Wie die Franzosen über die Rente streiten
Die Franzosen sollen künftig erst mit 62 Jahren in Rente gehen, nicht wie bislang mit 60. So will es Staatspräsident Sarkozy. Gewerkschaften und Opposition bereiten sich auf einen heißen Herbst vor.
"Ich erwarte Proteste, ich weiß, dass es Menschen gibt, die leiden, aber wenn man jedes Mal aufgrund von Protesten ein nützliches Gesetz zurückzieht, würde man nichts Sinnvolles mehr für unser Land tun."
Deshalb will Präsident Nicolas Sarkozy die Rentenreform notfalls auch um den Preis sozialer Unruhen durchziehen. Die scheinen unvermeidlich. Ein heißer Herbst kündigt sich an. Francois Chereque, Vorsitzender der Gewerkschaft CFTD:
"Wir haben nicht erwartet, dass der Präsident sagt: Demonstriert erfolgreich am 7. September und dann ändere ich die Rentenreform. Viele andere vor ihm gaben sich hart, mussten am Ende aber doch nachgeben."
Die Zeichen stehen also auf Konfrontation. Sarkozy und die Mitglieder des Kabinetts bestreiten es zwar: Die Anhebung des Rentenalters um zwei auf 62 Jahre, die Verlängerung der Beitragszeiten auf 41 einhalb Jahre für die volle Rente und die Angleichung der Beiträge im öffentlichen Dienst an die der Privatwirtschaft sind jedoch Säulen einer Reform, an der der Erfolg dieser Regierung, der Amtszeit Sarkozys gemessen wird. Politisch steht das Image Sarkozys auf dem Spiel, der die heilige Kuh der vom sozialistischen Präsidenten Mitterand in den 80er-Jahren eingeführten Rente mit 60 auf dem Reformaltar schlachten will.
In der Sache geht es um die Finanzierbarkeit einer Rentenversicherung nach dem Umlageverfahren, bei der immer mehr, immer länger lebende Rentner einer sinkenden Zahl an Erwerbstätigen, sprich Beitragszahlern gegenüberstehen. Präsident Nicolas Sarkozy:
"Zwei entscheidende Fehler sind in den letzten 20 Jahren begangen worden.
Der erste war die Absenkung des Rentenalters von 65 auf 60 Jahre trotz gegenläufiger demografischer Entwicklung und entgegen dem Trend in anderen Ländern. Das mag sozial betrachtet gut sein, ist aber nicht finanzierbar. Der zweite Fehler war, dass dieses Land die Arbeitszeit verkürzt hat, als alle anderen Länder mehr gearbeitet haben. Das hat die Wettbewerbsfähigkeit Frankreichs geschwächt. Und die Ärmsten haben das bezahlt!"
Und die werden, so argumentieren Gewerkschaften und Opposition, auch bei der Rentenreform wieder zur Kasse gebeten. Somit geht es vordergründig um die heilige Kuh des Renteneintrittsalters von 60, im Kern jedoch um die Ausgewogenheit einer Reform, deren Notwendigkeit auch Gewerkschaftsführer und Politiker der linken Opposition im Grunde nicht leugnen können.
Was ist sozial ausgewogen, was ist gerecht? Um diese Frage tobt der eigentliche Streit bei der Rentenreform. Ihr Architekt, der wegen der Parteispendenaffäre in die Schusslinie geratene Arbeitsminister und ehemaligen Schatzmeister der Regierungspartei UMP, Eric Woerth, hält sie verständlicherweise für verantwortungsbewusst und sozial ausgewogen.
"Gerecht zu sein, bedeutet zunächst, die Renten nicht zu senken und die Last nicht nur den jungen, sondern allen Erwerbstätigen aufzubürden. Gerecht zu sein bedeutet, von den Franzosen zu verlangen, dass sie länger arbeiten, aber dies nicht von allen gleichermaßen zu verlangen. Das ist ein wesentlicher Punkt. Und Gerechtigkeit bedeutet auch, von den Wohlhabenderen einen höheren Beitrag zur Rentenfinanzierung zu verlangen."
