 6. Klasse. Hinzu kommen die europäischen Sprachen.

Gebäck aus fernen Ländern hat in der Bäckerei noch nicht Einzug gehalten. Liegt das vielleicht am fehlenden Kontakt in der Streuselschnecken-Idylle.

Bäckerin: „Die haben so keinen Kontakt, die denken wirklich, die sind was Besseres. So finden’s viele und so kommt’s auch rüber. Wenn unsere Dorffeste sind, also da nehmen die gar nicht dran teil. Es sind ja die wenigsten, die von hier sind, weil die sich das gar nicht leisten können.“

Für Internat und Essen zahlen die Eltern der Salzmann-Schüler etwa 253 Euro im Monat. Doch so genau weiß das die Bäckerin auch nicht, denn beim Tag der offenen Tür war sie noch nie da oben im Gymnasium. Aber eines steht fest: Wenn sie Schnepfenthal Fremden beschreiben würde, dann nur so:

Bäckerin: „Als wunderschönen Ort, im Wald, sehr ruhig. Also ein guter Zusammenhalt. Also wir sind wirklich ein guter Ort, möchte ich sagen. Ich bin froh, hier zu wohnen.“

Das Fitnesscenter, gleich gegenüber vom Bäcker, heißt Revital. Hier steht auch das Schild einer Pizzeria. Doch die ist geschlossen. Dafür gibt es jetzt die Pension Toscana.

Gleich dahinter schlängelt sich ein schmaler geteerter Weg und führt mitten in einen von Buchen umsäumten Wald. Vorbei an aufgeräumten Gärten, alten Scheunen und gackernden Hühnern.

Der Wegweiser am Straßenrand wirbt für touristische Touren, der hiesige Waldfriedhof erzählt Ortsgeschichten – verwittert sind die Steinplatten und die schlichten Kreuze, die auf den Gräbern liegen. Hier sind der Gründer und die früheren Direktoren der Salzmannschule bestattet – und deren Familien. Der kleine Friedhof unter großen Buchen wird von Schülern des Gymnasiums betreut.

Ein paar Meter weiter ist ein Gedenkstein und wieder Geschichte, nämlich vom 1. deutschen Turn- und Gymnastikplatz. In Schnepfentahl. Denn: „Auf diesem ersten Gymnastikplatz in Deutschland“, so ist darauf zu lesen, schuf Johann Christof Friedrich GuthsMuths „die Grundlagen der neuzeitlichen Körpererziehung.“ GuthsMuths lebte bis 1839.

Auf dem „ersten Gymnastikplatz“ Deutschlands stehen Kletter- und Steiggerüst, Barren und Reck … umrahmt von hohen Buchen. Dennoch heißt, ein paar Schritte weiter, der Landgasthof Zur Tanne.
Die Speisekarte preist Thüringer Wurstbrett für 8,50 Euro an und versichert, die Bratwurst werde nach dem Rezept von Urgroßvater Karl selber hergestellt. Und ein Schild wirbt mit dem Hinweis „Sonntags Ferkel Besichtigung“ – mit Grillfest.

Gleich am Gasthof ist die eigene Fleischerei. Und natürlich weiß der Metzgermeister, woher das Wort Schnepfe in Schnepfenthal kommt:

Metzger: „Das kommt unten von dem Tal und da soll es wohl angeblich Schnepfen gegeben haben, aber die sind ja bejagt worden und dann ausgestorben. Ein Schnepfenvogel ist so ungefähr wie `ne Taube groß.“

Nicht mit Tauben, sondern mit Rindersteaks vom Thüringer Jungbullen verwöhnt der Metzger seine Gäste, also auch die neue internationale Klientel.

Metzger: „Also wir hatten letztes Jahr alle Chinesischlehrer Deutschlands hier. Also das ist schon interessant, was an Leuten hier aufkreuzt, die den Ort früher nie gefunden hätten.“

Er spricht von einem „positiven Effekt“ dank des Sprachgymnasiums und von einer neuen Kundschaft:

Metzger. „Die Sache ist die, dass jetzt zunehmend mehr Jugendliche zu uns in die Gastwirtschaft kommen, dass die Eltern hierher kommen, die Eltern hier übernachten und das insgesamt der Ort dadurch sicherlich weltoffener wird.“

An der Bahnstation im Ort warten zwei Jugendliche auf einer Bank. Auch die Bushaltestelle ist hier.