Denn in der Rentenkasse klafft allein in diesem Jahr ein 32-Milliarden-Euro-Loch. Ohne Reform könnte das Defizit je nach Entwicklung der Wirtschaft binnen zehn Jahren sogar auf 80 Milliarden Euro steigen - auch eine Folge des demografischen Wandels, obwohl die Geburtenrate in Frankreich mit knapp zwei Kindern pro Frau eine der höchsten Europas ist. Während in den 50er-Jahren fünf Beitragszahler einen Rentner finanzierten, sind es im laufenden Jahr dreieinhalb. Ab 2040 müssen zwei Erwerbstätige das Einkommen eines Rentners finanzieren. An der Verlängerung der Lebensarbeitszeit führt deshalb aus Sicht Sarkozys kein Weg vorbei:
"Zwei Jahre mehr Arbeit beschert den Sozialkassen Zusatzeinnahmen von 22 Milliarden Euro."
Glaubt man der Statistik, so liegen die Rentnereinkommen insgesamt betrachtet auf dem gleichen Niveau wie die der Aktiven: bei knapp 22 000 Euro im Jahr. Da sind jedoch Zusatzrenten und Vermögenserträge mit eingerechnet. Die Situation hat sich also enorm verbessert, obwohl auch heutzutage noch viele Rentner in Frankreich Not leiden.
Zur Vermeidung von Altersarmut kann zwar eine sehr kleine Rente auf ein Mindestalterseinkommen, das ‚minimum vieillesse’ aufgestockt werden. Es liegt zurzeit bei knapp 709 Euro pro Monat. Nur jeder 30. unter den 16 Millionen Rentnern in Frankreich beansprucht jedoch diese Leistung. Viele scheuen sich – aus Stolz oder Scham, besonders in der Landwirtschaft. Paul Billonet, Präsident der Organisation ehemaliger Landwirte in der Region Saône et Loire:
"Sie wollen der Gesellschaft nicht zur Last fallen. Für die ehemaligen Landwirte ist das eine Sozialhilfe. Der Staat kann sich diese beim Ableben des Begünstigten zurückholen, wenn das Erbe 39.000 Euro übersteigt. Das ist ein anderer Grund dafür, dass die Landwirte diese Hilfe nicht in Anspruch nehmen."
Wie das Ehepaar Duverneau aus Les Bizots. Gaston fing mit 16 als Landarbeiter an, bewirtschaftete gemeinsam mit seiner Frau Monique später einen kleinen Hof, den er pachtete. Mit 60 ging er in Rente, die herzkranke, um einiges jüngere Monique folgte ein paar Jahre später. Nach 22 Jahren als mitarbeitende Frau eines Landwirts bekommt Monique 180 Euro Rente: Zusammen mit den 735 Euro ihres Mannes und einer kleinen Zusatzrente aus dessen Zeit als Bürgermeister des 500 Seelendorfes verfügt das Ehepaar über 1000 Euro im Monat.
"Da ist kein Platz für irgendwelchen Luxus. Wir können leben, weil wir einen Garten und ein paar Hühner und Kaninchen haben. Allein die Krankenzusatzversicherung verschlingt zwei komplette Monatsrenten. Dann kommen noch die Versicherungen hinzu, die festen Ausgaben – Wasser, Strom, Telefon, die man nicht verringern kann. Da müssen wir aufpassen. Wenn wir morgens aufstehen, haben wir schon jede Menge Ausgaben."
Ein Glück, dass die Duverneaus sparsame, bescheidene Leute sind, die bei Renteneintritt zumindest das kleine Bauernhäuschen kaufen konnten, in dem sie zuvor zur Miete wohnten.
"Das Haus war sehr alt, es gab keine sanitären Anlagen, keine Heizung, keinerlei Komfort. Unsere gesamten Ersparnisse haben wir in das Haus gesteckt und sind jetzt zum Leben ganz auf die Rente angewiesen."
So wie den Duverneaus geht es einer Vielzahl von Pensionären. Die Rente mit 60 war für sie ein Segen.
"Man muss doch an die Gesundheit denken. Mit 60 ist die Frau eines Landwirts doch völlig abgearbeitet. Sie hat viel zu schwere Arbeit verrichtet. Das geht auf die Knie, die Hüfte, den Rücken. Wenn man 60 wird, ist man froh aufzuhören."
"Die Rente mit 60 war damals eine sehr gute Entscheidung, denn es ging darum, Platz für die Jungen zu machen. Damals gab es viele junge Bauern, die sich selbstständig machen wollten, aber kein Land fanden. Alle, die mit 60 in Rente gingen, haben dann Platz für die Jungen gemacht."
Dieses Argument führen die Gewerkschafter auch heute noch gegen die Anhebung des Rentenalters ins Feld: Zum einen hat Frankreich mit einer extrem hohen Jugendarbeitslosigkeit von gut 20 Prozent zu kämpfen, zum anderen gehen nur noch knapp zwei Fünftel der über 55-Jährigen im erwerbsfähigen Alter einer Beschäftigung nach.
"Der Staat spricht überhaupt nicht von der Beschäftigung. Das ist doch der Haupthebel, um bei der Finanzierung der Renten anzusetzen. Man müsste also das Problem von einer anderen Perspektive aus angehen."
...empörte sich der Vorsitzende der CGT Bernard Thibault unlängst bei einer der zahlreichen Kundgebungen, wo die Beschäftigten ihrem Unmut freien Lauf ließen.
"Zum einen sind wir abgearbeitet. Dann gibt es viele Arbeitslose. Es wäre doch besser, dass die arbeiten. Welche Zukunft hat denn die Jugend? Keine – sie müssen bei ihren Eltern bleiben. Und wir sterben auf der Arbeit!"
Mit dem Thema Renten ist es Bernard Thibault und seinen Kollegen der anderen Gewerkschaften gelungen, Ende Juni weit mehr als eine Million Menschen zu mobilisieren. Kein Wunder: Denn das Thema Rente betrifft jeden, vor allem aber die ohnehin von systematischem Stellenabbau betroffenen Beschäftigten des öffentlichen Dienstes. Sie werden künftig für die Rente tiefer in die Tasche greifen müssen: Ihre Beiträge sollen auf das allgemeine Niveau angehoben werden. Bei mittleren Einkommen kann das schon 50 Euro pro Monat ausmachen!
Nicolas Sarkozy zeigte sich freilich auch von den Massenprotesten unbeeindruckt. Statt über Renten zu diskutieren, sprach er am Tag der großen Proteste im Elysée Palast mit Thierry Henry, einem der enttäuschenden Fußballer Frankreichs, was die Demonstranten noch mehr in Rage brachte, als es bekannt wurde. Sarkozy hält jedenfalls an seiner Position fest, ist nur zu marginalen Abstrichen bereit. So sollen Personen, die sehr jung zwischen 16 und 18 zu arbeiten angefangen haben, auch künftig noch mit 60 Rente gehen dürfen, sofern sie genügend Beitragsjahre zusammen haben.
Auch über Penibilité, über besonders beschwerliche Berufe sei man gesprächsbereit. Bisher ist im Reformgesetz vorgeschrieben, dass eine ärztlich bescheinigte Erwerbsunfähigkeit von mindestens 20 Prozent für einen früheren Rentenbezug vorliegen muss. Trotz dieser Neuerung bleibt das Reformwerk für die Opposition Flickschusterei. Jean Marc Ayrault, der Fraktionsvorsitzende der Sozialisten in der Nationalversammlung:
"Die gleiche ungerechte Politik wird fortgesetzt. Sarkozy hat nicht die Wahrheit über die Rentenreform gesagt: 90 Prozent der Last tragen die Beschäftigten und nur 10 Prozent die Kapitaleinkünfte."
Gerade die möchten die Sozialisten viel stärker besteuern. Die Parteivorsitzende Martine Aubry:
"Wir wollen diejenigen heranziehen, die heutzutage nichts zur Rentenfinanzierung beitragen: Das sind vor allem die Bezieher von Kapitalerträgen. Darüber hinaus muss die Rentenreform sozial ausgewogen gestaltet und die Seniorenarbeit gefördert werden. Sonst wird die Rentenreform zu kurzfristiger Flickschusterei."