Zwei Touristen mit bunten Basecaps und Rucksack wandern am Straßenrand von Schnepfenthals Ortsmitte. Sie haben brau gebrannte Gesichter und fröhlich bedruckte T-Shirts:

Touristen: „Wir sind touristisch, aus Holland.“
„Wir haben gewandert von Friedrichroda nach Schnepfenthal, zum Genießen von dem Umgebung ... all die Wälder, so viele Bäume. Ja, das ist sehr angenehm, alles hier die Ruhe in Mitte Deutschland. Ist viel ruhiger im Osten.“

Jedenfalls ruhig, wo nicht gebaut wird. In diesem Falle baut der Landkreis Gotha in Schnepfental. „Komplexsanierung und Erweiterung“ des staatlichen Gymnasiums für Sprachen, das zu den besonders geförderten Schulen gehört, den Spezialschulen des Freistaates. Erst kürzlich hat das Land zwölf Millionen Euro für den Internatsneubau bewilligt.

Leicht geht es bergauf. Hohe Bäume begrenzen den Blick auf die Schulgebäude. Ruhe kehrt ein …

… bei 340 Schülern lernen ab der 5. Klasse. Die meisten besuchen das Internat, kommen aus Thüringen und sind nur am Wochenende zu Hause bei ihren Familien. Das Leben in Schnepfenthal ist für sie in erster Linie: Lernen.

Ein paar Mädchen der 10. Klasse machen es sich gerade auf der Wiese bequem. Sonnenschein am frühen Nachmittag mitten auf einem grünen Schulgelände unter hohen Bäumen.

Schülerin: „Ich denke schon, dass es sich gut lernen lässt. Es ist schon besser so, weil man nicht abgelenkt ist und da kann man sich besser aufs Lernen konzentrieren.“

Und das ist nicht so mit links zu machen. Das Pensum ist enorm:

Schülerin: „Englisch ist klar, dann Chinesisch, lerne ich noch Spanisch, Französisch und Latein – da haben wir gerade Prüfung geschrieben.“

Sie hätten ein gutes Gefühl, sagen die Mädchen. Nachmittags steht noch Theater und Literatur auf dem Programm, Sport oder Musik – zwischen den Stunden bleiben ein paar Traum-Minuten auf der Wiese.

Schülerin: „Schnepfenthal ist ja sehr klein. Wenn wir mal eine Freistunde haben, gehen wir vielleicht mal ab und zu in die Stadt, aber ansonsten haben wir auch eigentlich gar nicht die Zeit.“

Acht Sprachen werden an dem Gymnasium unterrichtet. Die 6.Klasse paukt gerade Japanisch.

Mariko Seita steht vor der Klasse. Die junge Japanerin hat den Raum landestypisch dekoriert: Papierkugeln, Bilder, Zeichen und die Flagge. Vor dem Fenster recken sich alte Kastanien.

Seita: „Wir lernen heute Kandi, also Zeichen.“

Mariko ist vorsichtig, taktvoll und –japanisch- zurückhaltend. Die Schülerinnen sind da wesentlich temperamentvoller.

Wibke ist eine von ihnen: Zopf und Zahnspange, die Buntstifte sind auf dem Platz verteilt oder werden gerade mit Schwung zur Freundin nach vorn oder hinten befördert. Mühe geben sich alle, die feingliedrigen Zeichen zu malen und sie sich zu merken.

Frau Seita ist 31 Jahre und kommt aus einem Dorf – sagt sie lächelnd mit Blick auf Schnepfental. Dennoch möchte sie nicht hier wohnen. Es ist …

Seita: „Nicht langweilig, aber bisschen einsam, zum Beispiel wenn man keine Familie hat und alleine aus Ausland kommt. Aber Erfurt – viel los. Dann kann ich diese Einsamkeit vergessen.“

In ihrer Freizeit möchte die Lehrerin aus Japan Deutsch lernen, ausgehen, Kultur genießen … und in Schnepfental die Landschaft genießen.

Auch Arabisch-Lehrer Shahir Nesched sieht Sprache als Schlüssel für Verständnis und Verstehen:

Shahir: „Die Sprache ist nur der Eingang oder das Tor, das sie zu vielen anderen kulturellen Bereichen sich vertraulich machen können. Und die Sprache will dazu, dass sie viel Toleranz und Akzeptanz für andere Kulturen haben.“

Sagt es und verabschiedet sich von den Schülern.

Am nächsten Tag soll es weiter gehen mit den Vokabeln rund um das arabisch-deutsche Wetter – mitten im beschaulichen Weltdorf Schnepfenthal mit seiner ungewöhnlichen Sprachwelt und der thüringischen Dorfwelt.