Das legale Renteneintrittsalter von 60 will die ehemalige Arbeitsministerin und Begründerin der 35-Stunden-Woche freilich nicht antasten, obwohl sich Martine Aubry vor nicht allzu langer Zeit auch schon einmal anders ausgedrückt hatte. Die Arbeitnehmer sollen selbst entscheiden, wann sie in Rente gehen! Die Sozialisten setzen bei ihrem alternativen Reformkonzept aber auch bei den Beiträgen an: Binnen zehn Jahren sollen diese schrittweise um insgesamt ein Prozent angehoben werden.
Ein Vorschlag, der wie der Erhalt der Altersgrenze von 60 Jahren nicht im Interesse der Arbeitgeber liegt. Verbandspräsidentin Laurence Parisot:
"Um das finanzielle Gleichgewicht des Alterssicherungssystems und die Auszahlung der Renten zu sichern, muss die Lebensarbeitszeit verlängert, also das Rentenalter angehoben werden: mindestens auf 62 Jahre, höchstens auf 65! Irgendwo dazwischen muss die für die Gesellschaft akzeptable Größe gefunden werden!"
Die Regierung hat sie gefunden, will der Bevölkerung nur das Minimum aus Sicht der Arbeitgeber zumuten! Viele Betroffene sehen ein, dass sie länger leben und folglich wohl länger arbeiten müssen.
"Auf mindestens 65 sollte das Rentenalter angehoben werden, weil wir Rentner privilegiert sind, aber unsere Kinder und Enkel kommen nicht mehr in diesen Genuss!"
"Wir leben länger, da ist es doch unvermeidbar, dass das Rentenalter angehoben wird."
"Man sollte den Leuten die Freiheit geben, selbst zu entscheiden."
Die Einsicht scheint also vorhanden: Auch mit Blick auf ihre Nachbarn haben die Franzosen längst verstanden, dass ein Rentenalter von 60 unhaltbar ist. Letztendlich bleibt es somit eine Frage der Methode und der sozialen Ausgewogenheit. Präsident Sarkozy und seine Regierung haben beschlossen, die heilige Kuh der Rente mit 60 auf dem Reformaltar zu opfern statt allein auf einer Verlängerung der Beitragszeiten für die volle Rente zu bestehen. Das verdeutlicht: Es geht mehr als nur um eine Jahreszahl: Es geht darum, eine Errungenschaft der Sozialisten zu stürzen und politisch schon für die nächste Präsidentschaftswahl 2012 Pflöcke einzurammen.
Deshalb will Präsident Nicolas Sarkozy die Rentenreform notfalls auch um den Preis sozialer Unruhen durchziehen. Die scheinen unvermeidlich. Ein heißer Herbst kündigt sich an. Francois Chereque, Vorsitzender der Gewerkschaft CFTD:
"Wir haben nicht erwartet, dass der Präsident sagt: Demonstriert erfolgreich am 7. September und dann ändere ich die Rentenreform. Viele andere vor ihm gaben sich hart, mussten am Ende aber doch nachgeben."
Die Zeichen stehen also auf Konfrontation. Sarkozy und die Mitglieder des Kabinetts bestreiten es zwar: Die Anhebung des Rentenalters um zwei auf 62 Jahre, die Verlängerung der Beitragszeiten auf 41 einhalb Jahre für die volle Rente und die Angleichung der Beiträge im öffentlichen Dienst an die der Privatwirtschaft sind jedoch Säulen einer Reform, an der der Erfolg dieser Regierung, der Amtszeit Sarkozys gemessen wird. Politisch steht das Image Sarkozys auf dem Spiel, der die heilige Kuh der vom sozialistischen Präsidenten Mitterand in den 80er-Jahren eingeführten Rente mit 60 auf dem Reformaltar schlachten will.
In der Sache geht es um die Finanzierbarkeit einer Rentenversicherung nach dem Umlageverfahren, bei der immer mehr, immer länger lebende Rentner einer sinkenden Zahl an Erwerbstätigen, sprich Beitragszahlern gegenüberstehen. Präsident Nicolas Sarkozy:
"Zwei entscheidende Fehler sind in den letzten 20 Jahren begangen worden.
Der erste war die Absenkung des Rentenalters von 65 auf 60 Jahre trotz gegenläufiger demografischer Entwicklung und entgegen dem Trend in anderen Ländern. Das mag sozial betrachtet gut sein, ist aber nicht finanzierbar. Der zweite Fehler war, dass dieses Land die Arbeitszeit verkürzt hat, als alle anderen Länder mehr gearbeitet haben. Das hat die Wettbewerbsfähigkeit Frankreichs geschwächt. Und die Ärmsten haben das bezahlt!"
Und die werden, so argumentieren Gewerkschaften und Opposition, auch bei der Rentenreform wieder zur Kasse gebeten. Somit geht es vordergründig um die heilige Kuh des Renteneintrittsalters von 60, im Kern jedoch um die Ausgewogenheit einer Reform, deren Notwendigkeit auch Gewerkschaftsführer und Politiker der linken Opposition im Grunde nicht leugnen können.
Was ist sozial ausgewogen, was ist gerecht? Um diese Frage tobt der eigentliche Streit bei der Rentenreform. Ihr Architekt, der wegen der Parteispendenaffäre in die Schusslinie geratene Arbeitsminister und ehemaligen Schatzmeister der Regierungspartei UMP, Eric Woerth, hält sie verständlicherweise für verantwortungsbewusst und sozial ausgewogen.
"Gerecht zu sein, bedeutet zunächst, die Renten nicht zu senken und die Last nicht nur den jungen, sondern allen Erwerbstätigen aufzubürden. Gerecht zu sein bedeutet, von den Franzosen zu verlangen, dass sie länger arbeiten, aber dies nicht von allen gleichermaßen zu verlangen. Das ist ein wesentlicher Punkt. Und Gerechtigkeit bedeutet auch, von den Wohlhabenderen einen höheren Beitrag zur Rentenfinanzierung zu verlangen."
Denn in der Rentenkasse klafft allein in diesem Jahr ein 32-Milliarden-Euro-Loch. Ohne Reform könnte das Defizit je nach Entwicklung der Wirtschaft binnen zehn Jahren sogar auf 80 Milliarden Euro steigen - auch eine Folge des demografischen Wandels, obwohl die Geburtenrate in Frankreich mit knapp zwei Kindern pro Frau eine der höchsten Europas ist. Während in den 50er-Jahren fünf Beitragszahler einen Rentner finanzierten, sind es im laufenden Jahr dreieinhalb. Ab 2040 müssen zwei Erwerbstätige das Einkommen eines Rentners finanzieren. An der Verlängerung der Lebensarbeitszeit führt deshalb aus Sicht Sarkozys kein Weg vorbei:
"Zwei Jahre mehr Arbeit beschert den Sozialkassen Zusatzeinnahmen von 22 Milliarden Euro."
Glaubt man der Statistik, so liegen die Rentnereinkommen insgesamt betrachtet auf dem gleichen Niveau wie die der Aktiven: bei knapp 22 000 Euro im Jahr. Da sind jedoch Zusatzrenten und Vermögenserträge mit eingerechnet. Die Situation hat sich also enorm verbessert, obwohl auch heutzutage noch viele Rentner in Frankreich Not leiden.
Zur Vermeidung von Altersarmut kann zwar eine sehr kleine Rente auf ein Mindestalterseinkommen, das ‚minimum vieillesse’ aufgestockt werden. Es liegt zurzeit bei knapp 709 Euro pro Monat. Nur jeder 30. unter den 16 Millionen Rentnern in Frankreich beansprucht jedoch diese Leistung. Viele scheuen sich – aus Stolz oder Scham, besonders in der Landwirtschaft. Paul Billonet, Präsident der Organisation ehemaliger Landwirte in der Region Saône et Loire:
"Sie wollen der Gesellschaft nicht zur Last fallen. Für die ehemaligen Landwirte ist das eine Sozialhilfe. Der Staat kann sich diese beim Ableben des Begünstigten zurückholen, wenn das Erbe 39.000 Euro übersteigt. Das ist ein anderer Grund dafür, dass die Landwirte diese Hilfe nicht in Anspruch nehmen."
Wie das Ehepaar Duverneau aus Les Bizots. Gaston fing mit 16 als Landarbeiter an, bewirtschaftete gemeinsam mit seiner Frau Monique später einen kleinen Hof, den er pachtete. Mit 60 ging er in Rente, die herzkranke, um einiges jüngere Monique folgte ein paar Jahre später. Nach 22 Jahren als mitarbeitende Frau eines Landwirts bekommt Monique 180 Euro Rente: Zusammen mit den 735 Euro ihres Mannes und einer kleinen Zusatzrente aus dessen Zeit als Bürgermeister des 500 Seelendorfes verfügt das Ehepaar über 1000 Euro im Monat.
"Da ist kein Platz für irgendwelchen Luxus. Wir können leben, weil wir einen Garten und ein paar Hühner und Kaninchen haben. Allein die Krankenzusatzversicherung verschlingt zwei komplette Monatsrenten. Dann kommen noch die Versicherungen hinzu, die festen Ausgaben – Wasser, Strom, Telefon, die man nicht verringern kann. Da müssen wir aufpassen. Wenn wir morgens aufstehen, haben wir schon jede Menge Ausgaben."
Ein Glück, dass die Duverneaus sparsame, bescheidene Leute sind, die bei Renteneintritt zumindest das kleine Bauernhäuschen kaufen konnten, in dem sie zuvor zur Miete wohnten.
"Das Haus war sehr alt, es gab keine sanitären Anlagen, keine Heizung, keinerlei Komfort. Unsere gesamten Ersparnisse haben wir in das Haus gesteckt und sind jetzt zum Leben ganz auf die Rente angewiesen."
So wie den Duverneaus geht es einer Vielzahl von Pensionären. Die Rente mit 60 war für sie ein Segen.
"Man muss doch an die Gesundheit denken. Mit 60 ist die Frau eines Landwirts doch völlig abgearbeitet. Sie hat viel zu schwere Arbeit verrichtet. Das geht auf die Knie, die Hüfte, den Rücken. Wenn man 60 wird, ist man froh aufzuhören."
"Die Rente mit 60 war damals eine sehr gute Entscheidung, denn es ging darum, Platz für die Jungen zu machen. Damals gab es viele junge Bauern, die sich selbstständig machen wollten, aber kein Land fanden. Alle, die mit 60 in Rente gingen, haben dann Platz für die Jungen gemacht."
Dieses Argument führen die Gewerkschafter auch heute noch gegen die Anhebung des Rentenalters ins Feld: Zum einen hat Frankreich mit einer extrem hohen Jugendarbeitslosigkeit von gut 20 Prozent zu kämpfen, zum anderen gehen nur noch knapp zwei Fünftel der über 55-Jährigen im erwerbsfähigen Alter einer Beschäftigung nach.
"Der Staat spricht überhaupt nicht von der Beschäftigung. Das ist doch der Haupthebel, um bei der Finanzierung der Renten anzusetzen. Man müsste also das Problem von einer anderen Perspektive aus angehen."
...empörte sich der Vorsitzende der CGT Bernard Thibault unlängst bei einer der zahlreichen Kundgebungen, wo die Beschäftigten ihrem Unmut freien Lauf ließen.
"Zum einen sind wir abgearbeitet. Dann gibt es viele Arbeitslose. Es wäre doch besser, dass die arbeiten. Welche Zukunft hat denn die Jugend? Keine – sie müssen bei ihren Eltern bleiben. Und wir sterben auf der Arbeit!"
Mit dem Thema Renten ist es Bernard Thibault und seinen Kollegen der anderen Gewerkschaften gelungen, Ende Juni weit mehr als eine Million Menschen zu mobilisieren. Kein Wunder: Denn das Thema Rente betrifft jeden, vor allem aber die ohnehin von systematischem Stellenabbau betroffenen Beschäftigten des öffentlichen Dienstes. Sie werden künftig für die Rente tiefer in die Tasche greifen müssen: Ihre Beiträge sollen auf das allgemeine Niveau angehoben werden. Bei mittleren Einkommen kann das schon 50 Euro pro Monat ausmachen!
Nicolas Sarkozy zeigte sich freilich auch von den Massenprotesten unbeeindruckt. Statt über Renten zu diskutieren, sprach er am Tag der großen Proteste im Elysée Palast mit Thierry Henry, einem der enttäuschenden Fußballer Frankreichs, was die Demonstranten noch mehr in Rage brachte, als es bekannt wurde. Sarkozy hält jedenfalls an seiner Position fest, ist nur zu marginalen Abstrichen bereit. So sollen Personen, die sehr jung zwischen 16 und 18 zu arbeiten angefangen haben, auch künftig noch mit 60 Rente gehen dürfen, sofern sie genügend Beitragsjahre zusammen haben.
Auch über Penibilité, über besonders beschwerliche Berufe sei man gesprächsbereit. Bisher ist im Reformgesetz vorgeschrieben, dass eine ärztlich bescheinigte Erwerbsunfähigkeit von mindestens 20 Prozent für einen früheren Rentenbezug vorliegen muss. Trotz dieser Neuerung bleibt das Reformwerk für die Opposition Flickschusterei. Jean Marc Ayrault, der Fraktionsvorsitzende der Sozialisten in der Nationalversammlung:
"Die gleiche ungerechte Politik wird fortgesetzt. Sarkozy hat nicht die Wahrheit über die Rentenreform gesagt: 90 Prozent der Last tragen die Beschäftigten und nur 10 Prozent die Kapitaleinkünfte."
Gerade die möchten die Sozialisten viel stärker besteuern. Die Parteivorsitzende Martine Aubry:
"Wir wollen diejenigen heranziehen, die heutzutage nichts zur Rentenfinanzierung beitragen: Das sind vor allem die Bezieher von Kapitalerträgen. Darüber hinaus muss die Rentenreform sozial ausgewogen gestaltet und die Seniorenarbeit gefördert werden. Sonst wird die Rentenreform zu kurzfristiger Flickschusterei."
Das legale Renteneintrittsalter von 60 will die ehemalige Arbeitsministerin und Begründerin der 35-Stunden-Woche freilich nicht antasten, obwohl sich Martine Aubry vor nicht allzu langer Zeit auch schon einmal anders ausgedrückt hatte. Die Arbeitnehmer sollen selbst entscheiden, wann sie in Rente gehen! Die Sozialisten setzen bei ihrem alternativen Reformkonzept aber auch bei den Beiträgen an: Binnen zehn Jahren sollen diese schrittweise um insgesamt ein Prozent angehoben werden.
Ein Vorschlag, der wie der Erhalt der Altersgrenze von 60 Jahren nicht im Interesse der Arbeitgeber liegt. Verbandspräsidentin Laurence Parisot:
"Um das finanzielle Gleichgewicht des Alterssicherungssystems und die Auszahlung der Renten zu sichern, muss die Lebensarbeitszeit verlängert, also das Rentenalter angehoben werden: mindestens auf 62 Jahre, höchstens auf 65! Irgendwo dazwischen muss die für die Gesellschaft akzeptable Größe gefunden werden!"
Die Regierung hat sie gefunden, will der Bevölkerung nur das Minimum aus Sicht der Arbeitgeber zumuten! Viele Betroffene sehen ein, dass sie länger leben und folglich wohl länger arbeiten müssen.
"Auf mindestens 65 sollte das Rentenalter angehoben werden, weil wir Rentner privilegiert sind, aber unsere Kinder und Enkel kommen nicht mehr in diesen Genuss!"
"Wir leben länger, da ist es doch unvermeidbar, dass das Rentenalter angehoben wird."
"Man sollte den Leuten die Freiheit geben, selbst zu entscheiden."
Die Einsicht scheint also vorhanden: Auch mit Blick auf ihre Nachbarn haben die Franzosen längst verstanden, dass ein Rentenalter von 60 unhaltbar ist. Letztendlich bleibt es somit eine Frage der Methode und der sozialen Ausgewogenheit. Präsident Sarkozy und seine Regierung haben beschlossen, die heilige Kuh der Rente mit 60 auf dem Reformaltar zu opfern statt allein auf einer Verlängerung der Beitragszeiten für die volle Rente zu bestehen. Das verdeutlicht: Es geht mehr als nur um eine Jahreszahl: Es geht darum, eine Errungenschaft der Sozialisten zu stürzen und politisch schon für die nächste Präsidentschaftswahl 2012 Pflöcke einzurammen.